August Becker
Die Nonnensusel
August Becker

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6

Pfarrstunden

Wenn man an Wintervormittagen von Klingenmünster über die Höhe der Kreuzstraße die Richtung nach Bergzabern einhält, begegnet man vielen halberwachsenen Knaben und Mädchen, die rudelweis dem Flecken Klingenmünster in der Tiefe zustreben. Es sind Konfirmanden aus den Orten Gleiszellen-Gleishorbach und Pleisweiler-Oberhofen, die über die Rebhügel und Feldhöhen das Gebirge entlang in die Pfarrstunde wandern.

Kein Wetter hält sie ab. Ob die Röcke noch so sehr im Winde fliegen und die weißen Flocken um die Näschen stieben; plaudernd, schäkernd geht es bergauf, bergab. Die Mädchen gewöhnlich Hand in Hand oder die Arme sich gegenseitig um die Nacken schlingend. Auch Susanne Groß von Oberhofen war unter ihnen. Hochgewachsen wie keine andere ging sie stets zu zweien mit Vetter Jokebs Gretel, oder zu dreien mit Nachbars Liesel die Kreuzstraße hinunter nach Münster. War es für die Mutter daheim eine Beruhigung, daß ihr Kind, in hellen warmen Biberstoff gekleidet, vor den Unbilden des Wetters geschützt war, so machte sich Susel doch wenig aus dem Wetter und freute sich dieser Gänge. So viel weckte in Münster ihre Teilnahme, außer anderem auch das »Amtshaus«, dann das große Storchennest auf einem Schornstein im Stift und der große Rathausbrunnen mit der kupfernen Weinaiche und den steinernen Trögen, an denen die Waschweiber im beginnenden Frühjahr mit Klopfen und Rätschen so lustigen Lärm vollführten, daß man sein eigen Wort nicht verstand. Und kam Susel mit Gretel vorbei, so schrien sie: »An denen macht einer einmal einen Fang! Das sind die reichsten Mädel weit und breit.«

Kam dann Susel im Schneegestöber heim, die Mutter ihr mit der warmen Suppe entgegen, da gab es zum Plaudern gerade genug, auch mit Nettl am Spinnrad, die ihr dann immer heimlich zuflüsterte: »Ja, Münster ist oben!« Auch war es keine geringe Genugtuung für die Mutter, daß ihr Töchterchen die oberste in der Pfarrstunde war. Noch nicht dagewesen, daß keine von Münster, sondern eine »Fremde« die Erste in der Pfarrstunde war!

Zu oberst auf der saß »Bubenbank« saß einer, der am meisten wußte, und der der stärkste und größte von seinen Kameraden war. Schorsch hieß er; nicht Jerg, sondern Schorsch, und seine Eltern wohnten in einem Erkerhaus nah am Ratsbrunnen bei der früheren Stiftsschaffnerei. Ob er sich ihrer noch erinnerte von damals, wo er von nichts als »Essensspeisen« sprechen wollte? Wie herzhaft gab er Red' und Antwort, wenn der Herr Pfarrer eine Frage stellte, während sie selbst nur immer schüchtern, befangen und mit flammenden Wangen antworten konnte. Einmal aber, als Schorsch sich vergeblich besann, konnte Susel nicht umhin, ihm die Antwort möglichst vernehmlich zuzuflüstern. Allein, er antwortete in der Verwirrung etwas Albernes, und wurde vom Pfarrer tüchtig ausgezankt. Er ließ sie es entgelten, die es so gut mit ihm gemeint hatte, und zischte ihr heimlich zu: »Schweig ein andermal, du Bachstelze, wenn du nichts weißt. Tu' nicht so gescheit, du Spiegelguckerin!«

Sie hatte Mühe, über diese Unfreundlichkeit nicht laut hinauszuweinen. Der Herr Pfarrer bemerkte es, und in der Voraussetzung, daß Schorsch unartig gegen sie gewesen sei, hob er drohend den Finger gegen ihn. Nun hatte sie beim Ausgang noch Worte wie »Flennsusel! Hopfenstange! Einfältige Spiegelguckerin!« und dergleichen zu hören. Mit verwundetem Gemüt nahm sie auf dem Heimweg am Plaudern, Lachen und Schneeballwerfen ihrer Genossen nicht teil. Daheim angelangt, versuchte Susel unbemerkt ins Haus zu schlüpfen, legte dort still mit kummervollem Herzen ihre Kapuze ab, während die Mutter selbst die warmen Socken und das zurückgestellte Mittagessen herbeibrachte, fragend, was ihr denn begegnet sei, da sie sich so still verhalte. Ob der Herr Pfarrer mit ihr gezankt habe?

»Nein, Mutter, der Herr Pfarrer ist gut und freundlich.«

»Nun, was ist denn geschehen? Du bist doch nicht krank? Du hast dich doch nicht erkältet?«

Um die Angst der Mutter zu beschwichtigen, blieb dem Mädchen nichts übrig, als mit der Wahrheit herauszurücken. Nun nahm es Juliane auf die leichte Achsel.

»Ei was, Susel, mein Kind! Was kümmert dich, was so ein Heidelbeerenschnitzer oder Holzschlegel sagt. Grad' so viel, als wenn es ein Moosrupfer gesagt hätte«, meinte sie, die Spitznamen derer von Münster und Gleishorbach betonend. »Laß das Lumpenpack schelten!«

Solcher Trost verfing jedoch bei Susel nicht. Schorsch war kein Lumpenpack, und sie konnte nur hoffen, daß er ihr noch Gerechtigkeit widerfahren lassen werde, wenn er erfahre, wie gut sie's gemeint hatte. Allein in der nächsten Pfarrstunde empfing sie nur hämische Blicke und Worte von ihm. Als sie mit einer Mitschülerin ein Stückchen bunte Wolle austauschte, hätte er sie als oberster, nahezu mit dem Ruf angegeben: »Sie fuggert!« Eine gewöhnliche Beschuldigung unter Kindern jener Gegend, die sich von jenen historischen Augsburger Handelsherren herschreibt, und soviel heißt als: Sie treibt Tauschhandel, das während der Schule nicht erlaubt, zuweilen streng verboten ist. Und dann rollte er sein Tintenglas auf der Tafel in einer Weise gegen sie, daß es klirrend zu Boden fiel und die Tinte den Schürzen und Rocksäumen mehrerer Mädchen schwarze Flecken beibrachte. Susel, die diesen Ausgang vorausgesehen hatte, befand sich in größter Verlegenheit; sie bückte sich hastig, um die Scherben aufzulesen und mit ihrem Taschentuch die Flecken von den Kleidern zu wischen, so daß der Geistliche, in seinem Vortrag unterbrochen, nicht anders glauben konnte, als in ihr die Schuldige zu sehen. Mit strenger Miene stellte er sie zur Rede: »Hätte dieser da«, er deutete auf Schorsch, »das verübt, und dem Schlingel wäre es zuzutrauen, würde ich ihn trotz seines guten Kopfes vor der Konfirmation noch zurückstellen. Dir, Susanne, die mein Mißfallen bis jetzt noch nicht erregt hat, lasse ich es mit der Verwarnung hingehen, ein ander Mal weniger zerstreut zu sein und den Konfirmandenunterricht nicht durch so unnützes Spielen mit dem Tintenglas zu stören. Schäme dich!«

Und Susel schämte sich gern. Ihr Gesicht war purpurrot, schweigend nahm sie den Tadel hin. Kaum war dann der Herr Pfarrer zur Tür hinaus, hörte sie einen sagen: »Du hast mich aus einer schönen Patsche gezogen!«

Sie hatte nicht den Mut, sich nach ihm umzusehen, wechselte mehrmals die Farbe; aber unglücklich fühlte sie sich nicht. Auf die Äußerungen, wie einfältig es sei, sich für einen anderen auszanken zu lassen, erwiderte sie nichts, ließ auch daheim nichts davon verlauten. Als die Mutter es dennoch erfuhr und schalt, daß sie für den Münsterer Taugenichts die Strafe unschuldig erduldet habe, nahm sie auch diese Vorwürfe still und gelassen hin.

Von da an erfuhr die Haltung des »kruselköpfigen« Schorsch ihr gegenüber eine Änderung. Harte Worte blieben jetzt aus, und auf der Eisbahn, die im Vorbeikommen benutzt wurde, stand er ihr helfend und stützend zur Seite. Er erwies ihr überhaupt so manche kleine Aufmerksamkeit, die er früher keiner, nur vielleicht einer gewissen Katel, der kleinen hübschen Tochter des Löwenwirts, gewidmet hatte. Sein Kamerad Michel dagegen beschäftigte sich mehr mit Gretel oder vielmehr »Dretel«, denn Michel konnte das »K« und »G« nicht aussprechen.

Nur einmal kam Susel in jenen Wochen verstimmt heim. Auf der Kreuzstraße oben, wo der Weg von Gleiszellen her auf der First des Kreuzsteins die Straße rechtwinkelig durchschneidet, war eben ein schwer mit großen Weinfässern beladener Wagen vierspännig dahergekommen, als die Konfirmanden vorüber wollten. Nebst dem Fuhrknecht war noch ein hübscher junger Mann beim Wagen, der den Knecht halten ließ, und, zu Susel herkommend, fragte: »Bist du nicht von Oberhofen und heißt Groß, mein liebes Kind?«

»Susanna Groß«, war ihre etwas betroffene Antwort.

»Saperment, Susele«, fuhr er vertraulich fort, »wie bist du groß geworden. Noch ein paar Jahre, und du könntest meine Frau werden!«

Während die anderen lachten, errötete sie tief, und das Weinen stand ihr vor Ärger und Beschämung nahe. Wie kam denn der fremde Mensch dazu, ihr das zu sagen! Als er ihr nun gar die Hand unters Kinn legen wollte, entwand sie sich ihm voll Unmut. Er lachte. »Grüß mir deine Leute schön vom Kronenwirts Konrad!« sagte er, knallte mächtig mit der Peitsche, trieb die vier Pferde an, und fuhr den Firstweg auf dem Rücken des Kreuzsteins entlang.

Dem Mädchen war es eine höchst unangenehme Begegnung gewesen; sie ärgerte sich sehr, so sehr, daß es ihr fast den ganzen Tag verleidete. »Der garstige Mensch! Seine Frau! Eher tät' ich mir ein Leid an!« sagte sie zu Gretel. Und als diese meinte, er habe ja nur so im Spaß gesprochen, meinte Susel: »Ich mag solche Späße nicht!«

Als ihre Mutter davon erfuhr, sagte sie: »Das braucht dich nicht zu ärgern, der gehört zu unserer reichsten Freundschaft. Wär' er nicht schon Hochzeiter und du so gut als versagt, wer weiß, was geschehen könnte!«

Das klang für Susel sehr bedenklich. Versagt? Mit innerem Schreck erfüllte sie das Wort. Sie konnte ihre Traurigkeit längere Weile nicht verwinden. –

Der Frühling war gekommen. Die Wiesen und Wegraine waren wieder grün, die Mandelbäume standen in voller Blütenpracht in den kalten Reben, die Lerchen und Finken sangen. Da zog auch Hoffnung und Freude in das junge Menschenherz, und glücklich streichelte sie gelegentlich dem von ihrem Vater verhätschelten Füllen den Hals, wenn es zierlich zu ihr her an die Hausstaffel tänzelte, um dann scheu wieder zurückzuweichen; oder sie kraulte den jungen Lämmern die wolligen Köpfchen, wenn sie im Grasgarten und Hof zu ihr hergelaufen kamen. Eines Tages nahm dann Susel das zusammengefaltete Papier mit schwerem Inhalt, und brachte es in der letzten »Stunde« dem Herrn Pfarrer, der seinen besonderen Dank ausrichten ließ.

Und nun war der Palmsonntag über das grünende Land heraufgestiegen, an dem die Einweihung der Konfirmanden in Münster stattfinden sollte. Juliane, die sich ohnehin mit der unierten Kirche völlig ausgesöhnt hatte, ließ für diesmal das Vorurteil gegen Münster fallen. War doch Susel die oberste von allen und – das unterlag keinem Zweifel – auch die größte und schönste in ihrem neuen schwarzen Merinokleid mit dem großen weißseidenen Halstuch. Man konnte ja für das Herzenskind etwas aufwenden. Und nun wurde angespannt; man fuhr am sonnigen Morgen des Palmsonntags durch die aufgrünende Hügellandschaft nach Münster in die Pfarrkirche.

Der Verlauf des Gottesdienstes war erhebend, die Prüfung, das Bekenntnis, die Einsegnung gar rührend, wenn die Gemeinde sang und dann die Kinder ihren Vers anstimmten. Sie standen geschmückt um den Altar; die Jungen aus Gleiszellen, Gleishorbach, Pleisweiler und Oberhofen in mächtigen Nebelspaltern, was denen von Münster etwas Anlaß zu innerer Heiterkeit gab, besonders da die Gleiszeller ihre Antworten plärrend herleierten. Man erkannte die Angehörigen der einzelnen Gemeinden sofort an der Aussprache. Susanne Groß hatte schon einmal eine Frage ruhig, schüchtern, aber ohne Stocken beantwortet. Sie war auffallend bleich, auch ihre Mutter, ihr Vater gespannt, als müsse noch ein besonders weihevoller Moment kommen. Und nun fragte der Geistliche, sich an Susel wendend: »Und warum, Susanne Groß, heißt unsere Kirche protestantisch?«

Das Mädchen atmete tief auf, ihr Herz pochte; allein sie war sich des feierlichen Augenblicks völlig bewußt und durfte keine Schwäche über ihr junges Herz kommen lassen. So begann sie denn ihre Antwort, langsam, ausdrucksvoll, bald selbst ergriffen und gehoben von den Worten, die ihr nie so verständlich geklungen waren wie jetzt, wo sie in ihrem Munde zum Verständnis der ganzen Gemeinde gelangten, so daß in tiefer Stille schon von Anfang alles der schönen, vollen Mädchenstimme lauschte und jedermann, selbst der würdige Geistliche, mit Innigkeit ihrem Vortrag folgte: »Weil unsere Kirche das edelste Recht des vernünftigen Menschen, frei und redlich in der wohlgeprüften Wahrheit fortzuschreiten mit christlichem Mut, in Anspruch nimmt, gegen alle Geistesknechtschaft wie gegen allen Gewissenszwang ewigen Widerspruch einlegt und dabei ungestörte innere Glaubensfreiheit behauptet.«

Man hatte diese Ausführung des damaligen Katechismus schon öfter gehört, aber noch niemals war dieser, für Kinder und einfache Landleute allerdings schwere und verwickelte Satz so ergreifend zum Verständnis der Gemeinde gedrungen wie diesmal.

Henrich Groß, im Stuhl der Kirchenältesten, sah in tiefem Ernst vor sich hin. Juliane strahlte in Tränen; ihr Herz schlug beklommen stolz in ihrer Mutterbrust, und ohne allzu bescheidenen Dank hörte sie das bewundernde Geflüster umher. Man hatte kaum mehr auf weitere Katechismusfragen acht, aber schluchzend hörte man endlich vor der Einsegnung, die Kinder ein eingeübtes passendes Lied dreistimmig singen: »Wir nahen uns, o Vater, wir, deine Kinder, nahn, um deinen Vatersegen, von neuem zu empfahn.«

Kurz, es verlief sehr feierlich und rührend. Und erschüttert stand dann Frau Juliane mit der Tochter vor der Kirche, einen Händedruck von Leuten empfangend, die sie noch nie gesehen hatte, um auf den Vater zu warten, der erst mit dem Herrn Pfarrer und dem vereinigten Presbyterium herauskommen konnte.

Der Geistliche und die Presbyter kamen und reichten mit schmeichelhaften Äußerungen Mutter und Tochter die Hand. Nun wurden sie von mehreren Seiten eingeladen, zum Mittagessen zu bleiben. Als Juliane darauf hinwies, daß die Pferde schon ungeduldig würden und daß man sich doch etwas aus der Ordnung fühle, äußerte einer der Männer von Münster: Man sei schon in Ordnung und wenn es not tue, so gebe es auch in Münster Spiegel, um sich zu überzeugen. Der Mann hatte nichts Böses dabei gedacht. Allein Juliane war einsilbig geworden, drängte und fühlte sich nicht eher ruhig, als bis man auf dem Wagen saß und die Pferde, von Hanjerg angefeuert, die Kreuzstraße hinansprengten.

Susel saß still neben der Mutter. Sie sah ernst und nachdenklich aus. Sie hatte ja auch Anlaß zum Nachdenken. Mit dem heutigen Tag hatten die Gänge nach Münster ihren Abschluß gefunden. Wann kam sie wieder dahin! Vielleicht nie, nie wieder. Von den Nußbäumen an der Straße sangen die Buchfinken. Es war sehr schön.

Sie legte die Hand vor die Augen. Da war es ihr, als ob's Nacht geworden sei, eine rauhe Frühlingsnacht, und ihr entgegen käme ein Wagen; darauf saßen hinterm Fuhrmann zwei Männer und eine Frau im Hochzeitskleid, tief verhüllt, trauernd wie eine Nonne. Und da sie vorüberfuhr und sie ihr in das bleiche Gesicht sah, da erschrak sie auf den Tod, – denn sie war es selbst.


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