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Und die Erde schließt sich …

Es war eine einfache Feier gewesen.

Da Herr Rabesam jede aufrichtig empfundene Religion liebte, hatten die Schüler sein Andenken nicht zu stören geglaubt, wenn sie ihn nach den Satzungen der ihm traulichen und lieben katholischen Kirche begraben ließen.

Nur Kantilener, der jede Bestattung außer jener durch Feuer als Schändung ansah, hatte mit einer Heftigkeit widerstritten, die nur durch das lächelnde Wort der Halfström gestillt werden konnte: »Es widerfährt ja nicht Ihnen! Wenn ich das Unglück haben sollte, Sie zu überleben, ich werde Sie, auf meine Ehre hin, verbrennen lassen!«

So war alles in einer würdigen Trauer vorübergegangen, und die Herzen der neun Menschen, die um die alte und verwitterte Gruft der Rabesame standen, brannten in einer stillen und goldigen Wehmut. Sie hatten den alten Herrn um die ihm liebgewesene Abendstunde bestatten lassen, als die Septembersonne unterging.

Der Dorffriedhof der Gemeinde Sankt Peter lag so schön am Bergesabhang gegen Westen, daß man dem untertauchenden Tagesgestirn bis in sein letztes Verströmen nachträumen konnte. Als der junge Priester, der sein Gebet hastig und mit einer verlegenen Scheu beendet hatte, fortgegangen war, blieben die, welche Herr Lukas gerne als Abendkinder fortleben gewußt hätte, noch eine ganze Weile im verflutenden Sonnenlichte des Herbstes stehen.

Es war kein Wunder geschehen; nicht einmal ihre Stimmung war ins Ungeheure und Visionäre umgeschlagen. Sie fühlten sich bloß grenzenlos einsam jetzt, wo sie wußten: der Krieg hat wieder allein das Wort, und Keiner wird mehr da sein, der durch ein ganzes Leben lang den Massen widerredet und einem einsamen Menschentum, wie es in Vorvätertagen als das Höchste gegolten, beseelte Sprache verleiht.

Einsames Menschentum! Und es waren die Tage, wo über dreißig Millionen Soldaten auf dem kleinsten der Weltteile in Waffen standen, und drei Kriegsjahre sechs Millionen Toter hinuntergewürgt hatten. Wie wenige, aus diesen Riesenziffern, mochten gewesen sein, die danach verlangt hatten: »Einsames Menschentum?« Keine einzige Stimme war laut geworden, außer der des alten Mannes, neben dem aber, wie ein verzerrter Schatten, sein ichgieriger Bruder einhergegangen war.

Nun war der alte Mann tot. Vielleicht war mit ihm eine alte Zeit tot, und die unabwendbaren Tage der zur Vergänglichkeit organisierten Zahllosen begannen; derer, denen ein Gott nur störend wäre.

Ganz still schloß sich ein Grab, über dem gar keine Zeichen und Wunder geschahen, außer, daß sich Streit erhob, – wie über jedem Grabe.

Denn Liesegang, der sich bisher mit Mühe ruhig verhalten hatte, war empört, daß man Herrn Lukas nicht mehr gab; ihm eben noch ein paar zerdrückte Tränen nachweinte und sich etwas einsamer fühlte. Er stellte die Tatsache, daß Herr Lukas wahrscheinlich der Letzte einer dahingegangenen Epoche des Individualismus gewesen sein könnte, geradezu auf den Kopf und begann:

»Abendkinder? Schämt euch!«

»Warum?« fragte Mister Hatchet und zog interessiert sein Notizbuch hervor.

»Schämen sollt Ihr euch deshalb, weil Ihr genau so fühllos seid, wie das Altertum, von dem Wigram einmal sagte, es hatte keine Ahnung, daß es zu Ende ging, und eine ganz andere Epoche begänne. Mit Herrn Lukas beginnt eine neue Ära! Die Zeit der Notwehr des Einzelnen gegen die Massen! Die Zeit der offenen Verkündigung: ›Ihr zerstört die Seele, wenn ihr so weitergeht!‹ Schämen sollt ihr euch, daß ein Russe dem deutschen Meister nachrufen mußte: Hier war Er selber!

Ihr staunt und starrt? Ja, Er selber! Der abermals Ungehörte! Der Inkarnierte, der nie anders wandeln kann und darf, als unerkannt! Hier unter diesem Steine liegt einer, der nicht geringer war, als –«

»Mister Liesegang!« rief Hatchet lachend.

»Ich sage und bleibe dabei,« fuhr Liesegang wenig beirrt fort, »daß Er da war; er selber; unter uns! Er hat das Kreuz und das Martyrium bis in ein unbeachtetes Greisentum getragen, nachdem er ein ganzes Leben lang verkündet hatte: Gott lebt! Gott lebt trotz aller sogenannten Wissenschaft, und aus ihr heraus beweise ich erst recht, in ihren eigenen dürren Worten, daß dieser hochmütige Trugzustand Leben bloß die Hohe Schule Gottes ist, in der (zum Unterschied von unseren), alle, aber auch beinahe alle durchfallen.«

»Das ist ganz richtig,« sagte Hatchet. »Aber korrigieren muß ich an der Hand meiner unwiderleglichen Aufzeichnungen, daß Herr Rabesam stets und mit Nachdruck betont hat, daß er nichts sei, als der Vorläufer eines Vorläufers!«

Er blätterte in seinen Notizen, um nachzusehen.

»Wollen Sie,« rief Liesegang, »die tiefe Demut und Bescheidenheit dieses Einzigen, dieses Rufers in einer Wüste von Eisen und Feuer, als Waffe gegen ihn verwenden? Ist das ritterlich? Durfte er das sagen, was allein unserer Erkenntnis und Bewunderung aufbewahrt blieb?«

»Der erste Jesus Christus hat ganz unumwunden gesagt: ich bin der Messias,« verteidigte sich Hatchet trocken. »Herr Rabesam muß das besser gewußt haben, als Sie! Er hat ausdrücklich gesagt: »Ich verkünde ihn den Kommenden; aber ich bin nur ein erster Versuch vor ihm her, die menschliche Seele vor dem Irrtum des Nutzens zu behüten, der das vergängliche Diesseits immer mächtiger über die Seelen werden läßt.« Er las dies aus seinen Notizen heraus und streckte dem empörten Liesegang sanft abwehrend eine so gewaltige Boxerfaust entgegen, daß der erregte Verkünder sich auf eine bessere Zukunft berufen mußte mit den Worten: »Ha! Wir werden ja sehen!«

»Ich sehe, Sie wollen eine Sekte begründen und eine Irrlehre in Szene setzen,« sagte der Amerikaner gleichmütig. »Aber ich habe da meine Notizen, und Sie kommen gegen diese nicht an!«

»Na,« hörte man eine ironische Stimme; »man ist schon gegen die Logia des Urmatthäus angekommen.«

O'Brien war es, der sein Wort gesprochen hatte und sich jetzt empfahl, etwas hinkend, weil er sich an den Gebrauch seines neuen, künstlichen Unterschenkels noch nicht recht gewöhnen gekonnt.

Verene Magelon gab ihm den Arm und ging mit ihm fort. Alle andern schwiegen und sahen dem schönen Paare nach. O'Brien hielt inne und wendete sich nochmals zurück:

»Meine Freunde! Irren werden wir ja doch sicherlich über Herrn Lukas, und jeder wird ihm das Seine unterlegen. Einigen wir uns, indem wir sein Andenken als das des reinsten und köstlichsten Menschen hochhalten, der jedem von uns jemals begegnet ist. Wer ihn noch höher erheben will, mag es tun. Siegen wird, wer seine Lehre am schmackhaftesten zuzurichten weiß. Denn so sind die Menschen. Herrn Hatchets Stenogramme würden zum Beispiel ohnmächtig sein gegen Liesegang, wenn Liesegang ein Künstler wäre, oder ein Organisator.«

Und der junge Major ging fort. Keiner wagte es, dem Weltmann, der mit einem lächelnden Worte alles plan gemacht zu haben schien, zu antworten, zumal er durch seine Verstümmlung geheiligt war. Sie sahen ihm mit Rührung und Ehrfurcht nach, wie er mühsam dahinging, das schönste Mädchen, das sie jemals gesehen hatten, an seiner Seite. Verene Magelon stützte ihn mit einer Innigkeit, die aus jeder Bewegung erraten ließ, daß sie ihn anbetete.

Hatchet packte Liesegang unter dem Arm, um ihn in ein Gasthaus zu ziehen und mit ihm gütlich die Aussichten des Herrn Lukas für dessen Heilandschaft zu überprüfen. Der alte Herr Scheggl ging ganz klein und demütig mit, um sich aus den Aussagen jener beiden Gewaltigen ein eigenes Urteil zu bilden; denn er hatte aus sich selber noch nie etwas gefunden, außer jenem Heilmittel für die armen Soldaten. Krögensen, der vor Aufregung, Liesegang und Mitrophanow könnten das Richtige getroffen haben, an allen Gliedern bebte, ging mit.

Bohnstock allein blieb stehen und sah sich wie nach Rat und Hilfe um. Aber niemand schaute nach ihm; sogar Kantilener und die Halfström waren wie verschworen, niemand anderm zu gehören als sich selber. Sie standen an der Friedhofmauer und sahen in den Abend hinein, als wäre der ein Feuerwerk, das zu ihren Ehren bestellt wäre. Da ging er ganz arm und einsam fort, um sich in seiner Kaserne zu melden, – einer der unermeßlich Vielen, die niemand entrüstet fragte: »Wie, sogar Sie müssen hinaus?!«

»Was sagen Sie zu diesem Streite? Wird er auf wenige Schwärmer beschränkt bleiben, oder geht von diesem Grabe eine neue Botschaft über die Menschheit hin?« Birgid fragte so. Sie fragte voll Unruhe.

»Ich glaube, Herr Lukas wird vergessen werden, – man drehte denn seine Lehre um und um. Es kommt immer darauf an, was man an einem Verkünder hervorzieht. Ist es der Mehrheit angemessen und bekömmlich, so, wird sie immer wieder zugeschnitten, wie ein kostbarer Stoff von Urgroßmutter her und muß alle Moden mitmachen. Was der erste Verkünder historisch und wirklich war, das ist doch bald jedem ein abgetanes Ding. Herr Lukas hat das einsame Menschentum verfochten. Das ist ein unbeliebtes Unternehmen, das die wenigsten Nachläufer hat. Vielleicht läßt sich aber seine Theorie von den Mehrheitsströmen nutzbringend verwenden. Ich für meinen Teil bin nur froh, daß es gerade in dieser Zeit jemand gegeben hat, der so festlich und innig an Gott zu glauben gewußt. Denn mir hat er damit aus der Seele gesprochen.«

»Auch, als er Sie von sich wegsandte?«

»Auch. Er sagte mir, ich selber sei noch nicht reif. Und er sagte mir, ich sollte – –«

»Ich weiß,« sagte Birgid und senkte den Kopf und war verlegen.


Jenseits der Ebene verglühte der Abend hoch und herrlich.

Kantilener stand ergriffen stille. Da war ja wieder seine Heimat. Und der, der die unendliche Heimat gesucht, hatte auch hieherfinden gemußt. Mehr, als in ihrer Erde zu ruhen, gibt es ja zuletzt doch nicht an menschlichem Glück.

Hier ein Friedhof, dort – jenseits – ein Friedhof.

Seltsam. Die Ebene, in der seine Vaterstadt lag, war gegen Süden behütet von zwei Höhenzügen, die jeder eine Ruhestätte trugen, und in jedem der beiden Kirchhöfe lag eine große Liebe seines Lebens. Dort, jenseits, unter der enorm verglühenden Sonne, lag Frau von Karminell begraben. Hier sein Lehrer und Meister in der Gottessehnsucht, der ihn zu diesem Leben zurückgewiesen, der alte Herr Lukas, aus dem man heute schon einen Heiland machen wollte.

In leisen, andächtigen Worten erzählte Othmar Kantilener das dem schönen Mädchen, das ihm ergeben zur Seite stand.

»Und wo ist,« fragte Birgid Halfström, »der kleine Platz, wo die Nußbäume und die Edelkastanien stehen, und wo man ein so hübsches kleines Anwesen haben könnte? Und Hühner, und Grün, und Friede?«

»Es liegt ungefähr in der Mitte, zwischen den beiden Gräbern,« sagte Kantilener lächelnd. »Bildlich genommen nämlich. Wenn Sie sich aber beeilen wollen, liebste Birgid, so wird es immer noch hell genug sein, daß wir es ordentlich ansehen können.«

»Gehen wir,« sagte sie.

»Birgid?«

Sie nickte bloß und legte dann den Kopf für seinen Mund zurück, gerührt und ergeben. – – –

Und es war beinahe, als hätte Herr Lukas Rabesam umsonst gelebt.

Oder nur wie ein Traum. Ein Traum, den jeder Gute einmal träumt. – Und aus dem, in dieser unseligen Epoche, unverbesserlich jeder erwacht.

 

Ende.

 


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