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19.

»Kann ich Sie nicht in die Kate begleiten?« fragte Helwig.

»Warum das?«

Der kurze Ton trieb sie nur noch mehr an.

»Ich möchte den armen Menschen sehen, gegen den ich so herzlos war,« sagte Helwig mit einem Lächeln, das geeignet war, seine Strenge zu entwaffnen.

Obgleich Ols es nicht sagte, fühlte sie doch, daß er mißbilligend über sie dachte. Sie hatte es gleich an dem Morgen gemerkt, als sie ihm die verspätete Krankenbotschaft bestellte. Mit keinem Wort hatte er geantwortet auf ihre Erklärungen und gefragt, warum sie es nicht früher getan hätte. Auch während der kurzen Zeit, die er gestern im Hause gewesen war, hatte er geschwiegen. Beim Mittagessen in der Küche hatte sie auf ihrem gewöhnlichen Platz neben ihm gesessen, aber er hatte nur dann mit ihr gesprochen, wenn er ihre Fragen beantwortete, und dann nur so kurz wie möglich. Schweigen kann beredter sein als Worte, und es gibt mancherlei Art, zu schweigen. Es kann Schweigen zwischen Freunden herrschen, die einander so gut verstehen, daß Worte unnötig sind, aber so war es hier nicht. Es war auch nicht das Schweigen schlechter Laune, oder das drückende Schweigen vor einem Zornesausbruch. Eher war es das Schweigen, das nicht dadurch verwunden will, daß man die Wahrheit sagt. Es trug auch das Gepräge der Stille, in der man allein mit seinem Gott kämpft.

Helwig litt unter seinem Verhalten ihr gegenüber und sehnte sich danach, es zu ändern. Das wollte sie ihm aber nicht zeigen, darum äußerte sie ihren Wunsch, mit ihm in die Kate zu gehen, mit leuchtenden Augen und in leichtem Ton. Sie wußte nicht, daß er die Nacht über dort geblieben war; aber sie hörte ihn beim Mittagessen zu seiner Mutter sagen, daß er binnen kurzem wieder hingehen und allerlei mitnehmen wolle, und daß sie ihm seinen Rucksack packen solle.

Helwig hatte, außer der Aussicht eines langen Spaziergangs mit ihm allein, einen besonderen Grund, warum sie gern in die Kate wollte. Aber den sagte sie ihm nicht.

Im ersten Augenblick wollte er ihren Wunsch abschlagen, und hätte er ihre geheime Absicht bei dem bevorstehenden Besuch geahnt, dann hätte er es getan. Da er aber von ihren Hintergedanken nichts wußte und außerdem dachte, es würde vielleicht gut tun, den Kranken zu sehen, von dem sie in dem verletzend leichten Ton gesprochen hatte, so willfahrte er ihrem Wunsch. Er wunderte sich selbst darüber und setzte auch sie in Verwunderung, da er ja im ersten Augenblick deutlich seine Abneigung gegen ihre Bitte gezeigt hatte.

Sie gingen also zusammen zur Kate, er mit dem Rucksack auf dem Rücken. Helwig sagte, er sähe auf wie Christ in der »Pilgerreise«, ehe er die Last aus seinem Rücken los wurde. Sie sah sehr wohl ein, daß der Scherz nicht passend war, und daß er ihn wahrscheinlich nicht gut aufnehmen würde; aber sie sagte es trotzdem. Und sie plauderte unterwegs viel mehr und ganz anders, als sie eigentlich wollte, denn sie befand sich in einer unruhigen und geschraubten Stimmung. Ols Erik sprach von selbst kein Wort. Wenn es erforderlich war, beantwortete er ihr Geplauder, schwieg aber sonst. Mit einer Art Galgenhumor dachte Helwig, daß er sie für eine furchtbar oberflächliche Schwätzerin halten müßte. Das brachte sie aber nicht etwa zum Schweigen!

Es war herrlich im Wald. Die Septembersonne schien matt durch den dünnen Nebel. Bald kam der Oktober, aber gerade jetzt standen die Herbstfarben in ihrer größten Pracht.

»Sie müssen mich für eine fürchterliche Schwatzbase halten!« sagte Helwig.

Er sah sie verständnislos an.

»Ich denke nicht so sehr darüber nach, was Sie sagen,« antwortete er.

Und das war wahr, denn er hörte am meisten auf ihre melodische Stimme und empfand das Berückende ihres lebhaften Wesens. Sie war so ganz anders als alle, die er bisher gekannt hatte. Dieser Verkehr mit all seinem ihm fremden Glanz und seiner Feinheit drängte sich ihm auf und umfaßte ihn mit der ganzen Kraft jenes Reizes, den etwas Neues auf den Menschen ausüben kann.

Endlich erreichten sie die Kate und traten ein.

Helwig warf gleich einen scheuen Blick auf das Bett, in dem der Kranke lag, und fühlte eine Herzbeklemmung, als sie gewahr wurde, wie sterbenskrank er aussah.

Die alte Mutter lag auf dem Bett in ihrer Ecke, die junge Frau war damit beschäftigt, Feuer auf dem Herd zu machen, das älteste Kind kroch auf dem Fußboden herum, und das kleinste lag, im Begriff aufzuwachen, nörgelnd in der Wiege und bereitete sich schon im Schlaf darauf vor, die Umgebung beim Erwachen durch Geschrei zu erbauen.

Helwig fiel auf, wie aller Augen beim Eintritt des Pastors aufleuchteten. Auch er wurde hier drinnen ein anderer, als er auf dem ganzen Herweg gewesen war. Sie hätte nicht sagen können, worin die Veränderung eigentlich bestand. Es war, als hätte er sie aus seinem Herzen verbannt, um sich ganz diesen Menschen zu widmen.

Doch vergaß er sie weder, noch vernachlässigte er sie. Er stellte sie und die Katenbewohner einander vor und wies sie nach der Sofaecke, indem er sagte, daß sie nach der langen Waldwanderung müde sein müsse.

Dann streifte er den Rucksack ab und packte den Inhalt aus, unter anderem Kaffee, Zucker und Gebäck, genug für alle, und bat Eline, die Kaffeekanne aufzusetzen.

»Wir sind hungrig, und ich hoffe, daß auch Ihr dem Rucksack Ehre antun könnt, wenn Ihr Euch anstrengt,« sagte er.

Die junge Frau lächelte. Was die Gesunden hier betraf, bedurfte es wohl nicht so großer Anstrengung. Die Eßlust fehlte ihnen weniger als das Essen.

Helwigs lebhafte Zunge war verstummt, seit sie die Hütte betreten hatte; aber ihr Gebaren war darum nicht ruhiger geworden. Anstatt sich in die angebotene Sofaecke zu setzen, versuchte sie, Bekanntschaft mit der Kleinen auf der Diele zu schließen; aber alle Liebesmühe war vergeblich. Die Kleine fing an zu schreien, und ihre Mutter mußte alles, was sie in Händen hatte, stehen und liegen lassen, um sie von der Diele aufzunehmen und zu beruhigen.

Helwig kam sich bei ihrem Mißerfolg lächerlich vor, aber sie verbarg ihr Unbehagen und lächelte.

»Die arme Kleine, ich erschreckte sie.«

»Sie ist etwas scheu vor Fremden,« entschuldigte sie die Mutter; »aber das gibt sich bald.«

Vom Geschrei der Schwester erwachte das Kleine in der Wiege zu vollem Bewußtsein und stimmte mit ein. Für eine Krankenstube war das gerade nicht viel Ruhe! Aber Jonas auf seinem Sterbebett schien gar nicht davon berührt zu werden. Er hielt seinen Blick auf den Pastor geheftet, und die beiden sprachen miteinander, ohne sich von der Umgebung stören zu lassen.

Helwig ging in die Ecke zu der Alten und setzte sich an ihr Bett, in der Absicht, das vorzubringen, was sie hierhergeführt hatte. Die Großmutter war zufrieden und fühlte sich durch die Aufmerksamkeit des feinen, schönen, jungen Fräuleins geschmeichelt, und Helwig gewann ihr Selbstbewußtsein wieder, das ihr die Kleine geraubt hatte. Die hatte sich bald von ihrem Schrecken erholt und stand jetzt vorsichtshalber fest an die Mutter gedrückt, und betrachtete Helwig unverwandt. Die junge Frau saß auf einem niedrigen Schemel und versorgte das Kleinste. Das hatte aufgehört zu schreien, sobald sein Verlangen gestillt war. Der Friede im Hause war wiederhergestellt.

»Ist er lange krank gewesen?« fragte Helwig mit einem Blick auf Jonas.

Als sie hörte, wie lange, fragte sie, warum sie nicht nach dem Doktor geschickt hätten.

Es war ihnen gar nicht eingefallen, den Doktor zu holen, sie hatten doch ihren Ols.

»Aber warum schickten Sie denn nicht früher nach ihm?«

»Wir wollten ihn nicht bemühen, ehe es nötig war.«

»Und als Sie endlich nach ihm schickten, mußten Sie lange warten, ehe er kam,« sägte Helwig teilnehmend.

Ihr Herz klopfte, denn nun war der entscheidende Augenblick da.

»Er kam, sobald er konnte,« antwortete die alte Frau.

»Hat er Ihnen nicht gesagt, wessen Schuld es war, daß er so lange zögerte?«

»Nein, das hat er nicht. War jemand schuld daran?«

»Ja, ich. Ich nahm die Botschaft schon am Vormittag an, konnte sie aber erst am nächsten Vormittag ausrichten.«

»Du vergaßt es?« fragte die Alte.

»Ja, zuerst; und als es mir dann einfiel, war es zu spät, und da wartete ich bis zum nächsten Morgen, denn ich fand es unrecht, daß er den Weg in der Nacht machen sollte. Das hätte er gewiß getan, wenn er die Botschaft bekommen hätte. Er hat mir noch nicht verziehen, daß ich so lange damit schwieg, und ich finde jetzt auch selbst, daß ich unrecht getan habe.«

Die Großmutter wußte nicht, was sie auf das Geständnis antworten sollte, und die junge Frau, die auf ihrem Schemel alles hörte, wußte es auch nicht. Beide hätten dem Fräulein ein gutes Wort sagen mögen, aber es fiel ihnen nichts ein. Ehe das geschah, sprach Helwig wieder.

»Sehen Sie, ich wollte Sie nicht in dem Glauben lassen, es wäre des Pastors eigene Schuld, daß er nicht eher kam.«

Jetzt erhellten sich ihre Gesichter, und jetzt fanden sie Worte. Keinen Augenblick hätten sie so etwas gedacht, dazu kannten sie ihren Pastor zu gut.

Nun wurde es Helwig leicht, sie dazu zu bringen, von ihm zu sprechen. Die junge Frau stand aber bald auf und begann eine andere Arbeit, nachdem sie den Säugling in die Wiege gelegt hatte. Das ältere Kind hatte seine Schüchternheit überwunden und wagte sogar, auf dem Schoß der Fremden zu sitzen. Durch die alte Frau hörte Helwig von den glücklichen Kuren, die Ols ausgeführt hatte, von der wunderbaren Kraft seiner Hände und von seiner Macht über Krankheiten. Selten hatte sie mit so lebhaftem Interesse auf irgend etwas gehört, wie auf die Erzählungen der Greisin.

Eline hatte den Kaffee jetzt fertig und rief das Fräulein und den Pastor zu Tisch.

Als Helwig ihre Tasse bekommen hatte, sah sie erst den Kranken und dann Ols Erik zögernd an.

»Darf er Kaffee trinken?« fragte sie.

»Wenn er mag.«

Da nahm Helwig ihre Tasse und ging zu Jonas und fragte ihn, ob er etwas Kaffee haben möchte, dann wolle sie ihm helfen. Mit freundlich ermunternder Stimme, die nicht ohne Wirkung auf Jonas blieb, sagte sie, daß sie gewohnt sei, Kranken beim Essen zu helfen, da ihre eigene Mutter zu Hause krank läge.

Ob er nun wirklich den Kaffee haben oder nur entgegenkommend sein wollte, einige Schlucke nahm er wenigstens.

Die junge Frau trat hinzu und erhob Einspruch, daß Helwig sich Mühe mit Jonas machte, anstatt selbst zu trinken, solange der Kaffee heiß war. Aber Helwig schickte sie fort, damit sie der Großmutter hülfe. Sie selbst widmete sich Jonas.

Als sie dann wieder an den Tisch zurückkam, hatte Ols fertig getrunken, stand auf und ging zu der alten Frau, um mit ihr zu plaudern. Nicht im geringsten zeigte er, daß er Helwigs Freundlichkeit gegen den Kranken gemerkt hatte. Seine Gleichgültigkeit war eine Enttäuschung für Helwig, gerade als hätte sie es mit ihrem Tun mehr auf ihn, als auf den Kranken abgesehen.


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