August Becker
Die Nonnensusel
August Becker

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16

Es geht um

»Hol' doch ein Glas Wein!« sagte Juliane zu ihrer Tochter. »Sie, Herr Kontrolleur, kennen ja den Herrn Doktor und werden doch nicht, ohne etwas genossen zu haben, fortgehen! Wollen die Herren einstweilen Platz nehmen?« Und während der Kontrolleur mit dem Doktor in der Tat der Einladung Folge leistete, eilte Susel mit dem Kellerschlüssel und einer reingeschwenkten Weinflasche hinunter, um am messingnen »Hahnen« des Zweifuderfasses einen feinen, gastlichen Trunk zu zapfen, indes auch die Mutter, mit Messer und Teller klappernd, sich an der Schublade des Eckschrankes zu schaffen machte und dann ein- und ausging, um etwas zum »Knuspern« für ihre Gäste zu besorgen, die nun auf eine kurze Weile allein in der Stube einander gegenübersaßen.

»Merkwürdig!« murmelte der Kontrolleur, während er wieder starr in die Ecke sah, wo der Uhrkasten stand, als ob er sich überzeugen wolle, wieviel Uhr es sei. »Sehr merkwürdig!«

Doktor Flax sah ihn an. Da er aber weder eine besondere Verwirrung noch Verlegenheit an seinem Gegenüber bemerkte, sondern nur eine fast erstarrende Verwunderung, die mit fortgesetztem Kopfzerbrechen über einen vorgekommenen befremdlichen Fall verbunden schien, fragte er: »Sie haben wohl unerwartet eine tiefsinnige Entdeckung gemacht, Herr Kontrolleur? He? Oder sollten Sie etwa mit einem Korbe bedacht worden sein?«

»Korb? Nein, von einem Korb kann doch im Grunde nicht die Rede sein. Ein wirklicher Korb war es nicht.«

»Bin überzeugt, kein Kartoffel- oder Waschkorb, bin überzeugt«, bemerkte Doktor Flax. »Drum getrost, lieber Kontrolleur, getrost – Ihren Freunden, dem Provisor und dem Schreiber, ging's auch nicht besser. Aber konnten Sie nicht vorher wissen, daß Sie abfahren? Na, nur nicht gleich aufgebraust! Ein anständiger junger, Mann, ein feiner junger Mann, ein gebildeter junger Mann, wie Sie...«

Und der Kontrolleur begann, beschwichtigt, sich das Kinn zu streicheln und den Zimmerboden zu betrachten, während der Doktor fortfuhr: »Ein angesehener junger Mann, ein hübscher junger Mann...«

»Bitte recht sehr, Herr Doktor! Bitte!«

»Ein junger Mann mit den schönsten Aussichten, aber ein Beamter – und gar von drüben herüber! Sie können voll Gold hängen, und kämen doch nicht an. Wissen Sie, wie man euch Altbayern – Sie sind aus dem Bayreuthschen, ich weiß, weiß, gleichviel – man hat euch alle auf dem Strich!«

»Aber warum denn?«

»Warum! Fragen Sie lang, warum! Man sieht alle Stellen mit euch besetzt, man verabscheut die Maut, man stellt sich in Opposition, man jubelt der Linken im Landtag zu, kurz, man regt sich auf. In Zweibrücken und sonst gärt's unter Bürgern und Beamten.

»Ah«, sagte der Kontrolleur, »was soll denn gären?«

»Es gärt«, versicherte Doktor Flax. »Meinen Sie, der Siebenpfeiffer gibt Ruh? Da kennen Sie ihn schlecht. Geben Sie acht, ob's nicht bald losgeht wie voriges Jahr in Paris, Brüssel, Braunschweig, Warschau. Man hat die rote Kappe schon in der Tasche. Und wenn die Freiheitsbäume in die Höhe wachsen, na! Ich möcht' Ihren Kopf nicht auf meinen Schultern sitzen haben. Fühlen Sie ihn nicht wackeln? He? Wir wohnen hier in einer heißen Ecke, müssen Sie wissen, auf der Hackmesserseite. Nehmen Sie sich in acht, Herr Kontrolleur. Und wenn die Burschen von Oberhofen hören, was Sie herführt, na! Die Hiebe! In Ihrer Haut möcht' ich nicht stecken!«

Dem Kontrolleur Kannhahn war es nicht unbekannt, wie wohlfeil in manchen Orten Prügel für fremde Freier sind; ebensowenig konnte er übersehen, daß die Aufregung im Lande durch die schriftstellerische Tätigkeit des abgesetzten Landkommissärs Siebenpfeiffer sehr genährt wurde. Aber daß die Stimmung so weit vorgeschritten sei, hätte er nicht geglaubt.

Nicht ohne einige Beklommenheit nahm er, als die Frauen des Hauses wieder zurückkamen, teil an dem zubereiteten kleinen Zwischenmahl.

»Langen Sie zu! Machen Sie keine Umstände! Nehmen Sie fürlieb! Zum Wein kann man alsfort knuspern!«

»Aber, Frau Groß, Sie greifen sich zu sehr an«, bemerkte der Kontrolleur, den gedeckten Tisch überblickend, während er nach einem rotwangigen Apfel griff.

»Ach, derentwegen«, war die Antwort. »Von den Kohläpfeln da gibt's dieses Jahr so viel, daß wir die Specksäue damit füttern können. Also genieren Sie sich nicht!«

So redete Juliane zu und wollte eine Artigkeit damit sagen, indem sie ihr Opfer so gering darstellte, als es ihr erschien. Dennoch fühlte sich der abgewiesene Freier etwas beengt, nahm am weiteren Gespräch wenig Anteil, und als er nur einmal mit den gefüllten Gläsern angestoßen und die erste Flasche leer war, ergriff er die Gelegenheit, sich zu empfehlen und auf den Rückweg zu begeben.

»Das hat Hitz' gekostet, den abzufertigen«, meinte indes Juliane. »Er hat gemeint, er habe das bare Geld schon im Sack. Und wie Susel Nein sagt, das Gesicht! So lang!« Und Juliane lachte wieder.

»Was fällt dem Menschen auch ein!« bemerkte Doktor Flax, während er sich ein Stück Schinken auf den Teller legte. »Sie hätten ihm gleich sagen sollen: nix da!«

»Was wollt ich denn mit ihm machen?« sagte Juliane. »Ich werd' sagen: nix da! Nehmen Sie doch Ihr bißchen Verstand zusammen, Doktor, es ist ja auch kein Verbrechen, – einer um den andern kriegt seinen Korb, aber wie's sich schickt, nicht unartig. Man stößt doch den Leuten nicht vor den Kopf. Der Gang ist ihm ohnehin schwer genug geworden.«

»Ja, das Herz mag ihm geklopft haben.«

»Ob's ihm geklopft hat! Er hat lang genug gebraucht, bis er das rechte Wort gefunden hat unter vier Augen, – als ob er fürchte, drin im Alkoven stecke jemand.«

»Apropos«, meinte der Doktor, mit dem Messer über die Schulter deutend, »mir ist vorhin auch gewesen, als niese jemand drinnen in ein Bettkissen. Fast hätt' ich Prosit gerufen!«

»Ah, die Katz'! Wer soll denn niesen?« fragte Juliane. »Machen Sie nur keine Sachen, Doktor, und glauben Sie nicht auch, daß sich alte Weiber in Katzen verwandeln können, oder daß es umgeht im Haus. Das Gerede, das die Bawel, unsere Magd, führt, wird mir ohnehin zu viel. Sie werden doch nicht wirklich glauben, daß meine Schwieger –«

»Bst! Ich glaub' gar nichts«, fiel der Doktor dazwischen, indem er sich nochmals vorsichtig umsah und dann einschenkte. »Wollen wir eins trinken auf den Schreck.« Auf deren Frage, wie ihm der Wein schmecke, erwiderte er, der lasse sich trinken, und fügte hinzu: »Und nun tun Sie mir den Gefallen: warum haben Sie mich für heute herbestellt?«

»Das hat schon seinen Grund, Herr Doktor«, meinte Juliane, mit der Hand über ihre Schürze fahrend, als ob sie eine wichtige Mitteilung zu machen habe, worauf sie eine Pause eintreten ließ, welche die im Hause wartende Stille merkbar machte. Nur eine Henne gackerte irgendwo draußen im Hof, triumphierend über ein gelegtes Ei, wie ein Dichterling der Welt seine neueste Tat verkündet. »Weil wir jetzt ganz unter uns sind, Herr Doktor Flax, so will ich Ihnen einmal reinen Wein einschenken. Ich hab' schon lang danach getrachtet, einem guten Freund – und Sie sind es ja schon meinem Mann selig gewesen – als alleinstehende Witfrau mein Herz auszuschütten über meine häuslichen Angelegenheiten. Sie werden selber wissen, wie viel Freier meine Susel schon abgewiesen hat. Sie könnte jetzt auch schon Frau Pfarrerin sein, wenn sie gewollt hätte; dem Vikar Heil, der vor zwei Jahren hier einmal gepredigt hat, wär' viel daran gelegen gewesen, wenn sich meine Tochter hätte entschließen können. Aber wir haben es ja anders vor. Von Kind auf ist meine Susel schon versprochen...«

»Dem scheelen Hannes«, warf der Doktor ein.

»Vetter Balzers Hannes, die schönste Partie im ganzen Ort. Aber mir scheint manchmal, sie hat einen Greuel...«

»Vor dem scheelen Hannes? Das verüble ich ihr nicht«, bemerkte der Doktor, seine Schinkenstücke zerschneidend. »Ein holder Geselle ist er nicht.«

»Hold oder nicht hold, er ist reich, der reichste weit und breit, ist brav, kriegt seines Vaters schönes Haus, – was hat sie an ihm auszusetzen? Sie wird ihn schon nehmen, davor ist mir nicht bange. Was meinen Stoffel betrifft, so hätt' ich gewünscht, Vetter Jokebs Gretel soll meine Sohnsfrau werden. Aber es hat sich nicht machen wollen; sie hat einen anderen im Kopf gehabt, die ›Dretel‹; ihr Vater aber hat gesagt: Wart' ich ›bedretel‹ dich! – und hat sie nach Mörzheim verheiratet, gut verheiratet, das erleidet keinen Zweifel, und sie ist auch jetzt ganz zufrieden. Hätt' sie meinen Stoffel genommen, na, so hätten die jungen Leute, bis die Großmutter stirbt, im Oberstock wohnen und die Arbeit tun können. Ich selber geb', so lange ich lebe, das Heft nicht aus der Hand und setz' mich nicht ins Altenteil, das wär' mir das rechte!« fügte Juliane hinzu, ohne zu beachten, daß sich der Vorhang des Verschlags etwas, wenn auch nur leise, bewegte. »Soweit bin ich denn auch mit der Großmutter und dem Stoffel für jetzt einverstanden, daß, weil meine Susel doch in ein ander' Haus heiratet, Stoffel mein Haus, wenn ich einmal nicht mehr bin, übernimmt und den Anteil seiner Schwestern herauszahlt. Da ist jetzt, weil auch die Haupternte vorüber ist, auf morgen schon Brautschau angesetzt. Vor acht Tagen sind wir selber in Niederhorbach auf dem Beschau gewesen. Die Leute haben mir auch soweit nicht übel gefallen, Wohlstand ist ja da, nur zwei Schwestern, aber die, um die es sich für den Stoffel handelt, will mir nicht recht in mein Hauswesen passen. Heiratet mein Stoffel in ihr Haus, na, so hätt's weiter keinen Anstand; will aber sie in mein Haus, so hat das seine Naupen. Und morgen sollen wir's hören, da wollen sie auf Beschau kommen.«

»Lassen Sie sie kommen«, bemerkte Doktor Flax, das gefüllte Glas an die Lippen führend.

»Sie haben gut reden, Doktor. Wenn nur erst die Sache mit meiner Susel im reinen wär', – aber so –«

»Was meint Susel?«

»Sie heirate überhaupt noch nicht. Sie habe einen Abscheu« –

»Vor dem scheelen Hannes?«

»Vor dem Heiraten überhaupt – für jetzt noch. Wenn ich nur wüßte, ob nichts anderes dahinter steckt.«

»Eine geheime Neigung etwa?«

»Gerade das!« sagte bedeutsam nickend Juliane.

»Haben Sie dergleichen gemerkt?«

»Noch gar nichts. Ich vermut' nur und möcht' doch im reinen sein.«

»Sie meinen, wenn es mit Hannes durchaus nichts werden sollte und Susel durchaus einen andern wollte, der Ihnen als Tochtermann im Hause recht sein könnte, so hätten Sie am Ende auch nichts dagegen, und Stoffel müßte dann hinaus heiraten.«

»Im äußersten Fall ungefähr so«, sagte Juliane. »Aber er müßte sehr reich sein, so reich wie Hannes sein, mir überhaupt auch sonst anstehen. Dann, wenn Hannes zurücktreten müßte, wär' es mir freilich lieb, meiner Susel und ihrem Mann das Haus zu hinterlassen, wenn ich einmal die Augen zudrücke. – Sie können sich ja denken, Herr Doktor. Aber ich weiß nicht, was sie hat, was ihr im Kopf herumgeht. Seit ihr Vater tot ist, mein Henrich – Gott hab' ihn selig; es sind jetzt vier Jahre her, und doch mein' ich, es sei gestern gewesen; ich kann ihn nicht vergessen« – Juliane drückte einen Schürzenzipfel an die Augen – »seitdem ist sie wie umgewandelt. Sie ist auch nach dem Trauerjahr zu keiner Tanzmusik, auf keine Kirchweih gegangen.«

»Kann sie denn nicht tanzen?«

»O ganz gut. Das lernen sie schon als kleine Mädeln voneinander.«

»Da sollten Sie sie doch auf die Kirchweihen lassen. Am Sonntag ist die von Münster.«

»Dahin nicht. Ein für alle Mal nicht. Morgen kann sie meinetwegen nach Gleishorbach, wenn sie will. Aber man hat sie kaum mehr lachen hören seit Jahren, – Sie wissen es ja. Auch mir hat lange kein Essen und Trinken mehr geschmeckt, doch zuletzt rafft man sich auf; man kann doch nicht wie eine Nonne leben. Es ist ja nicht einmal gesund.«

»Natürlich«, bestätigte der Doktor, indem er sein Glas austrank, es aufs neue füllte und dann wieder in den schönen Schinken einhieb. »Hat Susel eine Ahnung von der Affäre mit jener Nettl?«

»Nicht im geringsten. Ins Gesicht haben's ihr die Leut' nicht zu sagen getraut, und nur einmal hat die Bas Marlis, das alte Tier, ein Wort gelegentlich fallen lassen, das ich aber meinem Kind wieder ausgeredet habe. Die Sache ist jetzt ziemlich vergessen, und Susel kann sich gar nicht denken, daß ihr Vater, mein Henrich, mir das hat antun können.«

»Nehmen Sie es mir nicht übel, Frau Juliane, Sie waren selbst schuld daran.«

»Ich?« fuhr sie auf.

»Schon gut. Sie wissen es selbst.«

»Die Alte hat an mir gehetzt«, entschuldigte sich Juliane. »Mein Herz und meine Seele hat an nichts Böses gedacht, aber meine Schwieger hat keine Ruhe gegeben, bis es soweit gekommen ist.«

»Ich geb' es zu, sie ist von Grund aus« – und der Doktor sah sich um, als hätten die Wände Ohren – »ein durchtrieben altes Fell. Ich geb' es zu.«

»Sie lassen aber auch kein gutes Haar an ihr«, meinte Juliane lachend.

»Abgemacht!« sprach der Doktor ernst. Er konnte eine gewisse ahnungsvolle Voraussetzung nicht verwinden, die Unterredung werde dennoch belauscht, und wäre es nur von den Geistern des Hauses, von Heinzelmännchen, die sich hinter den Vorhängen des Alkovens in den Winkeln des Verschlages hinter dem großen Flügelschrank heimlich regten oder bargen, um dann alles der Schwiegermutter zu hinterbringen. Sehr bezeichnend, die Alte wurde immer munterer, je mehr sich Susels Stimmung trübte. »Eins fiel mir auf indes: daß Susel keineswegs auch die Freude an der Arbeit und die gewohnte Umsicht eingebüßt hat.«

»Das hat seine Richtigkeit«, stimmte Juliane eifrig zu. »Sie ersetzt in vielem ihren Vater, und unsere Leute folgen ihr gern aufs Wort. Dazu kennt sie das Wesen in Haus und Küche aus dem ff!«

»Bekannt«, bestätigte der Doktor. »Sie hat ein vortreffliches Wesen.«

»Nur zu – zu – ich weiß nicht, wie ich sagen soll, zu gefühlsam«, äußerte die Mutter. »So ganz anders, als unsereins. Sie denkt anders, sieht alles anders an. Im Frühjahr, wenn die Saat emporschießt und die Bäume blühen, im Spätjahr, wenn der Wind über die Stoppeln geht; na ja, da schauert's auch unsereinem an, daß wieder ein Jahr hin ist. Aber, es wird so im Oktober vorigen Jahres gewesen sein, sitzt sie dahinten im Grasgarten mit dem Strickzeug in der Sonne bei der aufgehängten Wäsche. Ach Gott, sagt sie, Mutter, wie der Wind das Laub von dem Birnbaum mit fortnimmt, Blatt um Blatt –. Das ist jedes Jahr, sag' ich, was hast du denn dabei zu denken? – Gar nichts denk ich mir, sagt sie, aber es macht mich traurig. – Wo sie's nur her hat?«

»Liest sie denn viel?«

»Was soll sie denn lesen? Gar nichts, als im Gesangbuch und Gebetbuch. Sie hat ja auch keine Zeit. Dann und wann blättert sie in dem Liederbüchel, das sie sich zusammengeschrieben hat.«

Doktor Flax sprach jetzt seine Verwunderung darüber aus, daß man vom Volk zumeist nur sehr ernste Lieder höre. Je wehmutsvoller Text und Melodie, desto beliebter das Lied. So nüchtern, derb, rauh, und rücksichtslos die Leute sonst denken und sich gebaren, kommen ihnen mit diesen Liedern doch Augenblicke voll tiefer Empfindung; und sie geben sich solchen Gefühlen hin, sonst würden sie diese Weisen nicht mit Vorliebe singen.

»Das ist wahr«, sagte Juliane. »Nichts hören unsere Leute lieber als Märchen voll Herzeleid, und nichts singen sie lieber, als von Scheiden und Meiden und von Treue bis in den Tod. Sie können sich doch noch der Amy erinnern, die bei mir gedient hat? Eine brave Person. Sechs Jahre hat sie auf ihren Köresreiter gewartet, und wie er endlich von München zurückgekommen ist, hat sie ihn auch geheiratet und wohnt jetzt im Oberland droben. Sind wir nun im Winter nach dem Tod meines Henrich so still und in Gedanken beim Spinnen gesessen, da fängt die Amy leise an zu singen: Ach in Trauern muß ich leben! Oder auch das von dem Mägdlein, das in der Früh wollt aufstehen und einen zum Tod Verwundeten antraf, wissen Sie, Herr Doktor, um den sie trauert, bis alle Wässerlein im Meer beisammen«. – Juliane trocknete die Augen, als sie fortfuhr: »Oder das von dem jungen Grafen und der Nonne – geht auch gar schön, oder das vom Knab' im Niederland, da kam die Botschaft, sein Schatz wär' krank. Ja, krank, ach krank bis an den Tod, da weint er sich die Augen rot... Ein schwarzes Kleid und 's Herz so schwer, mein Trauern nimmt kein End' nicht mehr.« Frau Juliane fing zu weinen an. Tief gerührt fuhr sie dann fort:«Und wie sie so singt, summt's auch meine Susel mit, das klingt so schön, daß ich auch mitsing', zweite Stimme, wissen Sie, Herr Doktor. Und so singen wir denn alle drei mit schwerem Herzen beim Spinnen auch das: Schönster Schatz auf dieser Erde, zweifle nicht an meiner Treu! wissen Sie, dasselbige Lied, das ich so gern gehört, wie ich meinen Henrich kennengelernt habe.«

Der Doktor fragte beiläufig, ob der Alten nichts mehr fehle.

»Gar nichts«, berichtete Juliane. »Die überlebt uns alle. Seit mein Henrich – Gott hab' ihn selig – begraben ist, streicht sie wieder herum, wie ein Junge. Es schmeckt ihr, nichts ist ihr zu kostbar, wenn's von Meinem geht. Aber sie darbt's sich vom Mund ab, wo es vom Ihrigen gehen soll. Nun, ich hab' nichts dagegen.«

»Ist man noch nicht dahintergekommen, was sie hinter ihrem Bett in der Wand verwahrt?«

»Was wird sie viel verwahren?« fragte Juliane achselzuckend.

»Hab' ich denn nicht einmal munkeln hören, oder hab' ich nur geträumt, daß Geld in Strümpfen und Töpfen –«

»Sie haben nicht geträumt, Doktor«, fiel Juliane gelassen ein. »Hören Sie, ich will Ihnen einmal anvertrauen, wie's damit steht.«

»Aber sollte da nicht im Verschlag ein Lauscher stecken?«

»Ah, Doktor, Sie sind nicht recht gescheit!« meinte Juliane. »Höchstens eine Maus, die sich nach der Katze umguckt. Passen Sie auf. Sie wissen doch, Ihr Schwiegervater, der alte kurpfälzische Hofgerichtsrat Orsolini, hat sich seiner Zeit auch nicht zu den Menschen gestellt, daß sie ihm etwas zu Lieb und nichts zu Leid hätten tun mögen, selbiges Mal, wie wir Bauersleute das Heft in die Hand gekriegt haben – Anno 92 und 93 – Bergzabern hat, – mit Münster und Billigheim als Vororten – gleich vornweg eine Republik gestiftet; und da galt der alte Hofgerichtsrat nichts mehr; mein Vetter David Silbernagel, der Maire, hat ihn arretiert.«

»Will nichts davon hören, nichts davon hören!«

»Sie sind nicht gern daran erinnert!« sagte Juliane. »Gehen wir darüber hinweg zu der Zeit, wo man uns Bauern wieder das Messer an den Hals gesetzt hat. Eine böse Zeit; die Rotmäntel, die Kopfabschneider, im Lande; die Reben erfroren; aber doch mehr Geld unter den Leuten als heutzutage. Na, also. Selbiges Mal ist es mit meinem Schwiegervater angegangen – und mein erster Mann, mein Adam, hat's von ihm geerbt! Nicht das heimliche Petzen im Keller, mein' ich, o Gott, nein! Das hätte just nicht so viel gemacht, Herr Doktor, obschon es die stärksten Männer bald auf den Schragen wirft. Nein, das nicht, etwas ganz anderes, viel Schlimmeres, zu der Zeit hat man Hab' und Gut und auch uns Weibsleut verstecken müssen in den Keller, auf den obersten Speicher, in die Schornsteine, in die heimlichen Behälter – tagelang, sag' ich Ihnen. Aber wohin mit dem baren Geld? Mein Schwiegervater hat viel davon zusammengescharrt, es ist ihm allerhand darüber nachgeredet worden. Kurz er hat es bald dahin, bald dorthin geschleppt, wie die Katze ihre Jungen, halb in Angst, halb im Weindusel, in Strümpfen, in Häfen, Dreibätzner, Sechsbätzner, kleine Taler, große Taler, mehr wert, als das lumpige Papiergeld. Er hat das Geld sortiert, und ein Verzeichnis davon soll er in die Hausbibel gelegt haben. Wie er dann eines Tages vorm großen Faß im Keller tot umfällt, hat man doch nachsehen können. Aber die Leute im Haus haben darauf geschworen, wie seine Witwe bei lebendigem Leibe, so gehe er im Tode um – in Lüpfhosen und weißer Zipfelkappe. Man sehe ihn dann und wann am Spundloch im Keller, im Scheuerbarren, oben auf dem Speicher; man höre ihn in der Oberstube, und das Gerede geht eigentlich heute noch. Meinetwegen. Aber was geschieht? Später, wo es nicht mehr nötig gewesen wäre, fängt mein erster Mann an, wie sein Vater, heimlich zu petzen und – denken Sie – ein bißchen Geld zu verstecken. Ja, er treibt's noch ärger. Wird ein Wagen voll Spelz, Reps, Wolle oder ein Fuder Wein verkauft, meinen Sie, ich krieg' je Geld zu sehen? Nein! Ich hab's angelegt, sagt er, wenn ich danach frage, – steht gut, – man darf nicht zeigen, daß man bar Geld hat, und was dergleichen Redensarten mehr sind. Aber auch keine Handschrift kommt mir zu Gesicht. Na, denk ich in meiner Unschuld, er wird sie gut aufgehoben haben in einem verborgenen Pultfach, und behelfe mich in der Haushaltung mit dem bißchen Milchgeld, muß aber sehen, wie er dann und wann benebelt im Haus herumstreicht, ohne Ruh' und Rast, wie er sucht und sucht und nichts finden kann. Und mit einem Mal hat's auch ihn umgerissen; der Neue, der Federweiße hat ihn umgeworfen. Jetzt nach seinem Tod, denk' ich, werden die Schuldner sich melden, zahlen oder um Aufschub nachsuchen. Ja, mit der Fischblas! Niemand ist kommen als meine Schwieger. Juliane, sagt sie, der Adam muß doch hübsch bar Geld hinterlassen haben. – Ich denk' auch, sag' ich. – Wo steckt's denn? – Ausgeliehen hat er es, sag' ich. – Da müßten doch die Schuldscheine da sein, sagt sie. – Freilich sag' ich. – Wo denn? sagt sie. – Im Pult werden sie liegen, sag' ich. Im Pult aber liegen keine Scheine, und Geld hat er sein Lebtag nicht ausgeliehen, sagt sie. – Na, sag' ich, dann weiß ich aber wahrhaftig nichts – So, Juliane, du weißt nicht, wo das viele bare Geld hingekommen ist? Guck einmal an! sagt sie. – Da merk' ich erst, wo das hinaus will. – Schwieger, sag' ich, Ihr werdet doch nicht glauben, daß ich das Geld beiseit getan habe? – Ach, nichts glaub' ich, gar nichts, als daß ich ihm gesagt habe, alles Bargeld auch vor seiner Frau zu verbergen und gut aufzuheben, und daß ich recht gehabt habe. – Da hab' ich doch gemeint, es trifft mich der Schlag. Ich fang' an zu heulen und zu jammern in meiner Verlassenheit. Und wie oft habe ich gerade hinaus gekrischen vor Herzeleid. Oh, ich hab' böse Tage durchgemacht, Herr Doktor! – Da kommt, wie ich wieder einmal so auseinander bin, die taube Aplone daher. Wissen Sie, meine Mutter hat mir sie bei meiner Verheiratung als Erbstück mitgegeben. Im Anfang der Revolution hat ihr Liebster im blauen Kittel mit fortgemußt, mit einer Heugabel als freiwilliger Vaterlandsverteidiger vor Landau, später in die weiten Niederlande, und man hat nichts mehr von ihm gehört. Er ist längst bei den Grenadieren der großen Armee, die nachts ohne Kopf auf dem Heerweg marschieren. Aber die Aplone wartet noch heute auf ihn. Und niemand hat ihr je ins Ohr gekrischen: Sei nicht so einfältig, er ist längst tot, dein Daniel! – Daniel hat er geheißen, seines Zeichens ein Schneider. Nun also, wie die taube Aplone meinen Jammer sieht, legt sie mir die Hand auf die Schulter, und sagt: Mach' dir nichts draus, Juliane! Aber von der Zeit an läßt es ihr keine Ruhe mehr, und sie strengt des Nachts ihr Gedächtnis an, wo denn mein Adam zu Lebzeiten seinen Strich im Haus umher vorzugsweise gehabt habe. Auch ist damals die Rede gegangen, es lasse meinem Adam keine Ruhe im Grabe; er gehe im Haus um, wie sein verstorbener Vater, um nach dem verlorenen Geld oder den Schuldscheinen zu suchen. So viel ist richtig: in tiefer Nachtstunde oder an stillen Tagen, wo niemand sonst daheim ist, hat auch noch meine Susel, die sich doch nicht vor Geistern fürchtet, in der Oberstube gehen hören, und läßt sich das nicht ausreden. Aber davon nachher. – Kurz, ich bin als eine arme Witfrau mit meinen zwei Kindern dagestanden; alles im Rückgang, keinen Batzen Geld im Haus. Da bringt Hanjerg, der Knecht, einen Schmalzhafen daher. Das Donnerwetter ach! flucht er, hab' wunder gemeint, was ich find' für unsere Bas, die's brauchen könnt, ist's Rattengift! Rattengift schreibt einer drauf. Wie dumm! Damit die Ratten ja nicht drangehen! Aber wart! Wie er den Hafen an die Wand schmeißt, daß die Scherben davonfliegen, fallen auch so und so viel Kronentaler unter der Schmalzlage heraus. Und danach hat dann auch die Aplone einen Strumpf mit hartem Geld gestopft nach dem anderen dahergebracht, einen noch zu meines Henrich Zeit. Der aber hat gesagt: Findlinge taugen nicht viel, nur was man erschafft, ist errungen! – So ist er nun einmal gewesen, mein Henrich!«

»Und das Umgehen im Hause hört seitdem auf?« fragte der Doktor, während mittlerweile Susel wieder in die Stube gekommen war.

»O Gott, nein, noch lange nicht«, entgegnete die Mutter. »Großer Segen ist auch mit dem Geld nicht gekommen. Meiner Eve Mann, der Jerg, könnt' jeden Augenblick solch eine paar Strümpfe brauchen und verlangt danach, als lägen sie nur so da und man dürfe zulangen. Susel erzähl doch du einmal die Gespenstergeschichte, weißt du?!«

»Ich spreche nicht gern davon«, war die Antwort.

»Na gut«, fuhr die Mutter fort, so muß ich's tun. Zwei Tage nach dem Begräbnis ihres Vaters – Gott hab ihn selig – sitzt meine Susel traurig dort am Fenster, allein im Hause, denn ich selber habe in der Stadt beim Notar zu tun gehabt. Alle anderen sind draußen bei der Ernte, die Aplone mit im Feld, die Großmutter noch alsfort krank im Nebenhaus, Susel ganz allein. Und wie sie so dasitzt, geht es oben in der Oberstube hin und her, hin und her, sachte wie Katzentritt, doch deutlich merkbar. Na, denkt meine Susel, wer ist denn wieder das? Ach Gott, sollt' – Sie wissen ja, Herr Doktor, wenn man jemand Liebes verloren hat, da glaubt man an Wunder – sollt' es der Vater sein? denkt meine Susel, und hält es im nächsten Augenblick nicht für unmöglich, daß er aus dem Grabe zurückgekehrt sei. Es graut ihr auch gar nicht; ja voller Erwartung läuft sie die Stiege hinauf in die Oberstube. Da liegen schon Sommeräpfel und Frühbirnen im Haufen, aber niemand ist da. Es ist ihr, als höre sie etwas in der Nebenstube; sie geht dahin; da stehen Schränke mit Leinenzeug, aber niemand rührt sich. Ist jemand da? ruft meine Susel. Da knarrt's, als ob jemand eine Tür hinter sich zuziehe. Meine Susel nicht faul und läuft darauf zu, will die Tür in der hinteren Stube aufmachen, aber es geht nicht. Sie reißt stärker an der Tür, aber sie geht nun einmal nicht auf, denn es hält jemand von innen zu. Susel tut, als ob sie fortginge. Da wird die Tür leise aufgemacht, und meine Susel hat gemeint, sie sterbe vor Schreck – heraus tritt sie, die seit vielen Jahren krank im Nebenhaus gelegen: meine alte Schwieger. – Aber Großmutter, ruft Susel gerade heraus, was tut Ihr denn da? Seid Ihr denn nicht todkrank? – Ich hab' so ein Gelüste verspürt nach Äpfeln, sagt die Schwieger und geht ohne weiteres an Susel vorüber die Treppe hinunter auf ihren Altensitz. – Und von der Zeit an fühlt sie sich gesund und streicht wieder mit ihrem Stubenschlüssel in der Tasche in Hof und Garten herum wie früher, und dabei läßt sie sich's schmecken, was gut ist. Aber die Leute sagen noch immer: sie geht bei lebendigem Leib um! Soviel ist sicher, Sie sucht und sucht und – will's nicht scheinen: Was sie nur zu suchen hat?«

»Vielleicht ein Versteck für ihre eigenen Schätze«, warf der Doktor hin. »Oder sie sucht nach solchen, die noch verborgen liegen.«

»O nein! Das glaub' ich nicht. Ich will Ihnen etwas sagen, Herr Doktor, sie selber behauptet, es sei nichts mehr zu finden«, bemerkte Juliane.

»Wenn sie das behauptet, so glaubt sie sicher das Gegenteil. Das direkte Gegenteil – aber horch! War das eine Maus oder Katze?« fragte Doktor Flax, der sich jetzt rasch erhob, indem er, der Hausfrau zuvorkommend, an den Vorhang des Verschlags eilte, hinter dem sich ein Lärm vernehmbar gemacht hatte, als sei unversehens ein Stuhl umgefallen.

Unverweilt schob er die Gardine zurück. Er und Juliane standen eine Weile starr, mit angehaltenem Atem. Denn hinter dem Vorhang war die Schwiegermutter zum Vorschein gekommen.

»Bin da schier ein bissel eingeduselt auf dem Stuhl da«, sagte die Alte unbefangen, indem sie, mit den Händen unter der Schürze, vortrat, mit einem mißtrauischen Seitenblick den gedeckten Tisch musterte und dann, ohne weitere Entschuldigung oder Erklärung ihrer Anwesenheit im Verschlag, sich hinaus über den Hof in ihre Vorbehaltsstube begab, während Juliane und Doktor Flaccus, dem nun doch aller Appetit vergangen war, sich noch immer schweigend ansahen.


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