August Becker
Die Nonnensusel
August Becker

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9

Im Lenz

Es sang eine junge Magd, die mit der Sichel und dem Grastuch unterm Arm auf dem Wiesenpfad vom Dorf her in die Wiesen ging. Und da waren noch zwei Mädchen auf der Bleiche; die eine lief, hochgeschürzt, mit der Gießkanne wie eine Bachstelze die glänzenden Linnenstreifen entlang.

»Natürlich ist's die Nettl, die so singt«, sagt das schlanke Mädchen. »Die hat keine Sorgen.«

»Hast du Sorgen, Susel?« fragte die andere lachend.

»Warum denn nicht! Allerhand Kummer!« war die seufzende Antwort. »Das ist Erdenlos!« Dann aber lachte sie über ihre altkluge Weisheit. Sie spritze die Gießkanne vollends aus und horchte dem Gesang:

Und als er wieder nach Hause kam,
Herzliebste stand unter der Tür,
»Gott grüß dich, du hübsche, du feine,
Jujah, du feine,
Von Herzen gefallest du mir!«

»Susel! Susel!« rief Nettl, ihr Lied unterbrechend.

»Was denn?«

»Acht geben! Münster ist oben!« schrie Nettl, und dann sang sie weiter:

»Was brauch ich denn dir zu gefallen,
Ich hab' ja schon längst einen Mann;
Dazu einen hübschen und feinen,
Jujah, gar feinen,
Der allzeit gefallen mir kann.«

Acht geben? Münster ist oben? Was sollte denn das heißen und bedeuten? fragten die Mädchen einander, bis Gretel plötzlich rief: »Susel, wer kommt da von der Stadt über den Kirchberg?«

Susel erschrak so sehr, daß ihr beinah die Gießkanne entfiel. Denn in der Tat, dort kam einer mit eiligen Schritten den Hohlweg herunter und gerade auf die Wiesenbleiche zu.

»Ich geh«, sagte die Gretel schalkhaft. »Der wird dir die Sorgen schon vertreiben!« Lachend lief sie davon, den Bach entlang, während Susel in ihrer Verwirrung sich zu dem Linnen niederbeugte, um ihr Erröten zu verbergen.

»Das ist schön, Susel«, rief eine ihr wohlbekannte Stimme, »daß ich dich treffe; ich gehe eigens des Weges, um dich wieder einmal zu sehen.«

»Die Sehnsucht wird nicht so groß gewesen sein«, erwiderte sie befangen und verschüchtert.

»Doch! Meinst du, ich denke nicht an dich, Susel?«

»Weiß ja nicht«, sagte sie sanft.

»Hast du denn auch manchmal an mich gedacht, Susel?«

»So vergeßlich ist man ja nicht!«

In dieser Weise lief noch eine Weile der Faden des Gesprächs hin. Während er ihr nun mitteilte, daß er vorziehe, in Bergzabern vollends auszulernen, bevor er in die Fremde gehe, neigte sie sich den bleichenden Linnenstreifen zu, als vermeide sie ihn anzusehen. Schorsch hatte sich ebenfalls gebückt und pflückte eine der goldenen Butterblumen, die er ihr nach Kinderart ans Kinn hielt. Sie richtete sich auf; er aber ließ nicht nach, hielt noch immer die Blume an ihr Kinn.

»Eure Butter ist gut!« sagte er dann, wie Kinder tun, wenn sie auf diese Weise die Butter prüfen.

»Du hast sie ja noch nicht versucht«, meinte Susel lachend.

»Darf ich kommen und sie einmal versuchen?« fragte er.

Sie wußte nicht, ob sie bejahen dürfe; sie wagte es nicht.

»Ich sehe schon, ich darf nicht«, sagte er. »Ich muß mich anderswo umsehen. Zudem kommt dort deine Mutter und – da drüben gibt's etwas!« setzte er hinzu. Er berührte rasch ihre Hand und eilte wieder nach dem jenseits der Wiesen hinführenden Weg zurück, wo sich Menschen ansammelten, während die unverkennbare Gestalt von Juliane Groß den Pfad längs des Wiesengrabens daherkam.

So hatte er sich nicht unfreundlich, mehr scherzhaft empfohlen; allein dem Mädchen war es doch, als ob sich die Frühlingssonne hinter eine finstere Wolke verhüllte, als jetzt ihre Mutter zu ihr trat, fragend, wer der junge Mann gewesen sei. Der Wahrheit gemäß antwortete Susel: es sei einer der Konfirmationsgenossen von Münster. – Und was er denn da suche! – Er sei nur vorübergekommen, bemerkte Susel. – Mit unnötig scheinender Strenge meinte die Mutter, sie hätte ihn auch vorüber lassen sollen. Sie sah dann nach, ob die Linnenstreifen begossen seien, und fand alles, nur vielleicht das Gemüt ihres Kindes nicht, in Ordnung.

Indes blieben die Leute, die ins Feld gingen oder von ihm kamen, an einer Stelle halten, wo ein älterer Mann und sein Bub um eine Kuh bemüht waren, die, allein an einen leichten Dungkarren gespannt, nicht mehr weiter wollte. Stöhnend lehnte sie an einem Nußbaum am Wegrand, während der Mann fluchte, sein Bub heulte.

»Was gibt's denn da?« fragte Heinrich Groß, der mit einem Häckchen auf der Schulter des Weges kam und den armen Weber vom Kirchberg erkannte. Irgend jemand sagte, die Frau des Mannes liege krank, die Kuh sei im Tausch gegen eine andere genommen, wolle aber nicht weiter. »Wie kann man ein solches Tier eintauschen, das keinen Tropfen Milch mehr gibt?« fragte Groß, und als jemand einwarf, sie habe doch keine Altersringe an den Hörnern, fügte er hinzu: »Die können abgefeilt sein. Das Horn wird gegen die Spitze hin immer dicker. Kurz, es ist eine alte Kuh.«

»Und nun geht sie mir zugrunde!« schrie der Weber verzweifelnd.

»Die Kuh ist aufgebläht, hat nassen Klee gefressen!« sagte Groß, seine Taschen befühlend.

»Wo soll sie denn Klee herkriegen?« schrie der Weber.

»Ja, sie hat Klee gefressen«, bestätigte heulend der Bube, »auf Silbernagels Kleeacker da vorn.«

»Also auf fremdem Acker. Wo ist der Feldschütz?« fragte Groß. »Ohne Protokoll geht das nicht ab. Wer hat ein scharfes Messer bei sich?«

»So, auch noch!« schrie der arme Weber und hieb mit dem Peitschenstiel auf seinen heulenden Buben ein, während ein junger Fremder vortrat und sein neues Taschenmesser hinreichte, das Groß prüfend in der Faust hielt. Der Junge heulte um seine »Bläß«, der Weber sagte erblassend: »Ihr steht mir für die Kuh, Henrich Groß.«

»Versteht sich!« erwiderte der und stieß im nächsten Augenblick das Messer dem stöhnenden Tiere bis ans Heft an einer bestimmten Stelle in den aufgetriebenen Wanst, drehte die Klinge in der Wunde und sagte ruhig: »Es ist hohe Zeit, daß die Luft heraus kommt. Wäre es ein junges Tier, so könnte man das Fleisch gut anbringen. Aber so!«

Das Tier stöhnte erleichtert, während einige Männer es stützten und Groß nun wieder das Messer wendete. Dann hielt er eine Frau von Oberhofen an, die mit unverkaufter Butter vom städtischen Wochenmarkt heimkehrte, und bestrich die Wunde dick, indem er das Messer dem jungen Manne – es war Schorsch – mit Dank zurückreichte. Hierauf hieß er den Burschen sofort zum Apotheker Grohé in die Stadt laufen, um auf seine Rechnung eine Flasche Salmiakgeist, und was sonst heilsam in solchen Fällen, zu holen.

Die ausgespannte Kuh schritt mit sichtlicher Linderung langsam weiter, während Groß dem armen Manne noch einige Verhaltungsmaßregeln gab. »Schickt zu uns um die nötige Milch, Weber, und besucht mich einmal. Die Anzeige wegen der Kuh im fremden Klee wird gemacht. Ordnung muß sein!«

Er warf dem jungen Fremden noch einen grüßenden Blick zu und ging, mit dem Häckchen auf der Schulter, seines Wegs.

*

Die schöne Jahreszeit schritt immer weiter vor. Wenn die Pferde stark beschäftigt waren und sich keine Zeit fand, mit dem Wagen Grünfutter zu holen, mußte Nettl gleich andern Mägden den jungen Klee in hoch aufgeschichteter Tracht, in sogenannten »Loggen« auf dem Kopf heimtragen. Und eine junge Pfälzerin, hoch und stark, mit so schwerer Kopflast, deren Gleichgewicht sie mit zurückfallenden Ärmeln stützt, über die Feldhöhe heimkehren zu sehen, bildet eine der schönsten Staffagen der fruchtreichen Landschaft.

Selbst das Töchterchen des Hauses ging damals fleißig mit hinaus ins Feld, um beim »Grasen« zu helfen, mit der Sichel den süßen Klee zu schneiden und ebenfalls ihren »Loggen« heimzutragen. Das war gesund und sie blühte dabei sichtlich auf. Ohne Müdigkeit oder Langeweile tat sie ihre Arbeit, »draußen in der Au«, von wo man nach dem Münsterer Weinberg hinüber sah. Nettl schwatzte von ihrer Dienstzeit in Münster, wie lustig es in den Kunkelstuben und in der Ruhepause auf der Gasse sei, vom Advent, wenn Christkind und Pelznickel umgehen, vom Ostermarkt, der Kirchweih zu Barthelmä und von jener im Stift zu Michaeli. So verging die Zeit; der Klee war geschnitten und in mitgebrachten Grastüchern aufgeschichtet, für Nettl ein »Loggen« so hoch als sie selbst, für Susel eine kleinere Last. Aber wer half sie auf den Scheitel heben? Weit und breit war niemand zu sehen. Da kam in der Ferne jemand auf der Straße her über die Brücke im Horbacher Wiesengrund. Nettl rief und winkte. Es wir Schorsch, der nach Bergzabern zurückkehrte und nun eilig herbeikam.

»Willst du so gut sein, uns die Loggen aufzuhelfen?«

»Recht gern!« rief er schon aus einiger Entfernung. »Da komm ich ja gerade recht. Aber wie halten wir's?«

»Das versteht sich doch von selber«, sagte Nettl lachend. »Ihr beide helft mir meinen Loggen auf, dann hilft Schorsch allein der Susel.«

Und so geschah es. Nettls Last war schwer, aber sie stemmte sich kräftig entgegen und hatte sie nun hoch zu Häupten, worauf sie mit lachendem Gesicht auf Susel wartete.

»Was krieg' ich?« fragte Schorsch das Mädchen, »wenn ich dir aufhelfe?«

»Was willst du denn?«

»Ein Bäckelchen«, sagte er, und meinte einen Kuß.

»Nein!«

»Macht, macht!« sagte Nettl, zur Eile mahnend. »Die Kühe brüllen daheim nach Futter.«

So griff denn Schorsch zu, und auch das Töchterchen des Hauses hielt ihre leichtere Last jetzt ebenfalls im Gleichgewicht auf dem Kopf. In demselben Augenblick beugte sich Schorsch unter die Kleelast und küßte das Mädchen auf beide Wangen.

»Aber nein!« sagte Susel vorwurfsvoll mit hochrotem Antlitz. »So was, wenn man sich nicht wehren kann!«

Nettl lachte, daß sie nahezu ihre mächtige Kleelast abwarf. Auch Schorsch nahm sich das Schelten nicht allzusehr zu Herzen und meinte, was man nicht freiwillig erhalte, nehme man sich gelegentlich. Er verließ die Straße und ging neben beiden her auf dem Weg, der unten am stillen Dorf vorüberführt. Susel grollte, gab nur kurze, einsilbige Antworten. Sie schämte sich, wußte nicht wohin mit ihren Augen. Zum Glück war die Strecke nicht weit. Während Schorsch fröhlich pfeifend am Dorf vorüber seinen Weg nach der Stadt nahm, gelangten die Kleeträgerinnen durch den Garten in die Scheuer, wo beide ihre Last abwarfen. Susel grollte noch immer mit unmutiger Miene. Nettl dagegen warf sich in den Klee und lachte.

»Na«, rief sie, »was hat er denn Arges getan? Ein Bäckelchen hat er dir gegeben!«

»Zwei!« berichtigte Susel verdrießlich, worüber Nettl noch ausgelassener lachte. »Das ist aber was!« sagte sie ein über das andere Mal.

»So, ist das nichts?« entgegnete das junge Mädchen. »Ich geh' nicht mehr in den Klee mit dir!«

»Na, wollen wir sehen!« sagte Nettl, sich aufraffend, während sie einige blühende Kleestengel, die noch in ihren schwarzen Haaren hingen, wegstrich und sich singend in den Stall begab:

»Es ging ein Jäger jagen
Ins Fichten- und Tannenholz,
Begegnet ihm auf der Straßen
Ein Mädchen, das war stolz.
Wohin, wohin du Stolze,
Wohin steht dir dein Sinn?«

Wenige Wochen darauf ging Schorsch, der jetzt in Bergzabern auslernte, wieder eines Montags in die Stadt zurück, durch den Höheneinschnitt, wo das stille Dorf in Sicht kommt, als aus der Wingertsfurche neben der Straße geworfen wurde. Gleichzeitig vernahm er ein unterdrücktes Kichern, und so stürmte er ahnungsvoll mit geheuchelter Entrüstung in die Weinlaube, um den Frevel zu bestrafen. Dort fand er, wie vorauszusehen, wieder Nettl, die sich vor Lachen schüttelte, während Susanne Groß in größter Verlegenheit und fast bestürzt an der Stelle verharrte, wo sie schon im frühesten Lenz beim Rebenlesen geholfen hatte und wo sie nun mit der Magd die Wingertsfurche ausgrasen wollte. Nun mußte die Unschuldige leiden, zur Strafe für den Mutwillen der andern abgeküßt zu werden, und all ihr Widerspruch half ihr nichts.

Diesmal ging Susel, nachdem Schorsch wieder seiner Wege geschritten war, heim und ließ Nettl allein; sie schämte sich zu sehr; auch brauchte es niemand zu wissen.

Indes kam von den Ereignissen des Tages dennoch etwas zu Ohren der Eltern. Stoffel, der mit einem Pferd und einem Karren hinausgefahren war, um das Gras heimzuholen, hatte den ihm wohlbekannten jungen Mann aus dem Wingert kommen sehen und fragte ihn nun beim Vorüberkommen, was er da zu suchen habe. Darauf erhielt er die Antwort, daß ihn das nur wenig angehe. Nun meinte Stoffel, er wolle es ihm austreiben, und er solle sich nicht mausig machen, sonst nehme er ihn bei den Ohren.

»Du mich an den Ohren nehmen?« hatte Schorsch höhnisch geantwortet, indem er, des weiteren gewärtig, stehenblieb.

Stoffel fuhr weiter, klatschte dann aber, als er weit genug war, so fürchterlich mit seiner Peitsche in der Richtung hin, daß mehrere Leute im Felde aufmerksam geworden waren. Und so hatte auch der Vater davon gehört.

»Das muß ich doch erst untersuchen!« sagte er zu Susel. »Ruf' mir den Stoffel einmal herein, mein Kind!« Mit diesen Worten setzte er sich in den Lehnstuhl und wartete, bis sein Stiefsohn kam.

Der gab ziemlich mürrisch Red' und Antwort; allein sein Stiefvater war nicht der Mann, der sich Unziemliches bieten ließ, und er gebot, den Hergang zu erzählen. Stoffel verhehlte nicht seine Meinung, daß der junge Mensch um das Susele schleiche.

»Mach' keine Flausen«, sagte Heinrich Groß. »Er ist mit ihr konfirmiert worden, sie kennen sich, sie sprechen miteinander. Wer will etwas darin sehen? Und mit welchem Recht willst du jemand die offene Landstraße wehren. Haben denn die Münsterer nicht recht, wenn sie euch als rüpelhafte Bauern über die Achseln ansehen?«

Da mischte sich die Mutter drein, und Stoffel konnte mit etwas zurechtgestutztem Kopf abtreten.

»Stoffel hat so unrecht nicht!« sagte sie. »Ich hab' den jungen Menschen schon neulich an der Bleiche mit ihr getroffen, und ich glaube, der Nissenkopf läuft ihr nach.«

»Das hat ja wenig auf sich, Juliane«, sagte der Vater. »Übrigens scheint mir der junge Mensch so uneben nicht; ich habe im Grunde nicht sehr viel dagegen, wenn unser Susele ihre Augen auf einen von Münster wirft. Man hätt' dann seine Ansprache drüben und – auf Geld oder Gut braucht es ihr gottlob nicht allzuviel anzukommen.«

»Wie du redest, Henrich!« erwiderte unzufrieden die Mutter. »Davon kann ja nie die Rede sein. Darüber sind ja schon seit langem Bestimmungen getroffen.«

Soviel hatte das Töchterlein aufgeschnappt. Bestimmungen waren über sie getroffen? Was für Bestimmungen? Mit dem scheelen Hannes? Nein, Mutter, daraus wird nichts! dachte Susel. Im Innersten empfand sie dabei warmen Dank für des Vaters wohlwollende Gesinnung, die aus den wenigen Worten von ihm erhellte. Am Vater hatte sie also noch eine Stütze, wenn es einst zur Entscheidung kommen sollte. Sie hatte ja immer empfunden, wie gut er es mit ihr meinte, hatte sich stets besonders zu ihm hingezogen gefühlt. Nun wußte sie, daß, wo es sich einst um das Glück ihres Lebens handelte, ihr lieber Vater, an dem sie von nun an noch inniger hing, keine anderen Rücksichten gelten und alles darauf ankommen ließ, ihr Wohlergehen mit dem Zug ihres Herzens in Einklang zu bringen. – Aber, es war ja noch lange dahin.


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