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15.

Helwig freute sich bei dem Gedanken, im oberen Stockwerk sitzen und malen zu können, denn auch dort konnte sie hören, wenn die Mutter klingelte. Und wenn sie einmal hinunterging, brauchte sie nichts wegzuräumen, denn niemand kam hier herauf.

Aber eines Tages, als sie nach einem ganz kurzen Aufenthalt bei ihrer Mutter nach oben zurückkehrte, fand sie ihre Malerei mit groben Pinselstrichen und großen Farbenklecksen beschmiert. Mehrere der Farbentuben waren ganz oder teilweise leergedrückt.

Wer konnte das getan haben? Konnte es jemand anders als Mons gewesen sein? Aufs höchste über die Verwüstung aufgebracht, ging Helwig gleich auf die Suche nach Mons.

Sie fand ihn im Hof bei der Pumpe damit beschäftigt, sich zu waschen. Farbenkleckse im Gesicht, auf den Händen und dem Anzug bewiesen seine Schuld aufs deutlichste.

»Ungezogener Junge! Wie wagtest du es, meine Malerei anzurühren?« Mons antwortete nicht, sondern fuhr nur fort, mit der einen Hand Wasser zu pumpen, während er die andere so unter den Wasserstrahl hielt, daß er sich geradeswegs auf Helwig richtete. Er war schlau genug, dabei so harmlos auszusehen, als geschähe es nicht mit Willen.

Helwig, die sich in der Absicht, ihn handgreiflich zurechtzuweisen, genähert hatte, sprang nun vor dem Wasserstrahl beiseite. Daß das ihren Zorn nicht dämpfte, versteht sich von selbst.

»Niederträchtiger Bengel! Dafür gibt es etwas!«

Mutter Ols, die die Pumpe vom Küchenfenster sehen konnte und Helwigs Stimme gehört hatte, trat nun hinzu.

»Er hat meine Malerei und meine Farben verdorben, und nun spritzt er mich auch noch! Er verdient Prügel!« erklärte Helwig.

»Wie kannst du dich so schlecht aufführen!« rief Mutter Ols streng aus und griff in des Knaben rote Perücke, um ihn an den Haaren zu ziehen.

Aber er umfaßte ihren Arm mit seinen kleinen klauenartigen Händen und wehrte sich durch Kratzen und Kneifen. Seine Augen funkelten vor Schreck und Wut.

Mutter Ols ließ sein Haar los, um statt dessen seine Arme zu fassen und sich vor seinem Kratzen zu schützen. Sie überwältigte ihn leicht, denn er war doch nur klein, obgleich er für sein Alter stark war. Selbst ihre gewöhnlich so ruhigen, etwas schwermütigen Augen blitzten. Sie war sehr zornig und schüttelte ihn unsanft.

»Nun bittest du das Fräulein um Verzeihung.«

»Ich habe nichts getan.«

Helwig faßte seine Jacke mit festem Griff und zeigte auf die Farbenkleckse darin.

»Wo hast du die denn her?«

Des Jungen einzige Antwort war, daß er versuchte, sie mit den Füßen zu treten; das glückte ihm aber nicht, weil Mutter Ols ihn rechtzeitig beiseite riß.

»Komm mit mir, du!« sagte sie drohend und schleppte ihn in einen dunklen Verschlag, wo sie ihn einsperrte.

Ohne auf sein Geschrei und Gepolter zu achten, kehrte sie zu Helwig zurück.

»Ich bin ratlos wegen des Burschen,« klagte sie.

»Er müßte fort von hier,« sagte Helwig mit dem Ton einer Gekränkten.

»Hat er viel verdorben?«

»Kommt und seht selbst.«

Mutter Ols sah es und seufzte.

»Was wird Erik dazu sagen, und wie wird er den Jungen dazu bringen, zu gestehen?«

»Es ist wohl nicht nötig, daß er gesteht. Es ist ja mit Händen zu greifen, daß er es getan hat. Prügel sollte er ohne weiteres haben, und das so, daß er drei Tage nicht sitzen könnte!«

Helwig war sehr aufgebracht, und Mutter Ols wurde immer kummervoller.

»Gewiß sollte er etwas mit der Rute haben,« sagte sie.

Es schien aber, als glaubte sie nicht recht daran. –

Als Ols ein paar Stunden später nach Hause kam, wurde ihm die Sache mitgeteilt. Er hörte schweigend zu, und als er erfuhr, daß Mons noch eingesperrt war, ging er zu dem Verschlage.

Es war jetzt schon lange still darin. Als er die Tür öffnete, purzelte Mons heraus, so fest hatte er darangedrückt gesessen. Er fiel dem Pflegevater auf die Füße. Mit wildem Schrecken, im Trotz der Verzweiflung, blickte er zu Ols auf. Wirst auch du mich jetzt schlagen? Alle schlagen mich, aber ich werde jeden mit den Füßen treten und hauen! So sprach der Blick. Die Lippen schwiegen.

Ein herzliches Erbarmen erfüllte Ols. Er beugte sich hinab.

»Sei nicht bange vor mir!« sagte er sanft und hob den Knaben auf.

Die Ruhe, die ihn immer am meisten kennzeichnete, gerade wenn sich seine innere Kraft auf Kampf bis zum Sieg vorbereitete, gab nun sowohl seiner Stimme wie seiner Bewegung ihr Gepräge und gewann Macht über den gequälten, wilden, kleinen Knaben, der zuerst vor Zorn und dann vor Angst im dunklen Winkel halb von Sinnen gekommen war. Mons verbarg das Gesicht in des Pflegevaters grober Jacke und ließ sich ohne Widerstand forttragen.

Ols ging in seine Stube und setzte sich, immer noch mit dem Knaben im Arm, an den Schreibtisch. Ab und zu streichelte er mit der mächtigen, beruhigenden Hand den kleinen Kopf, der an seiner Brust ruhte. Es war ihm nicht möglich, böse auf das Kind zu werden, obgleich er wußte, daß das von ihm verlangt wurde; Helwig und seine Mutter hielten es für unbedingt nötig, und der Knabe selbst erwartete es auch. Das Mitleid, das sich seiner bemächtigte, als das kleine, verzweifelte Jungenbündel ihm aus dem Winkel vor die Füße rollte, beherrschte ihn. Er war innerlich erregt, aber nicht über die Vergehen des Knaben, sondern über die Behandlung, der er ausgesetzt gewesen war. Einem Kind, das ein Opfer böser Einflüsse ist, mit Bösem zu begegnen, und es im Dunkeln einzusperren, obgleich es Angst vorm Dunkeln hat, das schien ihm ein größeres Unrecht zu sein als das, welches Mons begangen hatte.

Ols sah nach, ob der Knabe schliefe. Nein, die Augen waren offen und begegneten den seinigen. Der wilde Schreck war daraus gewichen und der Trotz ebenfalls, aber daß dergleichen Gefühle bei der geringsten Veranlassung wieder geweckt werden könnten, lag deutlich genug in der unsicheren, argwöhnischen Verwunderung, die aus den Augen hervorsah.

»Warum willst du nicht eingestehen, daß du die Malerei verdorben hast?«

Mons blickte bekümmert weg.

»Du tatst es doch?«

»Ja,« kam es schwach heraus.

»Warum leugnetest du es denn?«

»Die waren so wütend.«

»Mußtest du darum lügen?«

Mons schwieg.

»Warum verdarbst du das Bild?«

»Ich wollte nur versuchen zu malen.«

»Du wußtest doch, daß du das nicht durftest!«

»Niemand hatte es mir verboten.«

»Du wußtest aber gut, daß du das nicht durftest, was du tatst. Sag' mal, du hättest es doch nie getan, wenn dich jemand gesehen hätte?«

Das mußte Mons, wenn auch stockend, zugeben.

»Es war auch sehr häßlich von dir, das Wasser auf Fräulein Helwig zu richten.«

»Das tat ich nicht mit Willen.«

»Ist das gewiß? Flunkerst du mir jetzt nichts vor, Mons?«

»Ich wollte es eigentlich nicht,« murmelte der Knabe.

»Du wolltest es, Mons.«

Bei dem Ton war es nicht möglich, sich herauszuwinden. Statt dessen nahm Mons seine Zuflucht zu einer Entschuldigung.

»Sie wollte mich schlagen,« erklärte er.

Das Wasser war seine Verteidigungswaffe gewesen. Es war ja so verführerisch nahe zur Hand. Ols begriff das so gut, daß es ihm schwer wurde, deshalb streng zu sein. Er ging daher zum nächsten Vergehen über.

»Wie konntest du Mutter kratzen und treten wollen, die doch immer nur gut gegen dich ist?«

»Sie zog mich an den Haaren.«

»Daran tat sie ganz recht, da du ungezogen warst.«

Mons schwieg, aber nicht aus Tücke.

»Willst du Mutter und Fräulein Helwig um Verzeihung bitten, da du ungezogen gegen sie warst?«

Mons wand sich und schwieg.

»Du tust es doch, wenn ich dich darum bitte?«

Aber Mons drückte sich an den Pflegevater und bohrte sein kleines Gesicht in dessen Arme.

Ols streichelte des Knaben Kopf leise. Seine geraden Augenbrauen zogen sich so zusammen, daß eine tiefe Falte dazwischen entstand. Was er sich jetzt gezwungen sah zu sagen, war ein Wagnis, das ihn beunruhigte und quälte.

»Mons, wenn du sie nicht um Verzeihung bittest, muß ich dich strafen.«

Der Junge fuhr zusammen.

»Gott weiß, ich möchte es nicht, aber du zwingst mich dazu, wenn du das Schlechte, das du getan hast, nicht wieder gutmachen willst. Du kannst es, wenn du sie um Verzeihung bittest.«

In der festen Stimme lag eine Aufforderung, die Mons gleichsam an der Hand faßte und ihn dahin führte, wohin er nicht wollte.

»Ich trau mich nicht.«

»Das ist nichts Gefährliches. Niemand wird dir etwas Schlimmes tun. Wenn du willst, will ich mit dir zu ihnen gehen.«

Mons drückte sich fester an den Pflegevater.

»Noch nicht!« bat er.

Ols sah ein, daß er einen nicht unbedeutenden Sieg über das Böse in dem armen Kind errungen hatte, und er fühlte seine Macht. Er erkannte aber auch, daß gewisse Kräfte der Umgebung geeignet waren, seinem Einfluß entgegenzuarbeiten. Die gefährlichste war Helwigs Widerwille gegen Mons. Der Junge fühlte und erwiderte ihn, und das war ihm zum Schaden. Und heute hatte die Mutter auch einen Eindruck davon bekommen und in Übereinstimmung damit gehandelt. Ols wußte, daß seine Mutter sich um seinetwillen des Kindes angenommen hatte und sich noch immer mit gewohnter Pflichttreue der täglichen Aufgabe entledigte. Wenn sie sich aber jetzt von Helwigs Widerwillen anstecken ließe, dann würde es ihr schwer werden, ihre Aufgabe zu erfüllen, und die Kraft, die seinem Einfluß auf den Knaben entgegenwirkte, würde gefährlich gestärkt. Hinsichtlich Helwigs konnte er nicht viel tun, aber seine Mutter konnte und mußte er wieder ganz auf seine Seite ziehen.

Absichtlich saß er lange mit Mons auf dem Schoß und streichelte dessen Kopf, damit er fest schliefe; denn bevor der reuige kleine Sünder erwachte, wollte er mit seiner Mutter sprechen. Vorsichtig legte er nun den schlafenden Knaben auf das Sofa und ging, seine Mutter aufzusuchen.

In dem Stübchen neben der Küche fand er sie, wo sie allein saß und Strümpfe stopfte.

Er setzte sich auf den Bettrand, stützte die Ellbogen auf die Knie und hielt die Fingerspitzen aneinander. Sie begriff, daß er käme, um über Mons zu sprechen; aber sie fragte nicht, wenn sie auch gespannt war.

»Mons hat gestanden.«

»Wie brachtest du ihn dazu?«

Er sah seine Hände an, als wollte er sehen, wie die Fingerspitzen aneinander paßten.

»Es ist schade um den Jungen,« sagte er, und ließ die Frage der Mutter unbeantwortet.

»Ja, weil er so ungezogen ist,« stimmte sie mit einer gewissen Schärfe zu.

»Du findest, daß ich zu schwach gegen ihn bin, Mutter?«

»Ich muß es finden.«

»›So ein Mensch etwa von einem Fehl übereilet würde, so helft ihm wieder zurecht mit sanftmütigem Geist‹, sagt der Apostel. Das gilt wohl auch von einem, der mit mehr Erbsünde behaftet ist als wir anderen.«

Die Schärfe verlor sich aus den Zügen der Mutter. Wenn der Sohn ein Wort Gottes mit in die Unterhaltung zog und damit den strittigen Punkt beleuchtete, dann merkte sie, daß er als Pastor zu ihr redete. Vor dem Amt hatte sie große Ehrfurcht und demütigte sich. Sie beugte den Kopf über ihre Stopfarbeit und schwieg.

»So einer hat doch ein Recht auf unsere Sanftmut bei der Zurechtweisung. Oder was meinst du, Mutter?«

Sie ließ die Arbeit in ihren Schoß sinken und faltete die Hände darüber. Dann dachte sie an die Heftigkeit, mit der sie Mons gestraft hatte. Aber davon wußte ihr Sohn doch nichts, also konnte er sie deshalb nicht tadeln. Vielleicht war das auch gar nicht seine Meinung. Er sagte »wir« und »unser«. Das deutete darauf, daß er das Gotteswort ebensowohl auf sich bezog wie auf sie. Aber sie wußte wohl, daß er dem reiner gegenüberstand als sie.

»Da du es willst, tue ich mein Bestes für den Jungen; aber es ist schwer, immer Geduld mit ihm zu haben. Und ich habe auch nicht die Liebe zu ihm, die du hast. Woher hast du die? Ich habe mich mehr als einmal darüber gewundert.«

»Ich glaube, Gott hat die Liebe für den Knaben in mein Herz gelegt, die Liebe, die er eigentlich bei seiner Mutter finden sollte, die sie in ihrem Jammer nicht aufbringen konnte.«

Mutter Ols wurde immer weicher, und ihre Ehrfurcht vor dem Pastor in ihrem Sohn nahm zu.

»Wenn ich des Kindes Vormund wäre und ein Vermögen für ihn zu verwalten hätte, so wäre ich unredlich, wenn ich ihm etwas von der Liebe, die Gott nur zu ihm ins Herz gelegt hat, vorenthielte. Also, liebe Mutter, sieh es nicht als Schwachheit an, wenn ich den Jungen mit Liebe behandle, selbst wenn er unartig ist, ja, dann am allerwenigsten!«

Mutter Ols war gerührt, es schimmerte sogar eine Träne in ihren Augen.

»Nimm von dem Liebesschatz, den du in deinem Herzen für mich hegst, Mutter, und gib Mons etwas davon! Er braucht es.«

Wie hätte sie einer solchen Aufforderung widerstehen können!

»Ich will es tun,« sagte sie. »Und deshalb bekommst du nicht weniger davon.«

Ols war zufrieden. Er sah, daß er seine Mutter mehr als je auf seiner Seite hatte.


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