August Becker
Die Nonnensusel
August Becker

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20

Von Münster

Es war am Tage vor »Bartholomä«, daß Frau Juliane ihrer Tochter so einschneidend dargetan hatte, wo »Barthel den Most holt«. Mit dem Tage dieses Heiligen fängt im Bauernkalender der Herbst an. Die Ernte des Getreides ist vollendet, der Wind weht schon über die Haferstoppeln, die Rübenfelder grünen, wo das Korn wogte; die Trauben im Weinberg werden reif und färben sich, ja zumeist sind die Frühschwarzen an den Spalieren schon völlig reif, und alles Obst zeitigt vollends heran, wenn die Brombeeren, die im Volksmund ebenfalls in eine – nur allzu drollige – Verbindung mit dem Barthel gebracht werden, überreif ihren säuerlichen Wohlgeschmack verlieren.

So ist nun »Bartholomä« eine wichtige Zeit und im Leben des Volkes rot angestrichen, ohne daß es von der historischen Bartholomäusnacht etwas wüßte. Um diesen Tag gruppieren sich die meisten Kirchweihen in dem schönen, von der Queich und Lauter umsäumten Grenzland, das vom Rheinstrom zum Wasgaugebirge hinansteigt. Wenn die Scheuern gefüllt sind, will sich der Landmann der Freude und gastlichen Lust hingeben, und er hat auch ein Recht darauf.

Leider war man mit der Ernte jenes Jahres nicht sehr zufrieden, ja sie galt als ziemlich mißraten, nachdem schon zwei Jahre vorher der anhaltende kalte Winter eine völlige Mißernte gebracht hatte. Nicht mit Unrecht waren vorausblickende Leute der Ansicht, daß dieser Umstand gelegentlich dazu beitragen möchte, die herrschende Unzufriedenheit zu nähren und die Aufregung, die mit der Europa erschütternden Juli-Revolution begonnen hatte, noch zu steigern. Dazu kam, daß die neu aufgerichteten Zollschranken, mit denen man damals das Land auch nach Deutschland hin umgab und womit vor allem die Ausfuhr des Hauptproduktes, des Weins, untergraben wurde, die Gemüter allmählich verbitterten. Damit fiel die Haupteinnahme der Winzerbevölkerung längs des Gebirges aus.

Von allen Kirchweihen, die Bartholomä bringt, gilt in jener Gegend die von Münster als die fröhlichste. Nur noch wenige Tage waren es bis zum Kirchweihsonntag. Juliane hielt die Augen offen, damit keine Einladungen ins Haus gelangten, und war entschlossen, deren Annahme zu hindern. Indes deutete nichts darauf hin, daß ihre Tochter überhaupt willens war, einer solchen Folge zu leisten, obwohl sich die Lust im Herzen regen mochte. So ging die Woche hin, und das gute Einvernehmen zwischen Mutter und Tochter erschien durch jene Auseinandersetzung zwar für den Augenblick heftig erschüttert, doch nicht dauernd gestört. Es ging äußerlich alles wie früher im sanften Geleise freundlicher Übereinstimmung. Hing doch Juliane in der Tat mit mütterlicher Liebe an ihrem und ihres »Henrichs« Kind, und Susel mit kindlichen Gefühlen an der Mutter. Mutter und Tochter faßten den tröstlichen Vorsatz, alles nun der Zeit zu überlassen.

Sonntags ging Susel in die Kirche. Ob sie nicht lieber auf die Kirchweih gegangen wäre? Aber nichts deutete auf einen solchen Wunsch. In ihrer gewohnten ruhigen und förderlichen Weise lag sie nach dem Frühgottesdienst ihren häuslichen Pflichten ob. Nachmittags dagegen verweilte sie so lange im Grasgarten, daß die Mutter endlich sich durch die Scheune ebenfalls hinaus begab, um doch einmal nachzusehen, ob Susel nicht dennoch fort sei über die Höhen hinüber. Es zeigte sich, daß sie mit ihrer Freundin Liesel dort auf dem Rasen unter den reichlich tragenden Bäumen saß, ein Volkslied leise vor sich hinsingend.

Als dann Susel abends der Mutter gute Nacht gesagt hatte, um ihre Schlafstube aufzusuchen, kam Juliane noch um Mitternacht mit einer brennenden Lampe über den Flur in das Kämmerlein und fand denn auch zu ihrer Genugtuung die Tochter bereits sanft eingeschlummert.

Am folgenden Tag, dem schönsten der Münsterer Kirchweih, ergaben sich ebensowenig Anzeichen, daß Susel besondere Sehnsucht dahin empfand. Es gab viel zu tun; die zweite Wiesenmahd hatte begonnen, die Ernte des Grummets oder, wie man es dort heißt, des »Ohmets«, war in vollem Gang. Auf derselben Wiese, wo einst die Begegnung stattgefunden, stand Susel im Strohhut mit weitem, schlaffem Rand und blau flatterndem Band, an der Spitze der Mähderinnen den Rechen emsig handhabend, die Schwaden ausbreitend.

Ob sie an ihn dachte? Zweifellos. Mit wem er wohl tanzte? Ob er überhaupt tanzte?

Es wurde schwül, als ob die Luft ein Gewitter ausbrütete. Indes lag noch eine Fuhre Hafer geschnitten weit drüben, gleichsam auf verlorenem Posten, über der sogenannnten »Bubenstube« im Münsterer Gemark. Der Hafer sollte noch vor Ausbruch des Gewitters heimgebracht werden, und Susel war bereit, dem Wagen zu folgen, um die Arbeit zu fördern. Obwohl die Mutter mit einigem Argwohn nachsah, dachte doch die Tochter mit keinem Gedanken an die Gelegenheit eines, wenn auch nur flüchtigen, Besuches der Kirchweih von Münster. Dann und wann trug eine schwüle Luftwelle, halb verweht, Tanzmusik herauf. Ob er wohl viel tanzte, und mit wem, ob er jetzt vielleicht auf der »Reitschule« – dem Karussell des Marktes – ihrer gedachte?

Aber nicht einen Augenblick hinderten sie solche Gedanken in der Förderung der notwendigen Arbeit, bis der Hafer gebunden und geschichtet auf den Wagen geladen war und dieser die beste Fährte zurück einschlug.

Am Abend langte Susel, müde von des Tages Mühen, zu Hause an.

»Macht die Läden zu«, sagte die Mutter vor dem Schlafengehen, »es kommt ein Gewitter. Schon donnert's und blitzt es dahinten im Tal!«

Und das Wetter kam in der Nacht. Juliane, die den Gewittererscheinungen gegenüber sonst eine eigentümliche Zaghaftigkeit bewies, nahm in dieser Nacht das Blitzen und Donnern mit ziemlicher Gleichmut hin. Sie wünschte sich Glück, daß ihr Kind sich bewährt, der Versuchung widerstanden und kein Verlangen nach der Münsterer Kirchweih geäußert hatte. Das war vielversprechend für die Zukunft.

An dem kühlen, wolkigen Tage, der der Gewitternacht folgte, wollte Juliane nicht das günstige Wetter zum Versetzen von Pflanzen im Garten und zu neuer Aussaat versäumen und war so eifrig darüber, daß sie kaum der Zeit achtete. Gegen Mittag kam eine Frau in dunklem Festtagsgewand von der Straße den Feldpfad herunter; dann, durch die Öffnung im Zaun, den Grasgarten entlang, als sei ihr der Weg ins Haus völlig vertraut. Sie trug ein Kind auf dem Arm, am anderen einen Henkelkorb. Juliane sah etwas befremdet hin. Die Frau erschien ihr bekannt, ohne daß sie im Augenblick wußte, wofür sie dieselbe halten dürfe.

Mit einer Anwandlung ungeselliger Scheu, der ein gut Teil unbestimmten Mißtrauens und Argwohns beigemischt schien, und mit der Absicht, einer vielleicht mißfälligen Begegnung auszuweichen, unterbrach Juliane ihr Tun und verließ den Garten, ohne sich noch einmal nach der Herkommenden umzusehen. Für diese war das jedoch kein Hindernisgrund, ihren Weg durch Garten und Scheuer fortzusetzen. Als sie in den Hofraum gelangte, stellte sie das Kind, ein fast zweijähriges Mädchen, auf den geplatteten Gang, faßte es an der Hand und ließ es neben sich her auf den Steinplatten der Haustür zulaufen, unter der Juliane mit dem Ausdruck ungeheuchelten Befremdens dem unerbetenen Besuch entgegensah.

»Guten Tag, Bas!«

Die Miene der Begrüßten blieb immer noch sehr ernst, als sie langsam und zurückhaltend guten Tag zurückbot. Plötzlich aber heiterten sich ihre Züge auf. »Ach, du bist's, Amy! Hätt' ich dich beinah für eine andere angesehen. Ist die Kleine da dein?«

»Ja, meine Susele, Bas.«

»Na, da komm einmal her, du Kleines, Dickes, und gib' mir ein Patschhändel! Das ist ein artiges Kind. Und wo kommst du denn her, Amy, mit dem netten Käferchen?«

»Von der Münsterer Kirwe, Bas.«

Julianes Gesicht verfinsterte sich nochmals, und sie fragte argwöhnisch: »Du hast wohl Grüße zu bringen?«

»Ich? Von wem denn, Bas?«

Flüsternd beugte sich Frau Juliane zu ihrer früheren Magd: »Hat ein gewisser Schorsch viel getanzt?«

»Soviel ich gesehen hab', hat er keinen Tanz ausgelassen, am meisten mit Ochsenwirts Kathel.«

»Es ist wohl ein lustiger Mensch?« erkundigte sich, besser gelaunt, Juliane.

»Und wie! Aber was macht denn die Susel?«

»Soweit gut. Komm doch herein in die Stube mit deiner Kleinen. Es geht gerade zum Mittagessen – und du bleibst über Nacht bei uns, gelt!«

»Nicht über Nacht, Bas. Mein Mann wartet daheim auf mich. Aber mitzuessen will ich so frei sein. Und doch kommen wir erst vom Essen, und den Korb da haben sie mir in Münster ganz mit Kirwekuchen vollgepfropft. Mein Mann hat eben g'sagt: Amy, sagt er, du hast dich das ganze Jahr geschunden und geplagt, darfst dich auch einmal ausspannen, geh' auf die Münsterer Kirwe! Und da bin ich auch mit meinem Susele dahin gegangen und hab's nicht zu bereuen gehabt.«

Noch mehr als die Mutter war Susanne erfreut über den Besuch Amys. Dem kleinen Mädchen wurden noch allerlei gute Sachen zugesteckt, während seine Mutter von der Münsterer Kirchweih erzählte und wie schön es da wieder zugegangen sei.

»Wo ist denn getanzt worden?« fragte die Großmutter, die sich ebenfalls zum Kaffee eingefunden hatte.

»Überall – im roten Ochsen, bei Bürgermeisters, im Adler, im grünen Baum, beim Bohrerbecker und beim Löwenwirt im Stift.«

»Wo haben denn die Heidelbeerschnitzer nur all die Musikanten her?« warf Frau Juliane dazwischen.

»Und überall«, fuhr Amy fort, »ist's gar lustig hergegangen. Hab' ich doch beim Bohrerbecker selber ein Leibstückl mitgesungen, und die Mariand' und die Annelies –«

»Ist das die kleine Spinnfrau mit den krummen Beinen, deren Bruder Anno 92 im Stift bei der Revolution von den Kurpfälzischen Reitern erschossen worden ist?«

»Krumme Beine hat sie, aber wie ein Distelfink hat sie mit uns gesungen.«

»Was denn, Amy?« fragte Susel.

»Sand's Abschied«, berichtete Amy, den Kopf ihres Kindes, das auf ihrem Schoße eingeschlafen war, an ihren Busen haltend. »›Ach, sie naht, die bange Stunde‹ fängt es an, und Sand hat's seiner Liebschaft gesungen, auf dem letzten Gang zum Schafott, weil er den Kotzebuben erstochen hat. Am schönsten ist's gestern gewesen, wo die Ledigen mit der Musik im Ort herum sind; da hat der Hans Henrich den Rutschhin-Rutschher unter freiem Himmel bei den Marktständen getanzt und die Musik hat dann ›Denkst du daran, meine tapfere Lagienka‹ gespielt. Auch drei Franzosen aus Weißenburg sind dagewesen. Da geht auf einmal der eine zu den Musikanten und will mit ihnen reden. Aber sie verstehen kein Wort. ›Wollen das Franzosen sein und können kein Wort Deutsch!‹ sagte der Satter-Baschan. Jetzt hilft ihnen ihr Kamerad aus und redet mit den Musikanten; und 's Bummels Wendel, der Schorsch und andere Pariser, die auf der Wanderschaft gewesen sind, stellen sich mit den Franzosen auf einen Klumpen und fangen an zu singen und zu brüllen: Bäwel und Franz, und Alloh und Baschan, Kontrolleur Kannhahn!«

»Was?« fiel Frau Juliane ein. »Was haben denn die Franzosen mit dem Schnurres?«

Amy überhörte den Einwurf und berichtete weiter: »Kaum sind sie fertig mit dem Kauderwelsch, steht unser Herr Schulmeister da mit seinen Gehilfen und Sonntagsschülern, da geht's an – dreistimmig:

»Kennt Ihr das Land so wunderschön
In seiner Eichen grünen Kranz,
Das Land, wo auf des Rheines Höhn
Die Traube reift im Sonnenglanz?

Und da auf einmal singen wir alle mit, und die große Trommel, die Vigelin, die Trompet' und die Baßgeig' spielen dazu auf. Auch die kleinen Buben haben mitgekrischen und – ach ja! Es ist so schön gewesen, so schön! Ordentlich rührend!«

»Na«, fiel hier die Großmutter ein, »wo ist denn am schönsten getanzt worden?«

»Montags im Ochsen. Da hat der Schorsch mit der Kathel getanzt. Sie sieht ihn gern, und sie sind schon früher einander zu Gefallen gegangen.«

Susel verfärbte sich. Aber sie sagte nichts, saß still auf ihrem Platz und sah Amy schweigend an.

»Aber«, fuhr diese fort, »ich glaub' nicht, daß es ernst ist. Kinderpossen. Der Schorsch will sich eben Pläsier machen und tanzt gern mit ihr, das ist alles.«

Und nun folgte wieder eine so begeisterte Schilderung der Münsterer Kirchweih im allgemeinen, daß Juliane, endlich ein wenig ungeduldig, doch mit Gelassenheit einfiel: »Jetzt sei aber still, Amy, sonst setzt sich meine Susel da noch Dinge in den Kopf, wovon doch nie die Rede sein kann!«

Diese Äußerung der Mutter in ruhigem Ton, ohne jede Erregung, wirkte weit niederschlagender auf die Hoffnung der Tochter, als jede Kundgebung von leidenschaftlicher Heftigkeit.

Susel machte keine besonderen Versuche mehr, um den Besuch aufzuhalten. Als Amy jedoch mit ihrem wieder munter gewordenen Mädchen zeitig am Nachmittag aufbrach, um die Heimwanderung nach dem Oberland fortzusetzen, gab ihr die Tochter des Hauses ein Stück Weges das Geleit. Und dann fragte sie plötzlich: »Ist es wirklich wahr, Amy? Geht er ihr zu Gefallen?«

»Gehört hab' ich davon, ob es sich aber in Wirklichkeit so verhält? Ich glaub' es nicht recht.«

»Wenn das wäre! Wenn das wäre!« sagte Susel weinend.

»Um Gottes willen«, rief Amy aufs äußerste bestürzt, »Susel, was hast du? Was ist dir?« Und dann nahm sie die Trostlose in ihre Arme.

»Dann möchte ich lieber nicht geboren sein!«

»Susel, meine Allerliebste«, bat Amy, der das Herz selber schwer wurde: »Was greift dich denn so an? Ein so schönes, so liebes, so reiches Mädel wie du, die es so gut hat und alles haben kann, was nur ihr Herz begehrt...«

»Ach nein, Amy«, sagte Susel wieder gefaßt: »So ist es eben nicht, du Gute, und wird es vielleicht nie werden.«

»Ach Gott, verschwör's nicht«, bat Amy tröstend. »Mit deiner Jugend, deinem Vermögen –«

»Was hilft mir das!« klagte Susel. »Du, Amy, hast heiraten dürfen, den du lieb hast – und ich – –«

»Mit Gottes Beistand auch du«, versuchte Amy zu trösten. »Er wäre ja deiner gar nicht wert, wenn er nicht einsehen wollte, was er an dir hat. Sei nur standhaft. Ausharren tut viel.«

»An mir soll es nicht fehlen.«

Dann gingen sie auseinander.


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