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9.

Erst am dritten Sonntag ihres notgedrungenen Aufenthalts in Skalunga ging Helwig in die Kirche. Ihre Mutter wünschte es, und sie selber meinte, daß es ganz unterhaltend sein könne, zu hören, wie »unser Ols« predigte.

Es war ein sonniger Sommertag. An der einen Seite der Kirche waren alle Fenster geöffnet, so daß die frische, sonnenwarme Luft frei hineinströmen konnte. Das Gotteshaus war hoch, hell und einfach. Der alte katholische Altarschrein paßte nicht ganz zu dem übrigen, aber Helwig fand doch, daß er Stimmung gab. Er stand oberhalb des Altars, fast wie ein Überbleibsel einer alten, echten Frömmigkeit, die sich unter all dem Unechten des vertriebenen Katholizismus verbarg und sich nun vor Gottes Thron mit der reineren Gottesverehrung aufgeklärter Zeiten vereinigte.

Das Eingangslied wurde gespielt. Als Helwig miteinstimmte, wandten sich ihre Nachbarn um, um zu sehen, wer da so engelhaft schön sänge. Die Wirkung ihres Gesanges freute Helwig so, daß sie daran mehr dachte, als an die Worte, die sie sang.

Während des letzten Verses trat der Pastor vor den Altar. Helwig war er wie ein Fremder. Bisher hatte sie ihn nur in seiner groben Alltagsjacke gesehen, nun stand er im Talar und Kragen vor dem Altar.

Der Gesang schwieg und der Pastor wandte sich um. Laut und feierlich tönte seine Stimme über die Versammelten, metallklar und voller Andacht.

»Heilig, heilig, heilig ist Gott der Herr, der Allmächtige! Himmel und Erde sind seiner Ehre voll!«

Wie oft auch Helwig die Worte hatte vor dem Altar lesen hören, sie hatten bis heute noch nie den geringsten Eindruck auf sie gemacht. Wie kam es, daß sie es jetzt taten? Lag es an seiner Art, zu lesen, oder an ihrer eigenen augenblicklichen Gemütsstimmung? Das letztere konnte es wohl kaum sein; denn ihre Stimmung war durch den unerwarteten Eindruck in eine ganz neue Richtung gelenkt worden.

Nicht nur die feierliche Andacht in des Pastors Stimme fesselte Helwigs Aufmerksamkeit, die sich meist nach verschiedenen Richtungen hin zersplitterte, sondern auch das, was Helwig von ihm wußte, trug viel zu ihrer Sammlung bei. Seine Persönlichkeit hatte schon vom ersten Augenblick an den Eindruck auf sie gemacht, als sei sie aus einem Guß, und dieser Eindruck hatte sich später vertieft durch alles, was sie von ihm gesehen und gehört hatte. Erst gestern hatte sie durch einen Zufall einen neuen Zug am Pastor entdeckt. Er war weder zum Mittagessen noch abends in die Küche gekommen. Sie dachte, daß er ausgegangen wäre, sah aber, wie seine Mutter dann an die Tür des Arbeitszimmers klopfte und mit einer Botschaft, die soeben gekommen war, hineinging. Da fragte Helwig Mutter Ols, ob der Pastor krank sei, da er nicht zu den Mahlzeiten käme.

»Er bleibt am Sonnabend immer allein in seiner Stube,« hatte die alte Frau geantwortet.

»Wird ihm das Essen dann hineingebracht?«

»Ja, das heißt, das wenige, das er ißt. Es ist sehr wenig.«

»Aber warum ißt er nicht? Fastet er?« fragte Helwig weiter, belustigt und verwundert, als hätte sie etwas ganz Besonderes entdeckt.

Mutter Ols hatte sie angesehen, gewissermaßen mit einem prüfenden Blick, als wolle sie ergründen, ob sie geistig hoch genug stände, um zu verstehen.

»Er bereitet sich vor auf die Verantwortung, Gottes Wort zu der Gemeinde zu reden,« antwortete sie etwas widerstrebend, als wäre die Prüfung nicht zu Helwigs Gunsten ausgefallen. Sie hatte aber doch geantwortet, um nicht unhöflich zu sein.

»Vielleicht wacht er auch?« fragte Helwig weiter, getrieben von dem Interesse, eine solche Seltenheit, wie einen wachenden und fastenden Geistlichen in einer protestantischen Kirche, zu entdecken.

»Das tut er vor besonders wichtigen Aufgaben, aber soviel ich weiß, nicht regelmäßig.«

»Aber warum tut er das? Glaubt er, daß es Gott gefällt?«

Wieder sah Mütterchen Ols das fragesüchtige junge Mädchen prüfend an, ehe sie antwortete.

»Er meint, daß es gewisse außerordentliche Gnadengaben gibt, die dem in reicherem Maße gegeben werden, der mit Gebet fastet und wacht.«

Diese Unterredung und was sie dadurch über den Pastor erfuhr, machte Helwig begierig, zu hören, wie er nach einem Fasttag und nach einer durchwachten Nacht predigte.

Er war körperlich so kräftig, daß man in seinem Aussehen keine Spur der leiblichen Entbehrungen wahrnahm, denen er sich unterworfen hatte. Er sah gar nicht übernächtig, nicht einmal müde aus; aber es lag ein gewisses Etwas über ihm, das zur Andacht stimmte.

Helwig war es, als stände er vor dem Altar wie vor einem unsichtbaren Angesicht, und sie wußte nicht, ob das nur in ihrer Einbildung lag; vielleicht war sie beeinflußt von dem, was sie von seiner Predigtvorbereitung gehört hatte.

Ihr Leben lang hatte Helwig mehr oder weniger unter der Zersplitterung ihres Wesens gelitten, die sie verhinderte, sich einer Sache ganz zu widmen. Sie hatte Lust und Anlage zu so vielerlei, daß sie sich nicht für eines sammeln konnte. Mitunter hatte sie gewünscht, daß jemand oder etwas sie zwingen möchte, alles übrige beiseite zu lassen, damit sie sich einer Sache ganz hingeben könne.

Nun sah sie einen vor sich, der solch einer Konzentration mächtig war, und sie beneidete ihn um seine Fähigkeit, sich einem Einzigen, vollständig hinzugeben: seinem Gott und damit seinem Beruf ...

»Heilig, heilig, heilig ist Gott der Herr! Himmel und Erde sind seiner Ehre voll.«

Helwig fand, daß er mit diesen Worten die Überschrift über sein Lebenswerk und sich selbst setzte. Der groß angelegte Mann hatte den Einzigen gefunden, der seines ganzen Wesens und seiner Hingebung würdig war.

Helwig beneidete ihn nicht nur, sie war auch begeistert von seinem Anblick.

Plötzlich ertönte die Orgel, was Helwig in erwartungsvolles Staunen versetzte. Sie hatte keine Ahnung gehabt, daß der Pastor auch sänge.

Er tat es aber. Seine Singstimme war umfangreich und klangvoll, obgleich wenig geschult. Doch beherrschte er sie hinlänglich, um die Feierlichkeit des Gottesdienstes nicht wenig zu erhöhen.

Niemals war der Altardienst Helwig so feierlich vorgekommen wie heute. Sie fühlte sich so ergriffen, daß sie sich fast vor sich selber schämte, als wäre sie kindisch.

Wie freute sie sich, daß sie zu der Gemeinde gehörte, die vom Pastor den gesungenen Gruß empfing: »Der Herr sei mit euch!« und als sie in die Antwort der Gemeinde einstimmte: »Und mit deinem Geiste!«, da hätte sie gern gewußt, ob er ihre Stimme unter den anderen hörte.

Dann folgte die Predigt.

Wohl schrieb Ols seine Predigten nieder, aber er las sie nicht ab. Er hatte ein so gutes Gedächtnis, daß er sie während des Niederschreibens lernte, überdies hatte er das Wort gut in seiner Gewalt, so daß er nicht an Geschriebenes gebunden war.

Es fehlte nicht am Predigtton; aber merkwürdigerweise fand Helwig ihn nicht lächerlich, es kam ihr eher vor, als belebte dies seine Darstellungsweise. Sicher war, daß die Gemeinde in der Kirche das, wenn auch unbewußt, empfand. Auf die, die nicht so ganz aufpaßten, machte schon die Art seines Sprechens Eindruck. Nach dem Gottesdienst erinnerten sie sich dann daran und empfanden, daß in der Kirche ein Hauch von Heiligkeit und Andacht geweht hatte. Sie hatten Gott in Gemeinschaft mit ihrem Prediger verehrt. –

Das Schlußlied war gesungen, und Helwig verließ die Kirche mit dem Gefühl, etwas erlebt zu haben. Sie war in eine hohe geistige Sphäre gehoben worden und hatte ein leises Wirken des Heiligen Geistes empfunden.

Aber in ihr wohnte ein kritischer Geist, der alles mit eiskalten Augen betrachtete. Der sah sie auch jetzt mit geringschätzigem Lächeln an, so daß sie sich der Andachtsstimmung schämte, die sie gefesselt hatte und die noch jetzt in ihrer Seele weilte.


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