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23.

Am folgenden Tage fand Helwig keine Gelegenheit, irgend etwas von der Unterhaltung zu verwirklichen, die sie in den wachen Träumen der Nacht mit dem Hausherrn gehabt hatte. Sie begegnete ihm nicht. Er war den größten Teil des Tages fort, und wenn er zu Hause war, war er in Anspruch genommen. Er kam nicht in das Zimmer der Baronin und erschien auch nicht zu den Mahlzeiten in der Küche.

Selbst wenn sie ihn allein im Arbeitszimmer wußte, wagte Helwig nicht, hineinzugehen, denn sie fürchtete einen unangenehmen Empfang. Sie ahnte, daß es kein Zufall war, daß sie ihn nicht traf. Er wich ihr aus, und wenn dem so war, dann konnte er sie vielleicht spüren lassen, daß er ihr Kommen als Aufdringlichkeit empfand. Obgleich sie ihn nie rücksichtslos gesehen hatte, sagte ihr das Gefühl, daß er es sein könne.

Der nächste Tag war ein Sonntag. Helwig ging in die Kirche. Hier konnte ihr der Pastor wenigstens nicht ausweichen. Hier mußte er sich hineinfinden, daß er ihr Gesicht sah, ihre Stimme hörte, und daß sie das, was er sagte, in sich aufnahm.

Der Text handelte von dem reichen jungen Mann, der nach dem Weg zum ewigen Leben fragte. Die Predigt hob hervor, daß Jesus den Jüngling ansah und ihn liebte, ihm aber zugleich eine so harte Antwort gab, daß der junge Mann betrübt fortging. Die Herbstsonne fiel durch das Fenster und warf einen warmen Schein auf des Pastors mächtigen Kopf. Das Haar bekam den Glanz von dunkel rostigem Eisen, und das schwerfällige Gesicht mit dem geradeaus gerichteten Blick trat in jeder Einzelheit hervor. Es lag keine weiche Nachgiebigkeit, aber auch keine Härte in dem geraden Mund mit den kräftigen Lippen. Man sah dem Mund an, daß er nicht lügen konnte, daß er sich nicht scheute, eine heilsame Wahrheit auszusprechen, selbst wenn sie bitter war, aber daß er gerade darum auch den wirksamsten Trost aussprechen konnte.

Als sie ihm heute zuhörte, brachte sie ihn mit dem Meister, von dem er sprach, in Gedanken zusammen. Es schien ihr, als sagte der Pastor selbst die Worte zu ihr, die er von Jesus anführte.

»Willst du vollkommen sein, so gehe hin, verkaufe, was du hast, und gib's den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben, und komm, und folge mir nach.«

Helwigs bemächtigte sich eine gehobene Stimmung, die nicht nur eine Augenblicksstimmung, sondern ein folgerichtiges Ergebnis der Erfahrungen der letzten Tage war. Die gestellte Forderung fand Widerhall bei ihr, so wie sie heute von dem Pastor der Armen vorgetragen wurde. Vor einigen Tagen hatte er sie im Zwiegespräch vor die Wiedergeburt als den einzigen Weg in das Reich Gottes gestellt. Liegt in der Wiedergeburt vielleicht gerade etwas davon, daß man verkaufen soll, was man hat, um als nacktes Kind ins Leben einzugehen? Man bringt nichts mit sich in dieses Leben, nichts in das Leben der Wiedergeburt. Man kann aber in diesem Leben zu Reichtümern geboren werden, und sicher wird man das auch bei der Wiedergeburt.

»– – – so wirst du einen Schatz im Himmel haben.«

Einen Schatz. Was für einen? Kann es etwas anderes sein, als die vollkommene Liebe? – –

Nach dem Gottesdienst ging Helwig gedankenvoll nach Hause.

Heute wurde zum Mittagessen in der großen Stube gedeckt, da wie gewöhnlich des Sonntags nicht genug Platz in der Küche war.

Die große Mittagsgesellschaft pflegte Helwig Vergnügen zu machen, aber heute aß sie drinnen bei der Mutter. Sie wollte dem Hausherrn zeigen, daß sie ihm auch ausweichen konnte. Vielleicht würde er es fühlen und fürchten, daß er ihr allzu deutlich aus dem Wege gegangen war. Der Gedanke war ihr mehr als ein Trost, sie schwelgte darin.

Nach dem Essen zerstreuten sich die Gäste bald, und Sonntagsfrieden senkte sich auf den Pfarrhof.

In der Dämmerung setzte Helwig sich an die Orgel im Saal. Heute abend entsprach die Orgel ihrer Stimmung mehr als das Klavier.

Eben hatte sie Mons draußen in der Küche bei Mutter Ols gesehen, darum nahm sie an, daß der Pastor nicht zu Hause sei, denn dann wäre der Junge natürlich bei ihm gewesen.

Sie überlegte, warum ihr der Pastor wohl auswiche, und wie lange er das fortsetzen würde.

Heute in der Kirche mußte er sie gesehen haben. Hätte er nicht gern gewußt, ob seine Predigt Eindruck auf sie gemacht hatte? Hatte er während derselben an sie denken müssen? Sie ahnte beinahe, daß dem so war, denn die Predigt war in mehr als einer Hinsicht eine Ergänzung ihres Gesprächs über die Wiedergeburt gewesen. Würde er nie mehr einen Versuch machen, den Faden ihrer Unterredung wieder aufzunehmen? Sie hatte sich doch an ihn als Seelsorger gewandt! War es dann recht von ihm, sie ihrem Schicksal zu überlassen?

Wenn es einen kranken Kätner betraf, oder einen erbärmlichen kleinen Kerl wie Mons, dann hatte er den Eifer der Liebe, aber ihr wendete er den Rücken, ohne nach ihres Geistes Suchen zu fragen!

Helwig war in einer weichen, verletzten und sehnsüchtigen Stimmung, die einen starken religiösen Einschlag hatte. Ihr gedämpftes Orgelspiel ging in einen Choral über.

»Will in trüben Kummertagen
Dir das müde Herz verzagen,
Steht dir Trost und Hilfe fern:
Flücht in deine stillste Kammer
Und vertraue deinen Jammer
Deinem Gott und deinem Herrn!«

Ols war nicht ausgegangen, wie sie glaubte. Er saß in seiner Stube und hörte sie singen. Aber er ging nicht in den Saal hinaus und öffnete seine Tür auch nicht, um besser zu hören. Er dachte an die Predigt, die er gehalten hatte, und wandte sie mit Gottes Wort an der Spitze gegen sich selbst.

»Willst du vollkommen sein – –«

Das wollte er. Es war das Ziel, das er sich im Leben gesetzt hatte, das Ziel, das er, wie er wußte, nie aus eigener Kraft erreichen konnte. In der Wiedergeburt war er ein neues Geschöpf geworden und hatte das Leben der Vollkommenheit in seinem Keim empfangen. Es galt, das Leben mit aller Macht zu bewahren und jede Versuchung zu fliehen, die ihm schaden konnte. Der Gehorsam gegen Gott behütet den Lebenskeim und entwickelt ihn.

»– – – verkaufe, was du hast, und gib's den Armen.«

Wenn man das verkaufen soll, was man schon besitzt, wieviel mehr muß man sich davor hüten, etwas zu kaufen, das man nicht besitzt! Denn man weckt sonst ein neues Verlangen, das sich der gläubigen Nachfolge Jesu hindernd in den Weg stellt.

»Wie hat sie mich nicht schon daran gehindert, meine Pflicht gegen einen Armen und Kranken zu tun, und mit welch unfreundlichen Augen sieht sie meine Liebe zu einem dieser Kleinsten an!« dachte Ols und blickte auf Mons hinab, der eben hereingekommen war und nun auf der Diele saß und mit ein paar Papierschlitten spielte, die er sich zurechtgestümpert hatte.

»Und dringt sie nicht in alle meine Gedanken ein, schwächt meine Gebete und zieht mein Herz von anderen Menschen, sogar vom Herrn selbst ab?« dachte Ols weiter. »Sah ich heute in der Kirche nicht sie allein, und richtete ich meine Worte nicht an sie allein, als wäre kein anderer Mensch dort? Wenn sie mein wäre, wäre sie dann nicht gerade der Reichtum, von dem ich mein Herz trennen müßte, um mich in meines Herrn Nachfolge den Armen wie bisher ungeteilt zu widmen? Wieviel mehr muß ich dann jedes Verlangen nach ihr unterdrücken!«

So redete er mit sich selbst.

Aber Helwigs melodischer Gesang drang zu ihm herein und ging ihm tiefer zu Herzen als früher, denn es lag ein neuer Ton wehmütiger Sehnsucht darin.

Zögernd, gegen seinen Willen, stand er auf, öffnete die Tür und blieb lauschend stehen.

»Laß die heißen Tränen fließen
Und die Klagen sich ergießen
In ein kindliches Gebet;
Vaterohr ist immer offen,
Wenn ein Kind, vom Schmerz getroffen,
Fromm und gläubig zu ihm fleht.«

Sie saß allein und sang in der Dämmerung von dem, den das Menschenherz bewußt oder unbewußt in allem sucht. In Ols Eriks herbe Züge kam ein anderer Ausdruck. Er dachte an ihre unterbrochene Unterredung am Bücherständer in seinem Zimmer und brachte sie mit ihrem sehnsüchtigen Gesang in Verbindung. War es recht von ihm, an der Aufrichtigkeit ihres Suchens zu zweifeln? War es recht, daß er ihr auswich? Sie hatte sich an ihn als an den Seelsorger gewandt. Durfte er sich nun zurückziehen, wenn er sich ihr gegenüber als Mann schwach fühlte?

»Kann dir schnelle Hilfe frommen,
Glaube nur, sie wird dir kommen
Wohl im Schlaf schon über Nacht;
Soll dein Leiden sich nicht enden,
Wird er seinen Tröster senden,
Der dich stark im Dulden macht.«

Mit diesen Worten bahnte sich die herrliche Stimme einen Weg in das Allerheiligste seines Herzens, in dem er bisher niemand anders als seinen Gott verehrt hatte. Die irdische Liebe wurde bei ihm zu einem religiösen Gefühl.

In den Saal aber ging er nicht; denn er wußte abzuwarten.


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