August Becker
Die Nonnensusel
August Becker

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8

Übergänge

Der Sommer war dahingegangen. Die Feldarbeit hörte aber nicht auf und dauerte bis über den Herbst noch tief ins Spätjahr hinein. Die Rüben mußten behackt, die Kartoffeln ausgemacht, das Wurzelwerk heimgebracht, die Felder geräumt, gepflügt, gedüngt, die Wintersaat bestellt werden. Und mit der Weinlese ging die Arbeit an der Kelter und im Keller los, und das Dungfahren in die Wingerte zog sich noch in den Winter hinein. Da hatte der Vater immer zu tun und nachzusehen; auch die Mutter konnte wenig an anderes denken, als an die Führung des Haushaltes für die eigenen Leute und für die vielen Taglöhner am Tisch.

Unter diesen Umständen fiel das veränderte Wesen des Töchterchens, das alle Munterkeit verloren zu haben schien und sich meistens still daheim und in der Stube hielt, weniger auf. Vater und Mutter waren zu sehr in Anspruch genommen, um genauer drauf zu achten, und Juliane hatte gerade damals wieder ihre eigenen Sorgen.

Die Großmutter im Nebenbau hatte wieder angefangen, in ihrer Weise halbe Reden zu führen und rätselhafte Andeutungen zu geben, ohne sich jedoch beim Wort nehmen zu lassen. Die Alte wußte oder erriet alles – man vermochte nicht dahinterzukommen – was im Haus vorging. Zwar verließ die Schwiegermutter noch immer ihr Bett nicht, war aber dennoch in alle Kleinigkeiten eingeweiht, so daß man glauben konnte, sie erfahre es im Traum oder die Hausgeister stellten sich bei ihr ein, um ihr diese Heimlichkeiten zuzuflüstern. In der Tat, es schien nicht mit rechten Dingen zuzugehen, so genau wußte sie Auskunft über Dinge, die selbst dem scharfen Auge der Hausfrau entgangen waren. Sollte sich die alte Frau gerade in dem Betracht, der Juliane nahezu der wichtigste dünkte, einem Irrtum, einer Täuschung hingeben?!

Als sie nun einmal wieder, während bei nassem Wetter in der Tenne gedroschen wurde, von der Schwiegermutter herüberkam, sagte sie zu ihrem Mann, der eben einen ausgebesserten kleinen Kleiderrechen an der Wand der Wohnstube befestigte, indes sie auf den Schemel stieg, um Weinreste aus Gläsern und Krügen in das tönerne Essigfaß überm Ofenmäuerchen zu schütten, wobei sie sich halb zu ihm hinkehrte: »Wir müssen eine Änderung machen, Henrich.«

»Inwiefern?« fragte er ruhig.

»Nettl muß bis Weihnachten fort.«

»So! Bist du denn nicht mehr zufrieden mit ihr?«

»Zu klagen hab' ich ja eigentlich nicht«, sagte Frau Juliane in einiger Verlegenheit. »Aber es tut nicht länger gut.« Und dabei warf sie einen beobachtenden Blick nach ihm.

Völlig ruhig und gelassen klopfte er den Nagel fest und sagte in einem Ton, der ihr alles überließ: »Das ist deine Sache, Juliane.«

»Sie wird mir so gefallsüchtig.«

»So! Mir ist es noch nicht aufgefallen«, erwiderte er und erprobte das angenagelte Brettchen mit dem Zapfen, ob es auch fest genug sei.

Überdies kamen die taube Aplone und Nettl fast gleichzeitig in die Stube; jene, um Brotkrumen für die eingesperrten Kapaunen zu holen, diese, um einige Töpfe in die Milchbank am Ofen zu stellen, während sich Groß jetzt mit einer Probe des geernteten Hanfsamens beschäftigte. Juliane hatte ihre eigene Manier, sich mit der getreuen Aplone trotz deren Taubheit zu verständigen; es geschah durch sprechende Blicke, worin sie ein außerordentliches Geschick entwickelte, wie sie überhaupt über ein sehr ausdruckvolles Mienenspiel verfügte. Einen solchen Blick, der zwei Personen im Zimmer streifte, die keine Ahnung von dieser Verständigung und ihrem Zweck hatten, fing nun die alte Aplone auf, schüttelte darüber den Kopf, füllte ihre Schürze mit Brotresten und sagte, hinausgehend, nur das halbartikulierte Wort: »Ah pah!«

Als nun auch der Hausvater sich in den Hof und nach der Scheuer zu seinen Dreschern begab, um sich aus Hanfbast einige Peitschenschnüre zu flechten, wie er es als Knabe getan hatte, befand sich Nettl mit der Hausfrau allein im Zimmer, so daß diese in weniger entschlossenem Tone begann: »Meinst du nicht, Nettl, daß wir einen Wechsel eintreten lassen könnten?«

»Ich habe auch schon daran gedacht«, sagte die Dirne etwas unmutig. »Man scheint nicht zufrieden mit mir zu sein, und ich habe mir doch Mühe gegeben und geschafft, so gut ich kann.«

»Woran merkst du denn, daß man unzufrieden mit dir ist, Nettl? Deine Mutter hat mir damals auf die Seele gebunden, acht auf dich zu haben.«

»Ei, Ihr, Bas, seid ja gut gegen mich«, sagte die Magd. »Aber der Vetter ist so kurz und von oben herunter. Der Vetter muß etwas gegen mich haben.«

Frau Juliane sah sie mit durchdringenden Augen an, als wolle sie ihr klar ins Herz sehen. Aber Nettl hielt den Blick aus. Es war offenbar ihr aufrichtiger Ernst.

»Nun«, sagte die Hausfrau, gutmütig lachend, »tröste dich mit anderen, Nettl. Es ist seine Art so. Du mußt dich daran nicht kehren und nur deine Pflicht tun. Weiteres bedarf es nicht, und es bleibt beim Alten.«

Bei sich aber nahm sich Juliane vor, der bösartigen Schwieger einmal den Standpunkt recht klarzumachen, wenn sie noch einmal solche argwöhnischen Reden führe. Und Nettl blieb wieder für ein Jahr im Hause.

Heinrich Groß aber, der bei fortdauerndem Regen zuweilen nach dem Hanf sah, der auf den gemähten Wiesen zur Röste ausgebreitet lag, schüttelte damals und nachher über das sonderbare Benehmen seiner Frau verwundert den Kopf. Welche Launen gaben sich doch im Verhalten der Hausfrau kund! Seine Aufmerksamkeit war erregt. Aber erst allmählich drängte sich ihm die Mutmaßung bis zur Überzeugung über die eigentliche Triebfeder ihres Tuns auf, und er fragte bei sich, unter welchen Einwirkungen und Beweggründen sie wohl handle. Anfänglich ärgerte er sich im stillen, später lächelte er über seinen Ärger und ihren Argwohn.

Das Jahr ging zur Neige. Bis in den Advent zog sich noch die Zubereitung des durch Regen, Tau und Herbstnebel auf den Wiesen gerösteten Hanfes hin. Das Dörren über den Feuern der Hanflöcher, die Bearbeitung unter der klappernden Brechbank und unter dem unheimlich sausenden, alles zermalmenden Steinklotz der Hanfreihe, zuletzt auf der Hechel: alles war endlich vorüber, und nun umschlossen ihn die schimmernden Kunkelbänder, und die Spinnrädchen schnurrten wieder in den Winter hinein.

Damals, bei Adventbeginn, hielt aber die Hausbewohner noch eine eigene Sorge in Atem. Es war der Ziehungstag für die Konskriptionspflichtigen, zu denen auch Stoffel und Hannes gehörten. Die Glut in den Hanflöchern leuchtete noch in den dunklen Morgen und Abend hinein, als die jungen Burschen in Hoffnung und Bangen, ob sie das Los treffe, dennoch laut singend früh nach der Stadt zogen und dann abends wieder ihre Losnummern und bunte Bänder an den Mützen mit hallendem Gesang heimkehrten, dabei in den Wirtshäusern an der Straße den verhängnisvollen Tag feierten.

Nur zwei Konskribierte gingen nicht mit, sondern schlichen verstohlen querfeldein, die gewohnten Pfade nach dem Dorf zurück: Stoffel und Hannes. Es war damals Sitte, daß die reichen Bauernsöhne schon vor der Ziehung die Einstehersumme erlegten, um allem enthoben zu sein. Allein Stoffel und Hannes taten das nicht, sondern ließen es darauf ankommen mit dem Los; man konnte ja nicht wissen, ob nicht die hübsche Summe erspart wurde. Und richtig, die beiden reichen Filze zogen die höchsten Nummern und waren also völlig militärfrei. Nun erwarteten ihre weniger glücklichen Kameraden, daß sie doch mindestens diesmal am Zusammentrinken teilnähmen und möglicherweise etwas »springen« ließen. Aber!

»Was hab' ich davon?« sagte Stoffel und zog seinen Freund Hannes heimlich fort, nach Hause, wo sich beide dann allerdings am elterlichen Wein so toll und voll tranken, daß sie noch den andern Tag kaum stehen konnten. Solches Verhalten aber stimmt nicht zum Charakter der Bewohner des Weinlandes, und als es ruchbar wurde, gab es besonders in Münster viel Anlaß zu spöttischen, ärgerlichen und lächerlichen Bemerkungen. Aber Stoffel und Hannes machten sich nicht das mindeste daraus und fanden desto größere Anerkennung bei der Großmutter im Altenteil.

Diese stand damals unter Behandlung des Doktor Flax oder Flaccus, wie er sich gern nennen hörte, desselben, der Juliane jene Übersetzung des Bernhardinischen Grundsatzes vom Schweigen der Weiber in der Kirche gegeben hatte. Er war ein Original, das konnte ihm niemand absprechen, dabei ein unscheinbares Männchen mit aschblondem Backenbart, Brille, feinen Zügen. Sein Wohnsitz war nicht in der nahen Stadt, sondern im Dorfe Pleisweiler; seine Kleidung, sommers und winters, dasselbe leichte, lichte Gewand, das er als vorzugsweise gesund rühmte. Man sagte, er sei ein Schwiegersohn des Amtskellers und kurpfälzischen Hofgerichtsrates Orsolini, der in der Revolutionszeit durch die Maires Adam Jung und David Silbernagel von Pleisweiler und Oberhofen, zum Entgelt früherer Amtsübergriffe, nicht wenig gehudelt worden. Aber des Doktors Frau war gestorben und hatte ihm nichts hinterlassen, auch keine Kinder. Seine Praxis war nicht besonders groß, auch seine Rechnungen waren es nicht. Mit seinen Patienten stand er auf dem freundschaftlichsten Fuß, aß und trank, was gerade vorhanden war, und suchte wohl selbst in Schubladen und Schränken danach oder klimperte verständlich mit dem Kellerschlüssel. Schwartenmagen zum Wein, ob neuer oder alter, galt ihm gleich, war seine Liebhaberei; doch verschmähte er auch sonstige Aufwartungen pfälzischer Gastfreundschaft nicht, selbst da, wo sich keine Patienten für ihn fanden. Kurz, er war aller guten Menschen Freund, und hatte nur einen Feind, den er haßte: den Schäfer Abraham, der ihm starke Konkurrenz machte.

Unser Doktor Flaccus kam eines Wintertages aus dem Vorbehaltszimmer der Großmutter in die Wohnstube herüber, wo bereits ein Krug »Neuer« auf dem Ofenmäuerchen stand und der Tisch mit einer Platte Schinken und sonstiger Hauskost, gerade wie er es liebte, ausgestattet war. Es bedurfte keiner weiteren Einladung; Dr. Flaccus setzte sich und begann sein Werk.

»Na, wie stehts drüben, Doktor?« fragte Heinrich Groß, indem er den Kopf nach der Hofseite schwenkte.

»Bedenklich, höchst bedenklich!«

»Was fehlt ihr denn eigentlich?«

»Meine Diagnose lautet auf morbus simulatus.«

»Was ist das?«

»Eine sehr gefährliche Krankheit.«

»So! Dann schmeckt es ihr nicht mehr?«

»Doch, doch. Das ist dieser Krankheit eigentümlich, daß es den damit Behafteten vortrefflich schmeckt und wohl bekommt.«

»Sonderbare Krankheit. Also wirklich gefährlich?«

»Sehr, – weniger dem Patienten selbst als den Angehörigen.«

»Ich fange an, zu begreifen!« meinte Groß heiter.

»Im Vertrauen, lieber Freund!« sagte der Doktor, indem er den Weinkrug am Henkel faßte und das Schoppenglas wieder vollschenkte, es fehlt ihr im Grunde gar nichts. Sie ist so gesund wie eine Eichel und kann noch euch und Frau Juliane überleben.«

»Potz Donner?« fuhr es Groß heraus, und er brach eine Walnuß auf, die er gern zum Wein knusperte.

»Warum will sie nur krank sein, und warum verschreiben sie ihr das Apothekerzeug?«

»Verschreibe ich ihr nichts, so wendet sie sich an den Schäfer. So mag sie denn manches unschädliche Säftlein verschlucken, das ihr wenigstens Bauchgrimmen macht. Sie will ja weiter nichts, als wie eine Kranke behandelt sein und jede Schleckerei verlangen dürfen. Was sie verzehrt, bekommt sonst niemand, denkt sie. Aber sagt nur der Frau Juliane nichts von alldem.«

»Ah, pah! Ich werde was sagen! Fällt mir nicht ein!« versicherte Groß. »Meine Frau würde es auch nicht glauben und argwöhnen, ich mißgönne der Schwieger etwas. Aber Sie, Doktor, widerstrebt nicht Ihrem Gewissen solcher Unterschleif?«

»Nicht sehr, ich kurier' die Leut nach meiner Art, wie der Doktor Eisenbart, mache Tote gesund und Lebendige krank, wenn sie Lust dazu haben. Diese da leidet aber wirklich an einem großen Übel.«

»Na, wieso?«

»Sie hat die Drachensucht.«

»Ha, ha! Versteh'!«

»Sie legt sich ins Bett, um euch zu ärgern.«

»Sie ärgert mich nicht. Auf Ihre Gesundheit, Doktor!« Und damit trank Groß und brachte es seinem Gaste zu.

»Habt Ihr schon vom Fafnir gehört, der als Drache auf seinem Hort lag?« fragte der Doktor, nachdem er getrunken hatte.

»Mein Lebtag' nicht.«

»Nun, ein ähnlicher Fall scheint hier vorzuliegen. Aber, nun im Ernst, Freund Groß, was ist denn mit meinem lieben Schatz, eurer Susel? Sie gefällt mir nicht.«

Der Vater verfärbte sich. Es war ihm auch eine starke Veränderung in dem Wesen seines Kindes aufgefallen. Sie war grämlich, stets zum Weinen aufgelegt, bleich im Gesicht. Allein, er hatte sich weiter keine Sorge gemacht und geschlossen, es käme vom Wachsen. Dabei zeigte sich eine täglich wachsende Menschenscheu; sie saß am liebsten allein an ihrem Rädchen oder bei ihrem Strickzeug. Mit beklommenem Herzen sah der Vater den Doktor an, indes auch Juliane eintrat und ebenfalls geängstigt den Andeutungen des Hausarztes folgte.

»Großer Gott«, rief sie, die Hände faltend. »Sie wird mir doch nicht kränkeln?«

»Sie kümmert«, drückte sich Doktor Flaccus aus. »Ist sie denn streng gehalten oder in ihren Wünschen eingeschränkt?«

Vater und Mutter sahen einander fragend an und antworteten gleichzeitig, daß sie nicht wüßten.

»Daß sie nicht überbürdet ist, glaube ich gern«, fuhr der Doktor fort. »Ich fürchte im Gegenteil, man mutet ihr zu wenig zu –«

»Wär es denn schon zum Heiraten Zeit?« fragte endlich die Mutter.

»Gott bewahre!« verneinte der Doktor bestimmt, fügte dann aber ernst mahnend hinzu: »Laßt sie mehr zu ihresgleichen, das gibt Lebensfreude. Und dann hinaus an die frische Luft! Laßt sie mit Frühjahrsbeginn ins Feld. Nichts besseres als Feldluft. Seht die Mägde an, die Nettl, die strotzt von Gesundheit. Also fleißig mit ins Feld, täglich. Das ist das Heilsamste.«

Und Heinrich Groß sagte damals und noch öfters nachdenklich zu Frau Juliane: »Ich glaube, der Doktor hat recht!«


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