Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Karwochenzeit.

Du Zeit der Erlösung, die du in den Seelen wühlst! Du Zeit, die mit leidenschaftlich drängenden Wolken flutet, welche eine Wanderschaft haben und eine leidvolle Unrast wie nie im Jahre! Hast du ihn wieder zurückgezogen nach Graz, Kantilener, den sehnlichen, den suchenden? Nach siebzehn Jahren, hast du ihn heimgerufen? Ach, er wollte die Osterglocken der Heimat wieder hören.

Aber als er da war, hatte keine goldhaarige Frau seinen lockigen Kopf zwischen die Hände genommen; »Da bist du ja, Othmar! Wie du aussiehst! Dein Knabenantlitz hat dir die Welt nicht genommen; aber weiße Fädchen sind in deinem blonden Haare, Othmar Kantilener. Vierzig bist du vorbei? Wie? Dreiundvierzig? Und schwermütig bist du auch? Komm, Othmar, ich will dich auf diese paar Dutzend weißer Haare küssen. Deinem Herzen, deinem Kinderherzen kann ja die Zeit nicht an!«

So redete niemand zu ihm; denn die Eine, die sich ihm hier aus Händen gerungen hatte, kaum daß sie ihm zu eigen war, die war lange tot. Und vielleicht war es gut, daß er an Frau von Karminell nicht sehen konnte, wie die Jahre höhnend über ihren Liebreiz gegangen waren. So blieb sie ihm still leuchtend, blond und klar, wie sie immer gewesen war. Einsam zog er in die Stadt mit dem Waldberge in der Mitte ein und kannte niemand mehr. Aber so wie oben geschrieben steht, so redete es dennoch zu ihm! Aus den Wipfeln, aus den Blumen, aus den Steinen, aus den Wolken: »Da bist du ja wieder, Othmar! Laß dich ansehen, du Kind, du reines Herz, das so wenig in der großen Welt erreicht hat und das gar nicht ahnt, wie ihm geschenkt wurde, was keinem sonst gegeben ist, wenn er an die Mitte der Vierzig gerät: Wieder anfangen wollen, wieder anfangen können

So sprach zu ihm die Stadt, die liebe Stadt der Abenteuer, die Stadt der Jugend, trotz ihrer Pensionisten und grantigen, alten Jungfern. Denn daß sie ihn so grüßte, das ist wahr und ist wirklich geschehen, und wenn es anderswo auch so sein kann, so sei jener Ort gesegnet, wo das möglich ist.

Glaubt Ihr es mir, daß Kantilener im Bergansteigen hier an einem Ziegel des alten Festungsbaues geschrieben fand: »Hier war ich glücklich!« Und wie er sich dieses Wort, von junger Hand geschrieben, gerührt vor die Seele hielt und weiterging, da kam er an die alte, hohe Bastei heran und die ist der schönste Fleck auf Erden. Denn hoch sieht sie über das südliche Sonnenland hinaus, und im Kreise stehen ferne die entrückten Waldberge und die Schneeeinsamen. Die alten Kanonen starren über Land und eine wunderbare Pylonenpforte aus ganz zerfressenem Steine geht in das Eingeweide des Berges hinein, wo einst die jakobinischen Aufrührer in ewiger Nacht lagen. Drinnen im Berge verdumpften heiße Menschen, während jauchzend vor der roten Bastei mit ihren grauen Randsteinen ein großer Mandelbaum blüht. Und neben der Mandel die Kirsche, und neben der Kirsche kaisergelb und leuchtend der Forsythienstrauch, von dem sich, prachtrot, die japanische Quitte karessieren läßt. Das sind Formen, das sind Farben, die ganz allein schon glücklich machen. Und wie Kantilener da oben stand und sein heißes Herz inmitten der Steiermark wie ein Sakrament emporgehoben fühlte, da las er schon wieder, auf den Steinbord der Brüstung geschrieben: »En amour trop n'est pas assez!«

»In der Liebe ist auch zuviel nie genug!« Du junge Torheit, die du dieses schriebest, sei gesegnet; es ist weise! Und wie Kantilener seine Stadt kannte, wußte er auch gleich, daß diese Worte jahrelang an derselben Stelle standen, immer wieder mit Bleistift von einer anderen Hand aufgefrischt. Ein junger Student zog das erstemal die regenverwaschenen Züge liebreich nach, im nächsten Frühjahr tat dasselbe ein Backfisch, dann, still lächelnd und in ganz anderer Meinung, ein alter geistlicher Herr, dann wieder ein sehnlicher Dichter. Und jetzt zog wahrhaftig auch Kantilener seinen Stift aus dem Notizenblock und fuhr zärtlich über die Frakturbuchstaben dahin, damit die Unsterblichkeit bis zu den Herbstgüssen dauern möge: »En amour trop n'est pas assez!« Mit vieler Innigkeit setzte er das Rufzeichen an den Schluß, und dann sah er sich verlegen um. Aber niemand war sonst hier unter der alten Bastei. Nur die Eidechsen liefen prickelnd hin und her, steinauf, felsab, der goldleuchtende Strauch und der taubenblutrote leuchteten und zitterten vor Verliebtheit, und vom Mandelbaum wehten die Blütenblätter wie lauter Liebesbriefchen silbern in den blauen Himmel hinaus.

Kantilener setzte sich. Nun ging unten über die Murbrücke wohl ein schönes Mädchen und sah herauf und die klaren braunen Augen freuten sich über den roten Strauch und über den goldenen dort hoch auf der Bastei. O! als im Vorjahr einer seine Tatzen dorthin legen wollte, Tatzen, die nur dem Erwerbe geöffnet waren, – als so einer dies Wunder an Schönheit zu schänden vorhatte und mit dem fürchterlichen Instinkt des ewig Verdammten ein großes Hotel dort hindrecken wollte, wo die alten Kanonen gähnen und wo edelste Vergangenheit träumt, da sind die jungen Mädel und die vielen Studenten auf einmal eins gewesen mit den alten, grämlichen Pensionisten und schrien laut auf in Schreck und Zorn.

Und geduckt haben sie das infame Ideal! Ja, das wußte Kantilener und segnete sie, die da unten von der Brücke zu ihrem Schloßberg heraufschauten und sich der alten Zeit freuten, die ferne oben aus den Steinen leuchtete und blühte. Die Stadt des Klatsches, die Stadt der Splitterrichterei und der anonymen Briefe, mein Gott, ja. Aber auch die ewige Stadt der Jugend, der Träumer, der grünen Bäume und des klassischen Otiums, der edel verwendeten freien Muße, dieser freien Muße, die beinahe über den ganzen Erdball sonst rundum abhanden gekommen ist!

Anderswo wären solche Gedanken, wie sie Kantilener hier oben hatte, Narretei und Müßiggang gewesen; – sträfliche Bummelei! Hier waren sie Gottes unmittelbares Geschenk. Denn Kantilener begann damit, sich in den brüderlich nahen Strauch hineinzudenken, der vor Glück und Schönheit bebte.

»Welche Vollkommenheit,« sagte er sich andächtig. »Dieses schöne Geschöpf hat alles in sich selber, was die Menschen sonst teilt und quält. Nur eine Heimat hat er. Er braucht auch nicht die ewig Eine zu suchen; er hat seine Liebste und die Erfüllung seiner Manneskraft in sich selber und das dunkle Bewußtsein seiner Brünstigkeit und seiner großen Schönheit muß mit dem leisen Schlurfen, mit dem er immerdar aus der Erde trinkt, zu einem wunderbaren Rauschen in ihm werden, zu einem prachtvollen Akkord. Wie eine lebendige Kirche zusamt der Orgel ist er und jubelt ein Tedeum.«

»Und wir? Wo ist Allverstehen? Selbst unsere Götter und Erlöser sind selten über ihre politische Gemeinde hinausgekommen; das wenige, was sie uns von dem großen Geheimnis Gottes gesagt haben, ist den alleweile Truggeborenen stets zu weit, zu groß, zu kühl gewesen. Sie stehen vor der immer noch ungeschriebenen, ewigen Religion fröstelnd da, wie der Bauer Knollfink im Thronsaal. Und wie einsam sind wir, die wir uns Gottes Kinder wissen. Nur aus dem Gesetze der Gegenströmungen können wir ableiten, daß ER, der Unermeßliche, unsere tiefe Liebe und Sehnsucht nach ihm, nach Reinheit und Erlösung nicht unerwidert lassen kann! Nicht kann! So wenig, wie der negative Pol leer bleiben kann, wenn man den positiven lädt!

»O, du mein allzu gewaltiger Vater, dennoch hast du mir unmittelbar die Unsterblichkeit gegeben, bloß durch dieses Geschenk: daß ich lieben und verstehen darf.

»Ich liebe die Bäume und Sträucher und die Eidechsen und übersonnte Felsen hier bis zur Anbetung und bin gänzlich in ihnen und bei ihnen. Bin ich dadurch nicht absolut unsterblich? Streicht den wenig erfolgreichen Doktor der Philosophie und der Medizin, Othmar Kantilener, aus und diese, die eins mit ihm sind, bleiben. Ja, sein Staub wird zu solch einem Busche! Seine Sehnsucht wird zum Zugvogel, seine Liebe zum Glück in anderem Menschenherzen! Wie du auch über mich verfügen magst, o Gott, das eine weiß ich: besser wirst immer du es treffen als ich selber.

»Ich bin erlöst; ich sicherlich. Ist nicht das allein schon ein Geschenk, köstlicher als der Duft einer Geliebten? Daß ich mit meinen dreiundvierzig Jahren dahier wie ein träumerisches Bürschel von neunzehn über Gott nachdenke? Ja, ja: über das, was bei denen da unten, allen, die Unsterblichkeit der Maikäfer genannt wird! Sie verschmähen das ewige Arkanum und lachen mich aus. Und doch: Sie alle werden dahin sein, ja Deutschland wird dahin sein, aber die Grübeleien und Ekstasen des Meisters Eckhart und des heiligen Franziskus werden leben. Und als Brüder grüße ich über Jahrtausende hinweg und über alle Grenzen der Sprache die Gottesträumer, die in fernen Zeiten auf den Rasenhügeln sitzen werden, welche über den Trümmern der Peterskirche sich ebenso wie über denen des Kaufhauses Wertheim in hellgrüner, heiterer Gelassenheit wölben werden.

»Aber schön wäre es, schon im Diesseits solche Menschen zu kennen! Das Reich Gottes deutlich in sich selber zu haben und nicht mit Brüdern einen polyphonen Chorus singen können, ja selbst es andern nicht mitzuteilen vermögen, das ist das Harte.

»Ich habe gehört, daß hinter jedem echten Künstlerschaffen unsichtbar das Wort Erlösung steht: der Musiker-Erlöser, der Dichter-Erlöser! Wo sind aber, o Gott, die Erlösten?! Ich denke doch, ich suche sie wieder einmal. Es muß doch, es muß doch noch Menschen auf der Erde geben und nicht lauter Gefoppte der Industrie! Und wenn es welche gibt, dann hier. Hier in Graz, wo ich drollig schöne Jugendtage hatte, bis sie kam, die mir eine schluchzende Glücksminute gab und dafür all die wehmutsvoll schöne Torheit nahm! In Graz! Da steht's: En amour trop n'est pas assez! oder »Hier war ich glücklich!« – Ach, nicht ein einzigesmal habe ich gelesen: ›Heil Bismarck!‹ oder ›Hoch die Roten!‹ Nein, nein, ich bin schon recht am Orte und hier gehe ich suchen. Hollah, was kann aus Cyrus Wigram geworden sein?«

Kantilener entsann sich, daß da gleich unter der Bastei, wo das liebe Weingartenhäuschen war, in dem ein begnadeter alter Schauspieler lebte wie seit je, daß gleich unter dem Felsengärtchen in der Bastei eine kleine Nische war, dreieckig überwölbt und abseits von jenem Wege, den die Allzuallen gerne einschlagen. Dort grübelte Wigram, dort dichtete er, dort schrieb er seine Jungehundeseufzer an den Deutschen Kaiser. Dort saßen auch die werdenden Dramatiker und die unglücklich Verliebten, manchmal aber auch ein schmales Pärchen; lauter Menschen, die Wigram sein einsames Gedankennest nicht verleidet haben konnten, wenn er wieder einmal nach Graz gekommen sein sollte. »Fix ja, ich geh' ihm dort nachsehen!«

Und eifrig erhob sich Kantilener, stieg an dem goldgelben und dem glühroten Strauche und dem Mandelbaume vorbei hinab, sah im Burggärtlein unter dem Künstlerhäusel die weißen und gelben und violetten Flammen des Krokus aus der Erde schießen, bog zwischen den Felsen hindurch, über denen gigantisch die große Bastei in den Himmel greift, efeuberühmt! Dann stieg er ein wenig auf der Felsenseite bergab; wieder ein schmaler Durchlaß zwischen grauen Steinkolossen, dann war der Weingarten mit der Pergola da und das Weglein und die Fliederbank für einsame Verliebte. Ein paar windschiefe Steinstufen hinauf unter die Burgmauer und Wigrams Nische war da! Leer lag sie im Mittagssonnenscheine und nahm den frühlingstrunkenen Mann auf mit einer Flut von Erinnerungen. Oben läutete die ungeheure Türkenglocke ihre hundert tiefen Rufe in das Zwölfuhrgebimmel, das aus der Stadt heraufkam. In diesem tiefen Summen und Dröhnen waren sie einst um die lichtgoldene Frau von Karminell gestanden und ihre jungen Herzen hatten gezittert wie eines Zitronenfalters Flügel im Sonnenglaste. Was war aus den Freunden geworden! Helbig, Petelin waren tot, Zimbal ein dreckiger Lump, der in Operetten kreischte und sich von lächerlichen Weibern aushalten ließ. Arbold renommierte als provisorischer Bezirksrichter alle Abend am Biertisch von seinen ehemaligen Raufereien, Semljaritsch war Gymnasialprofessor in Laibach, fuhr viel nach Belgrad und wollte, der Ärmste, Abgeordneter werden, in Österreich längst nur mehr ein Beruf des bloßen Hasses, zu dem sich (außer ein paar Idealisten) die gesamte innerliche Unanständigkeit des Volkes und dessen vitalster Abschaum drängt! Schleggl war Berufsphilister in Eisenerz; ein guter Kerl allewege, aber ohne irgend ein heißes Wollen.

Heißes Wollen? – Wigram, Bohnstock! Die einzigen beiden. Und vielleicht doch noch der seltsame Verlorene, der sich immer wieder aus dem Pfuhle wand, der Unruhigste, der Sehnlichste, der Casanova und Tannhäuser ihres Bundes, O'Brien! Ja, ja; man muß sie suchen!

Und Kantilener stieg eilig bergab, als könnte sich das heute schon ereignen, daß er einen fand. All die alten Stätten wollte er durchwandern, und wenn es eine ganze Dornenkrone von Enttäuschungen und aufgerissenen Wunden würde! Vielleicht saß einer, nur einer von ihnen wieder einmal da und gedachte alter Tage? Es mußte doch alle so brennen wie ihn, noch immer nicht das Zeitalter unter seine seelische Führung gebracht zu haben, wie jeder von ihnen damals träumte. O'Brien hatte ja Kaiser werden wollen; Wigram strebte das ganze Volk innerlich zu erneuern und er, Othmar, er hatte eine Religion gründen wollen: – du Bubentraum!

Da mußte unbedingt ein bißchen übriggeblieben sein. Wer sucht, der findet.


Vorderhand fand er nichts als ein stilles Grab.

Es liegt ein Kirchenburgstall südlich von Graz an die Berge des Westens geschmeichelt; und der heißt Straßgang. Er ist noch auf seiner Bergnase von den alten Mauern umgeben und die großen Schießscharten, aus denen die Feldschlangen und die Kartaunen auf Türken und Kuruzen herunterdonnerten, die sind noch alle da. Das Pfarrhaus ist prachtvoll hochgieblig und hat fünf Ecken, wie der Bergplatz es hergab, und die Kirche ist verschollen, lieb und still. Vor dem Kirchplatz sieht eine Linde weit in das Land, die ist so groß, daß Kantilener es sich als Junge niemals nehmen lassen wollte: Unter dieser Linde und unter keiner andern hat Herr Walter von der Vogelweide sein trunkenes Lied mit dem Tandaradei der Nachtigall erlebt. O'Brien hatte ihm gesagt: »Aber Othmar, der Herr Pfarrer hätte ja das ganze Liebesscherzo mit angesehen!« Da hatte Kantilener erwidert: »Bitte, das Pfarrhaus ist offenkundig spätgotisch und Herr Walter lebte und liebte noch unter romanischem Baustil!« Es half also auch O'Brien kein Widerspruch und mit Stimmenmehrheit wurde die Linde zur Tandaradeilinde ernannt. Frau von Karminell war sie sich danach selber einmal ansehen gegangen; damals war der Baum ganz durchwühlt von Bienen und blühte wie besessen. Hinter der Linde aber ist ein so traurig schöner und abseitiger kleiner Bergfriedhof, daß Frau von Karminell ihn gleich zu ihrer dereinstigen Ruhestätte erkor. Ihr Wunsch war schneller erfüllt worden, als gut war für das Kind, das sie von Othmar hatte. Denn der Junge, der sich der holdseligen Mutter nur noch wie eines lichten Traumes entsann, wurde dadurch von vorneherein Professorssohn. Ach ja! ganz und gar zum jungen Herrn von Karminell.

Von alledem wußte der arme Kantilener nur, daß Frau von Karminell gestorben war. Er war Gemeindearzt in einem Dorfe bei Graz gewesen, damals; da stand in der Zeitung die Nachricht; ihm selber hatte man nicht einmal einen Zettel geschickt, denn er galt um jene Zeit allgemein und besonders der Universität für einen hartgesottenen Roten, während er mitten in der Armut seiner Fabrikbevölkerung eben nichts weiter war als Mensch. Der volle gütige Mensch, der es nicht lassen konnte, sich auch im Lebenskampfe derer anzunehmen, deren Elend er als Arzt zu lindern versuchte. Als er den Namen der Frau Else las, hatte er geweint, wie nur das Kind weinen konnte, das er sein Lebelang geblieben war. Wie hätte es ihn erst ergriffen, wenn er gewußt hätte, was er der allzu eleganten Frau immer noch gewesen war! Das Lied von der Dachstube am Gries, die apostolische Armut und Güte, die Welt der Innerlichkeit, kurz alles, was sie verloren hatte, wie der reiche Jüngling die Gesellschaft Christi. Traurig war sie in ihre vielen Güter zurückgegangen und in die Welt, die aus lauter Reflexen und aus keinem eigenen Lichte besteht. Aber sie war zu tief, um von dort aus nicht Heimweh nach der allerliebsten Torheit ihrer verschollenen zwölf Schwärmer zu haben. Othmar war ihr das verlorene Paradies geblieben und eine unsägliche Zärtlichkeit für den Vater ihres Kindes hatte dies Seingedenken bei der nervösen Frau bis zu einem fast religiösen Kult gesteigert. Davon nun erfuhr er freilich nichts. Einmal trug ihm Zimbal die Nachricht zu, daß die Karminells einen Buben gekriegt hätten und Kantileners Herz zog sich einen Augenblick zusammen, aber nur vor Eifersucht auf den Herrn Professor, der ja nun doch seine Frau wieder bezwungen hätte. Dann, gleich nachher, brachte er Herzensgüte genug auf, um sich zu freuen, und schrieb einen so lieben, frohen und unbefangenen Glückwunschbrief, daß Frau Else bitterlich weinte und der Herr Professor sagen mußte: »Schade, daß er Sozialdemokrat geworden ist: ich hätte ihn zum Taufschmaus eingeladen.« Da hatte nun freilich Frau Else erschrocken zu entgegnen gehabt: »Um Gotteswillen, du brächtest dich um deine Reputation!« – Othmar blieb im Exil.

Die lichte Frau war in der Karwoche gestorben und immer, wenn die Wolken unruhig zu werden begannen und die Amseln sangen, lagen auf ihrem Grabe genau die Blumen, die sie am liebsten gehabt hatte, und die sie oft mit Othmar zusammen gesucht. Herr von Karminell verstand es zwar nicht, daß man gemeines Kraut wie Primeln, Leberblümchen und Seidelbast »adorieren« konnte, wie man sich damals in jenen Kreisen noch ausdrückte, aber getreulich legte er die Kinder ihrer Schrullen auf ihr Grab, wenn wieder die Amseln im Waldfriedhofe Auferstehung und Torheit loshatten. Heuer hatte er aber einen Schnupfen, mußte seinen Vorlesungen entsagen und kam auch nicht auf den Friedhof. Das war ein glücklicher Zufall, denn sonst hätten sich die beiden Kindesväter dort etwas verlegen bekomplimentiert. Und über dem Grabe Frau Elsens, wenn man sie näher kannte, wäre das eine Szene gewesen, bei der die oft übermütige und allem Humor leicht geöffnete Frau noch im Sarge zu kichern angefangen hätte. Sie war eine Seele gewesen, aber ein kleiner Teufel saß ihr immer im blondkrausen Haar über dem wunderschönen Nacken.

Herr von Karminell hatte immer feierlichen Staat angezogen, wenn er zu seiner verehrten Frau Gemahlin auf fünebren Besuch kam. Der arme Kantilener kam in einem langen Überzieher aus Loden, der wie ein gealterter Sohn jenes bekannten ersten aus der Annenstraße aussah, den sonst niemand auf Erden sich zu kaufen verwogen hätte. Und er kam mit einem blutenden, aber blühenden Herzen voll Zärtlichkeit und brachte alles mit, was er wußte, daß Frau Else es in solchen Tagen liebte: Weidenkätzchen, Primeln, treuherzige Leberblumen, weiße und gelbe Buschwindröschen, mit weniger Worten, den ganzen Speisezettel ihres Naturhungers, wenn März zu Ende ging.

Daß sie sich überhaupt begraben lassen konnte! Dergleichen war gut für arme, unbelehrte Seelen aus jener Zeit noch, da man die Unsterblichkeit ganz handfest nahm. Seit man aber weiß, daß das mit der Seelenkonserve sehr viel komplizierter sein dürfte, als die bisher benützten Religionen, außer der indischen, zu denken erlaubten, und gar, seit der arme Helbig dem Tod so wundervoll überlegen geantwortet hatte, indem er alles Flüchtige an sich dem Feuer, seine Asche aber dem Wind überantwortet hatte, seit der Zeit begriff Kantilener gar nicht, daß die Menschen weder eine neue Religion, noch einen neuen Totenkult ergriffen hatten. Denn beides gehört zusammen. Und er verzweifelte deshalb mit an dem modernen Lebens- und Staatsbetrieb. Der Mensch ist ganz bestimmt nicht bloß da, um es, wie die sozialen Erlöser wollen, bis zu einem eigenen Badezimmer zu bringen; das wußte er aus Gründen, über die in diesem Buche Herr Rabesam noch einiges sagen wird.

»Die Welt, in der wir nicht leben, hat entsetzlich viel mehr Fernen als die, die uns soeben äfft.

»Die Flamme ist das große Symbol dessen, der reinlich dahinfahren will. Aber daß sich selbst der peinlichste Gentleman von Würmern schänden läßt, beweist, daß er bloß für die ihm zugemessene Zeit was taugte, und nicht für länger. Es gibt ein ungeheures Sein außer den Trugbildern dieses Lebens und ihm hat man als Symbol einen gereinigten Leib entgegen zu halten. Aber nicht den großen Komposthaufen mit den vielen, vielen Goldplomben darin.«

Das waren die Gedanken Kantileners, als er wieder einmal so eine Abfallstätte menschlicher Pietät betrat, wo auch die Schönheit dieser Frau der Fäulnis überlassen worden war. »Infam, infam,« sagte er leise. Nur, daß der Friedhof ganz am Walde und auf glückseliger Höhe lag, stimmte ihn etwas weniger grollend. Er suchte das Grab. Ach, Gottseidank, es war eine Gruft! Daß der Reichtum sich doch eine Annäherung an die zarteste Pietät erlauben darf! Nicht, weil er es versteht, sondern bloß, weil er prahlen will!

So stand denn der arme Kantilener vor dem marmornen Grabstein und las den singenden Namen: Else von Karminell. Darunter die kurze Spanne Leben in Zahlen und dann, weiß Gott von wem angeregt, zwei Verszeilen:

»Der Sang ist verschollen,
Der Wein ist verraucht …«

Herr von Karminell mochte dies Lied in jungen Tagen wohl gerne gesungen haben … und mit verbissenem Schluchzen las Kantilener den Anruf. Er setzte sich, wie ein Bettler am Klostertor, an den Rand der Gruft und verbarg sein Gesicht.

»O, du, du Kunstwerk Gottes, was ist aus dir geworden, was von dir überblieben? Hätte die Religion nur dies einemal recht mit ihrem Troste: persönliche Unsterblichkeit! Bei dir wäre es kein Hohn, wenn ein verklärtes Spiegelbild deiner zärtlichen Erscheinung ewig erhalten bliebe! Wo bist du, was ist geblieben? Nur zwei Dinge überleben uns: die himmlische und die irdische Liebe! Die irdische Liebe gibt uns im Kinde eine weitere Frist, göttlich zu werden; die himmlische, die in uns lag, geht als unverlierbare Kraft ins Unfaßbare hinaus, aber sie bleibt stehen, ewig! Was wir in unserm Leben an Sehnsucht nach Gott, an Güte, an Menschenliebe, an Verständnis für Tier und Pflanze herzenstief angesammelt haben, das wird Gott anheimgegeben und besteht als selige Kraft, als gereinigter Geist weiter! Aber wer diese Liebe nicht sammelte in sich, der ist für ewig tot, wenn keine Kinder sein Menschenleid weiterleben; – das ist so.

»Du, Frau Else, warst schön. Aber du warst das rechte Trugbild dieses Lebens!

»Du warst elegant und mondän: wie klingen solche Worte über einem Grabstein! Sind sie nicht ein Hohn? Das lebt nicht weiter. Das sinnliche Leuchten deiner geliebten Erscheinung wird dahin sein, wenn unsere wehmütige Erinnerung an dich mit uns gestorben sein wird. Es lebt, um dich zu erlösen und zu verklären, nur dein Knabe! Und der hat das Blut des Professors zu dem deinen; ist er also noch tiefer in den Irrtum der Zeitlichkeit hinabgepreßt als du selber? Könnte ich ihm sein, was du mir warst, ehe wir in Sünde fielen: Berater und Freund, ich würde ihm viele Tiefen öffnen, von denen die Herren vom Messer und vom Mikroskop nie erfahren werden!

»Denn nur die Ahnung des Kindes sieht hinter den Regenbogenfarben dieses Lebens das Auge Gottes.«

Er erhob sich.

»Du schönstes Trugbild, schlafe, sei zu Ende und schlaf! Ich glaube nicht, daß Jesus Christus auch das Weib erlöste. Es muß so bleiben, wie es ist, um dieses Leben immer von neuem ad absurdum zu führen.

»Du Erlösende und selber Unerlöste, die sich mir hier auf Erden so sehr überlegen fühlte: Ist deine Klugheit hier zu Ende samt der Schönheit? O du herrliches Kind: – Schlafe!«

Und ganz abseitig und versunken ging er die Steintreppen, die vom alten Kirchenkastell zum Orte führen, hinunter und merkte es gar nicht, wie er schon lange auf der Fahrstraße war. Auch hier ging er in diesem summenden Grübeln. »Was will Gott? Wie mag er unsere aufgespeicherte Kraft, zu lieben, weiterleiten?«

Solche Gedanken darf nun aber ein Menschenkind wohl in der Wüste haben oder im Hochwald; auf der Straße herrscht jedoch der Kutscher und der Kraftwagenlenker. Ein solcher, ein ganz eiliger, rannte den armen Träumer denn auch beinahe ins Jenseits hinüber. Weder Hupe noch zornigen Zuruf hatte Othmar Kantilener gehört; ja so sehr vertieft war er in seine Gottsucherei gewesen, daß er, gänzlich geistesabwesend, den heranflitzenden kleinen Wagen anstarrte, als habe der gar keinen Bezug auf ihn, trotzdem Kantilenerchen die schmalste Stelle der Straße versperrte. Dicht vor ihm riß der Führer des Wagens noch die Bremsen an; aber der Schwung des kleinen Gefährtes war noch so heftig, daß es auf seinen starr gewordenen Rädern wie ein Schlitten ein Stück weiterschoß. So bekam Kantilener einen derben Puff und torkelte, um sich greifend, zur Seite. Zornrot sprang der einzige Fahrer und Führer aus dem spielzeugleichten Wagen. Ein eleganter, ganz junger Herr, aber er fand in seinem temperamentvollen Ausruf nicht Maß noch Gleichgewicht:

»Da hört sich doch alles auf! Wenn Sie nicht blind oder taub oder betrunken sind, so sind Sie ein Idiot!«

Erstaunt und langsam aufwachend sah Kantilener dem jungen Herrn in das schöne und erregte Antlitz. Er griff sich, langsam zu dieser Erde wiederkehrend, an die Stirne und sagte: »Verzeihen Sie; aber das hat jetzt wirklich so ausgesehen. Sie haben ganz recht. Und doch trog hier der Schein.« – Leiser fügte er, wie zur Entschuldigung, hinzu: »Ich komme nämlich von den Toten. Da ist man sehr leicht den Lebenden zu langsam. Und nun gar den Allergeschwindesten! Ja, ja; ich werde künftig besser aufpassen.«

Der junge Herr starrte ihn sprachlos an, als müßte er herausfinden, ob und wo er hier verhöhnt würde. Als aber Kantilener all dieses mit einer milden, bittenden Stimme sagte und den viel Jüngeren ungemein bescheiden aus seinen blauen Augen ansah, da fing dieser unwillkürlich zu lachen an; erst verlegen, dann offen und hell. »Nein, was sind Sie für ein Kauz!? Gott sei Dank, daß ich so eine Naturmerkwürdigkeit nicht überfahren habe! Leben Sie wohl und – leben Sie vorsichtiger!« Und er fuhr den steilen Bergweg hinan, stolz, daß sein Wandererwägelchen die wahnwitzige Steigung immer noch zu nehmen vermochte.

Auch er fuhr auf den Friedhof und zu demselben Grabe. Im Auftrage seines erkrankten Papas, des Herrn Professors von Karminell, der ihm einen großen Blumenstrauß mitgegeben hatte. Und als der junge Herr dort oben im Rauschen der Wälder an die Gruft seiner Mutter trat, da fand er, ganz frisch und eben hingelegt, einen gleichen Strauß derselben Blumen, wie er selber sie mitgebracht hatte. Und er schrak zusammen, als ahnte er die Lösung eines Rätsels.

Solchermaßen hatte Othmar Kantilener seinen Sohn, den Frau Else von ihm hatte, kennen gelernt.


Und keiner der beiden Männer kam vom andern mehr los in seinen Gedanken, fortab.

Kantilener sagte sich vorläufig wohl nur folgendes: »Da ist nun wieder einer von denen, die sich für glücklich halten, weil sie weder bei der Infanterie zu dienen brauchen, noch eine Dachstube bewohnen müssen, noch dasselbe Lodenkleid fünf Jahre lang tragen. Einer von den Verlorenen, von den ganz Untergesunkenen von Geburt aus. – Wie schade! So schön! So leuchtende Augen! So biegsam in jeder Bewegung! Ihm werden die schönsten Mädchen zufallen; viel zu oft und viel zu schnell, als daß er die Gnade Gottes erraten lernen wird, sich zu sehnen. Nie wird er die ganz große Liebe kennen lernen. Ja, weil sich ihm, scheinbar, alle schenken werden, so wird er nie die Wonne kennen, sich selber zu verschenken. Ich möchte wissen, ob der überhaupt nur das geringste Hinneigen nach einer Religion hat! Denn Religion heißt immer: ›Gib dich her!‹ Unsere Zeit wird aber von Medizinern geleitet und erzogen. Ach, so vieles sie entdecken, niemals können sie hindern, daß sie unter sich so viele schlechte Menschen haben. Zynisch, ungläubig, erwerbsüchtig und ungemessen im Reichtum sind ja ihre ersten Vorbilder; das verdirbt viel vom Nachwuchs und nie hat irgend ein Mensch so viel Schamlosigkeit gehabt als manchmal diese neuen Beherrscher der Erde. Weil sie dem Allzuirdischen, dem Leibe dienen, leugnen sie jedes Geheimnis und jedes Symbol, so deutlich es sein möge. Für sie ist diese Welt allein da und keine andere. So haben sie es zustande gebracht, daß kein Mensch, der auf gesunde Vernunft hält, sich um das mehr kümmert, was mit ihm gemeint sein könnte. Und doch entsteht und vergeht jedes Menschentum mit der Sehnsucht nach dem großen Geheimnis! Wer nicht immer wieder die Sterne fragen muß: Was ist Unendlichkeit? der ist ein Tier, und wenn ihn seine Berufssippe zehnmal als Genie ausschreit.

»Und er ist von Medizinern erzogen! …

»O du lachender Junge in deinem kleinen Auto: ein Tropfen Morgentau bist du und hast noch alle sieben Farben des Regenbogens, des allzu schönen Irrtums. Gebe dir Gott das Abendrot der Nachdenklichkeit!«


Und wieder der junge Herr von Karminell dachte über Kantilener nach: »Er kam von den Toten,« sagte er. »Er war der einzige hier auf dem Friedhof. Er hatte so was Abwesendes und dennoch Wissendes, daß mir unheimlich war, eben während ich laut über ihn lachte. Hat der die Blumen auf das Grab meiner Mutter gelegt? Er kann nicht viel über Dreißig sein; na, es ist kaum anzunehmen, daß er sie geliebt hat, die freilich von vielen geliebt worden ist. Vielleicht also ein armer Verwandter, dem sie Gutes tat, und von dem die hochnasige Familie nun nicht mehr reden mag. Mit dem Wagen hier hole ich ihn schon irgendwie auf der Straße ein und frag' ihn ein bißchen ernster aus. –

»Nein, dieselben Blumen; wirklich ganz dieselben Blumen!«

Als der junge, reiche Mensch aber wieder einmal unten auf der Fahrstraße war, wenig gerührt von seiner verwesenden Mutter Grab, da fiel ihm ein, daß die schöne Verene Magelon in solchen Frühlingstagen gerne nach der Villa ihrer Eltern in Tobelbad zu kommen pflegte. Er hatte ihr oft angetragen, sie, bei diesen frühen Abenden, in seinem Wägelchen rasch nach Graz zurückzubringen. Denn er war sehr verliebt in sie. Aber immer hatte sie geantwortet: »Was würden die Leute sagen, wenn man uns sähe!« Auf seine letzte von den oft wiederholten Bitten aber hatte sie geantwortet: »Eigentlich, ja. Denn schließlich sind Sie noch ein halbes Kind und ins Gerede kommt man doch eher mit älteren Leuten.«

Das hatte ihn verstimmt. Aber immerhin: sie fuhr mit ihm und er hatte sie dann ganz allein bei sich. Vielleicht entführte er sie auch. Er griff unwillkürlich nach seiner Brieftasche. Au! Zuviel war nicht drinnen. – »Bleibt also die kleine Spazierfahrt allein übrig.«

Er fuhr in rasender Fahrt nach dem schönen Waldbade und bemerkte gar nichts. Weder vom Abend, noch vom Walde, weder vom Glück noch vom Elend dieser Welt. – »Dritte Geschwindigkeit,« »zweite,« das sind ja so oft die ganzen Gedanken derer, die zuoberst stehen im Glückszustande jenes Volksgefüges, das Staat genannt wird, und das, in so ungeheurer Mehrheit, aus ganz gleichgearteten Wesen besteht. Die paar Leute vom Schlage Kantileners: wie kamen die nur überhaupt in diese Welt? Morbus dei?

Ein wenig festlich war dem jungen Karminell schon zumute, weil er der schönen Verene Magelon entgegenfuhr. Aber solche, mit Zucker überfütterte, reiche Art Söhnchen kennt die ganz tiefen Wonnen der Sehnsucht nie. Er war bloß ein wenig aufgeregt. In ein Wunder, das jede Liebe ist, fuhr er, seinem Empfinden nach, gerade nicht hinein.

Verene Magelon war mit ihm ungefähr gleich alt; kaum achtzehn. Aber sie war alles, was eine junge Dame werden konnte. Schön, biegsam, elegant. – Sehr gescheit und aufgeweckt nannten sie sogar die Gleichgültigsten. Ach, sie war mehr. Das rechte Trugbild dieser Sinnenwelt war sie, dazu gemacht, immer von neuem den Mann an die verrückt schönen Märchen dieser irdischen Zeitspanne zu kirren. Als der junge Karminell mit seinem kleinen Wagen, der wie ein Hermelin lief (er war auch weiß), heransurrte, stand sie auf der Gartenterrasse, hielt sich an einer Säule und dehnte ihre junge Geschmeidigkeit im Frühlingssonnenschein, wie sich ein blühendes Bäumchen kokett im Winde biegt. Unbewußt tat sie es. Sie hatte bloß ihre Freude dran, daß der hübsche und hoffnungsvolle Junge auch zu ihren Gezähmten gehörte und rankte sich wie ein Kätzlein an ihre Säule.

Der junge Sportsmann sprang aus seinem Wagen: »Ach, Verene Magelon, Sie sind heute schön!«

»Ach, Herr von Karminell, ich bin verliebt!«

»In wen?« fragte der Junge verdutzt.

»In nichts Bestimmtes. In diesen Tag, in irgend etwas, das kommen muß, in mein eigenes Glücksgefühl, in meinen Spiegel, in Ihr kleines Auto, in alles!«

»Wieviel kommt davon auf mich?« fragte er in knabenhafter Freude.

»Soviel Sie verdienen. Machen Sie mich berauscht, wie dieser junge Pfirsichbaum da, weil er vor dem dunklen Fichtenwalde in seinem sonnigen Hellrosa steht. Bringen Sie mich in ein Märchen hinein; haben Sie keinen Zauberstab? Bitten Sie diesen Apfelbaum, er möge jetzt gleich blühen, statt in vierzehn Tagen. Sie können doch so wunderschön bitten; ich weiß das gut! Bitten Sie ihn; es muß ein Wunder geschehen und zwar geschwind!«

»Ach, Magelon, er tut's nicht,« sagte der Junge trocken. »Das sind wieder Ihre Dummheiten!«

»Und mich bitten Sie, kleiner Karminell, ich soll blühen vor der Zeit?« sagte sie langsam und sinnend. »Sehen Sie wohl, daß Sie keine Wunder tun können? Es wird aber einer kommen, der wird es können,« fügte sie geheimnisvoll hinzu. »Sie da inzwischen sind mir lieb und wert und Sie werden sich jetzt neben mich setzen und gar nichts reden, sondern wir werden zusehen, wie der Pfirsichbaum zittert und wie der dunkle Wald aufbraust.«

Er gehorchte ihr und Frühling war …

Da Karminell vorderhand nichts zu erwarten hatte, begann er wieder über seine seltsame Begegnung nachzusinnen und je mehr Magelon es ihm ansah, daß er sich mit ihr gar nicht mehr beschäftigte, desto aufmerksamer betrachtete sie ihn. Endlich hielt sie selber das eindrucksvolle Schweigen der Sonnenstunde nicht mehr aus und begann verwundert: »Karminellchen, das wäre was Neues an Ihnen! Mir ist wahrhaftig, ich glaube, Sie denken

»Ja, ich denke,« sagte er, ohne ihren Spott zurückzugeben.

»Ist es geeignet zur Wiedergabe?«

»Ja, es ist seltsam,« sagte er leise und beinahe scheu.

»Ach, Sie, da wäre es ja, das Wunderbare, auf das ich gewartet habe!«

»Für Sie ist es kaum wunderbar; aber vielleicht hilft mir eine Ernüchterung. Hören Sie zu …«

Das schöne Mädchen rückte mit einer Hast zu ihm hin, daß man ihr ansah, sie wollte unbedingt, daß nun Allerseltsamstes käme.

»Ich bin heute einem ganz – wie soll ich sagen? – einem ganz verdummten oder einem ganz überirdischen Menschen begegnet. Mit blauen Augen, die wie aus einer andern Welt mich und meinen Wagen anschauten, als führen wir nicht mit sechzig Kilometer Geschwindigkeit geradezu auf ihn los. Ich schreie, ich hupe wie verrückt, er bleibt in seiner Trance und sieht mich an, so daß ich Pneus und Bremsen beinahe zerriß, um ihn nicht in Stücke zu stoßen. Er hat ausgesehen wie ein verklärter Landstreicher. Rein und nett angezogen, aber so, daß man sah, der weiß in seinem Leben nicht, daß das vor zehn Jahren modern war, was er gerade am Leibe trägt. Nur der breite Schlapphut war zeitlos. Er mochte so einige Dreißig sein. Ich schimpfe auf ihn los wie nicht schön; das stört ihn durchaus nicht. Und er erwidert mir mit einer ungemein sanften Stimme – warten Sie nur, wie denn? Ja, so hat er gesagt: ›Ich komme nämlich von den Toten. Da ist man jedem Lebenden zu langsam und Sie sind ja einer von den Geschwindesten.‹ Ohne Spott hat er es gesagt; ich habe genau achtgegeben; eher mit einer milden, geistesabwesenden Trauer.«

»Ich komme von den Toten. Da ist man den Lebenden zu langsam,« wiederholte das junge Mädchen. »Seltsam, wirklich seltsam. Und Sie erzählen das wunderhübsch!«

»Warten Sie nur, es geht noch weiter,« sagte der junge Mensch. »Ich war nämlich für meinen Papa auf dem Wege zum Friedhof, um meiner Mama ihre Lieblingsblumen auf die Gruft zu legen; ganz armselige Blumen aus dem Wald und aus den Auen der Mur, um die nur sie und mein Papa wissen konnten, daß sie sie alle Frühling haben mußte. Dieser fremde Mensch nun kommt vom Kirchhof herab und auf dem Grabe meiner Mama finde ich genau die Blumen, die ich selber bringe, ganz frisch und eben hingelegt.«

»Und der Fremde?«

»Den hab ich nicht mehr gesehen. Ich bin spornstreichs zu Ihnen.«

»So ist das also erst eine Viertelstunde her?«

»Beiläufig, ja.«

»Aber dann holen wir ihn ja ein, Karminellchen! Fix ins Auto, den muß ich auch sehen!«

»Er wird Sie vielleicht enttäuschen,« sagte der junge Mensch zögernd, ging aber dennoch ankurbeln und wartete, bis Magelon ihre Handschuhe und einen Mantel genommen und die Villa versperrt hatte. Dann stieg sie zu ihm ein und sie fuhren los, indem sie berieten, wie sie den Fremden anreden sollten. Als sie sich geeinigt hatten, wurde das Tempo des kleinen Wagens eifriger und eifriger, denn mit großer Spannung sah das neugierige Mädchen dem Abenteuer mit dem Landstreicher entgegen und trieb den jungen Freund an.

So summten sie am alten Kirchenkastell von Straßgang vorüber und aufs Geratewohl gegen Puntigam, weil dort die Straße nach Graz zuging, und die beiden schlossen, daß der Fremde in die Stadt gegangen wäre. Da und dort fragten sie. Ja, man hatte ihn gesehen. Magelon wurde fieberhaft.

Wo die Triesterstraße ziemlich hoch über den Murboden hinläuft und eine liebreizende Aussicht über Wiese und Au nach Osten hin beherrscht, stand der fremde Wandersmann und sah in das viele Blühen der Bäume hinaus. Sachte hielt das Wägelchen hinter ihm; Verene Magelon hielt den Arm des jungen Karminell in einem förmlichen Angstkrampf fest. Ihre Aufregung steckte ihn an und er war ganz heiser, als er den in Sinnen verlorenen Fremden anredete: »Haben Sie Sinn für eine so einfache Aussicht?«

»Nur für das Einfache,« sagte Kantilener und wendete sein ruhiges Gesicht den beiden zu. Das dumme Mädel schrie leise heraus, als sie es sah.

»Es ist lieb hier und friedlich,« sagte Karminell verlegen.

»Ja,« sagte Kantilener. »Und doch stand gerade hier vor sechzig Jahren der Galgen. Darum wohl heißt die kleine Prärie hier ›Herrgottswiese‹. Man kam da am schnellsten näher an Gott.«

Verene Magelon zitterte an allen Gliedern, aber sie fragte den fremden Mann in einer Neugier, die gar nicht mehr zu bändigen war: »Sie kennen also Gegend und Geschichte? Was sind Sie?«

»Arzt, Prediger, wenn ich allein bin; Philolog, alles Mögliche. Für die meisten nichts Rechtes. Ich bin nur die alte Heimat wieder ansehen gegangen. Sie ist immer noch voll der Wunder und Abenteuer, wie nur je,« fuhr er fort und setzte hinzu, während er in lächelnder Bewunderung das erregte junge Mädchen maß: »Und sie hat so viel Schönheit, wie nur je.«

»Kennt man Sie hier noch?«

»Ich glaube, niemand mehr. Was ich besaß, ist tot oder fort.«

Magelon mußte fragen und fragen.

»Darf ich Sie um Ihren Namen ersuchen? Vielleicht weiß ich Bekannte.«

»Othmar Kantilener,« sagte der fremde Mann gefügig.

Nun stieß der junge Karminell einen Ruf des Erstaunens aus. »O, ich habe viel von Ihnen gehört! So viel Rührendes! Sie haben Ihr ganzes Vermögen den Armen gegeben! Sie sind, – ja, aber: Natürlich haben Sie die lieben Blumen auf das Grab meiner Mutter gelegt?«

Da wurde Kantilener dunkelrot; so kindhaft dunkelrot, daß auch die jungen Leute verlegen wurden. Er wendete sich in die Landschaft; endlich hatte er seine Fassung und sagte mit tiefem Atmen: »Sie sind also der junge Herr von Karminell …«

»Ja, Ottokar von Karminell,« sagte der junge Mensch freundlich. »Und ich bitte Sie, sich als meinen Freund zu betrachten, wie Sie der meiner Mutter waren. Sie hat selten von Ihnen gesprochen, dann aber sehr scheu und andächtig. Sie müssen ein seltener Mann sein, und ich möchte wohl gerne das Glück haben, mit Ihnen zu verkehren.«

»Lieber junger Herr,« sagte Kantilener gerührt, »ich bin ein ganz armer Teufel und schon mehr als schlicht. Sie aber haben eine so selbstsichere Art, daß Sie mich ja jetzt schon stellen und beherrschen. Ich fürchte, diese Art kann von mir nicht lernen; nichts für ungut. Nur Demut lernt von der Armut. Und dann wollte ich selber gerne noch irgend jemands Schüler sein. Es ist nichts in mir, was zuhörenswert wäre.«

»Ich bäte Sie aber so schön,« sagte Ottokar jetzt ganz verschüchtert und im Ton eines Kindes. »Darf ich einmal zu Ihnen kommen?«

»Wenn Sie müssen, dann wird es schon recht sein,« nickte Kantilener. »Ich wohne beim Doktor Vollrat, auch einem von den Zwölfen, von denen man Ihnen sicherlich erzählt hat.«

Verene Magelon hätte gar zu gerne gebeten: »Darf ich auch?« Aber sie brachte keinen Ton mehr hervor. Die Männer schüttelten sich mit langhaltender Herzlichkeit die Hände und zwei aufrichtige blaue Augenpaare drangen fragend ineinander und kamen nicht los vor innerem Staunen. Sie wußten beide nicht, wie ihnen war; sympathisch waren sie sich und dennoch wehrte sich etwas in jedem vor dem andern, das war wie eine Angst. Fassungslos sah Magelon ihnen zu. Als der junge Mann einstieg und sich entschuldigte, daß er nur den einen Platz im Wagen hätte, da wollte sie durchaus zu Fuße den Rest des Weges machen. Aber Kantilener bog mit langen Schritten in die Wiese fort, wo man ihm nicht nachkonnte. Nun fuhren die beiden jungen Leute, und Magelon sah, aufgewühlt in ihren Tiefen, nach dem schlanken, fremden Manne zurück, der wieder ihnen nachschaute und sinnend stand, bis der Wagen um die Ecken der ersten Häuser flog.

Sie war keines Wortes mächtig und Ottokar von Karminell fragte auch nicht. Auch ihm war darum zu tun, bald sein Auto wegzuhaben, das dem Nachdenken sehr hinderlich war; – zum erstenmal.

»Othmar und Ottokar,« dachte Magelon nach und das weitere verkroch sich in ihr, aus jener Scheu, die jedes junge Mädchen das erotische Geheimnis der Natur als etwas Furchtbares empfinden läßt. »Dasselbe Antlitz, dieselben Augen, die gleichen Hände! Und der Junge merkt das nicht!« Sie dachte diese Worte aber nicht klar durch, im Gegenteil; sie verjagte jeden entstehenden Gedanken in einem ganz unsinnigen Schamgefühl. Ja, sie wollte dem jungen Karminell gar nicht die Hände zum Abschied drücken. Er bemerkte es aber in der seltsamen Verträumtheit, in die er geraten war, gar nicht.

Verene Magelon flog nur über den Stadtpark nach Hause, als wäre sie an einem Verbrechen beteiligt gewesen.


Von den beiden Männern, die sich nahestanden, hatte keiner bemerkt, was dem Mädchen solchen Schreck bereitet hatte; daß der eine den andern in Antlitz, Geste und Gestalt vollkommen wiederholte; denn auch der junge Ottokar besaß die beinahe frauenhaft weiche Grazie der Bewegung, wie Kantilener sie hatte. Kantilener saß wieder im Grünen und sann trauernd darüber nach, wie hier Reichtum und Wohlleben eine schöne Menschenseele zu zerstören im Begriffe stand. Manchmal dachte er auch an das wundersame weibliche Gegenbeispiel zu seiner schwermütigen Rechnung, das schöne Mädchen, das ihn gestern so erschreckt angesehen hatte. Was mochte sie dem Jungen sein? Geliebte, Braut, Freundin?

Der Wald rauschte sänftlich um ihn und trug ihm die Blätter des Vorjahres auf Knie und Schulter. Er nahm eines. »Da bin ich selber,« sagte er sinnend. Er sah zu den jungen Birken und Lärchen hinauf, die im Karwochengrün zitterten. »Das sind jene beiden.«

Am Palmsonntage war er in sein Graz gekommen. Denn dieser festliche Tag war jener gewesen, an dem einstens die armen Jungen vom Vereine derer, die aus jeder Lebensstunde ein Kunstwerk machen wollten, von Frau Karminell ans Licht gezogen worden waren. Diesmal weinte der Himmel um die ganze langverschollene Jugendträumerei. Am Montag dann war es schön gewesen und Kantilener war seinem Schloßberge ans Herz gesunken. Dienstag bis Donnerstag suchte er, was von den alten Gesellen noch leben wollte; er hatte bisher nur Vollrat, den Mann mit der absoluten Vernunft gefunden. Es war merkwürdig, daß der kühle Vollrat beinahe ergriffen über dies Wiedersehen war, während Kantilener sich dessen schämte, denn Vollrat hatte viel Erfolg gehabt, Kantilener jedoch war arm geblieben. Wenn schon er selber gar nichts Besseres wollte, so waren ihm doch die scharfen grauen Augen Vollrats unbehaglich; er fühlte sich ironisch betrachtet, während in Wahrheit der vermöglich gewordene Doktor die altchristliche Konsequenz ehrte, mit der Kantilener immer noch alles dahinzugeben bereit war.

»Wo wohnst du?« Kantilener sagte ihm das kleine Einkehrgasthaus am Gries an. Sein Kämmerchen dort könnte er noch lange bezahlen und inzwischen nahm ihn wohl irgend ein Sanatorium als Assistenzarzt?

»Du,« hatte Vollrat gesagt, »ich kann dich brauchen. Ich lasse meine Praxis so nach und nach einschlafen, denn ich habe andere Liebhabereien, als jedem Bierbaß in den Hals zu schauen. Ich werde dir davon erzählen. Übernimm einfach du meine Ordinationsstunden. Ich ziehe in meine Villa, und meine Räume bleiben für dich, bis du eine ausreichende Praxis hast; was von der meinen übrig ist, kannst du haben. Ich gebe in die Zeitung einen Vermerk, daß du mich wegen meiner Krankheit vertrittst – ich habe ohnedies ein Rheuma – und du setzest dich so in bescheidene, aber ganz ruhige Verhältnisse. Einstweilen wohnst du bei mir. Komm!«

Der Freund, dessen mathematisches Talent immer obenan gestanden hatte, führte den staunenden Othmar in ein vollkommenes akustisches Laboratorium, wo Vollrat die genauen Schwingungswerte jedes Tones errechnet hatte, so daß er in abgemessenen Holzstäben, auf Tabellen und verschiebbaren Transponierapparaten sinnlich zu sehen war. Auch das Auge begriff jetzt, was das feindifferenzierte Ohr von Geburt aus wußte. Kantilener bewunderte das alles gebührend, aber für ihn folgerte keine Nutzanwendung daraus. Als aber Vollrat ihm verriet, wie er nun auch sämtliche Licht- und Farbenphänomene genau nach Schwingungswerten gemessen und geteilt habe, da wurde Kantilener aufmerksamer. Da hatte man ja eine klare, mathematische Übersicht dessen, was dem Menschen vom Schöpfer sinnlich zu begreifen zugemessen war.

Vollrat nahm zwei dicke Holzzylinder zur Hand. »Ich habe,« sagte er, »damit ich keine endlosen Papierrollen bekomme, in Spiralen auf diesen Klötzen alle dem menschlichen Ohr als Schall zu Bewußtsein tretenden Schwingungswerte aufgetragen; also vom hörbaren tiefsten Ton bis zu dem höchsten, der das Piepen der Fledermaus an Schwingungszahl noch weit übertrifft; und das ist bekanntlich eine Tonhöhe, die von manchem Ohre schon nicht mehr aufgenommen wird. Ebenso hast du da die Lichtschwingungen und die Farben, vom tiefsten wahrnehmbaren Rot bis an das Ultraviolett. Einige Insekten sind sogar für die unsichtbaren Strahlen noch empfänglich, aber viel weiter als bei uns reicht auch ihre Wahrnehmungsgrenze nicht. Da hast du also die ganze Beschränktheit unserer Sinne in zwei abgesägten Holzstücken praktisch dargestellt.« Und er warf die beiden Zylinder auf die Erde.

»Der kleinere da?«

»Er ist gerade eine alte Elle lang,« sagte Vollrat. »Er umfaßt alle Töne, die wir zu hören vermögen. Der andere ist zufällig fast genau eine Wiener Klafter; das merkt man sich leichter als Zentimeter. Er zeigt, wie gering das Vermögen unseres Auges ist, Schwingungen wahrzunehmen. Nur soweit er geht, gehen unsere Lichtempfindungen. Für das, was zwischen den Schall- und den Lichtschwingungen ist, haben wir kein Organ; weder Auge noch Ohr gibt uns ein Bild von der Beschaffenheit der riesigen Welt von Schwingungen, die zwischen diesen beiden Zylindern liegt.«

»Du, was?« bat ihn Kantilener, »es ist eine ›Riesenwelt‹? Vollrat, sag' mir: Wenn unsere Schallwelt eine Elle weit reicht und unsere Lichtwelt eine Klafter, wie lang müßte dann der Zylinder der uns unbekannten Schwingungen werden?« Kantilener war aufs äußerste gespannt; denn hier verbarg sich für ihn ein Wink Gottes.

Gleichmütig sagte Vollrat: »Ja, ich habe das noch nicht ausgerechnet. Fünfzig Kilometer aber mindestens.«

»Herr Gott, Herr Gott, du Unermeßlicher! Was für ein verschwindend kleines Segment ist uns in unserm Erscheinungskreise gegeben! Durch eine bakterienkleine Spalte bloß sehen wir einen Zwickel der Welt, in der Er lebt!«

Vollrat lachte nur kurz. »Ja,« sagte er; »viel Einblick ist uns nicht zugemessen.«

»Bloß zwischen Schall und Licht solch eine Nacht für uns! Zu wem nun reden diese anderen Schwingungen? Und zu wem gar jene, die über oder unter ihnen ihre endlosen Wellen tragen? Gibt es vielleicht Ahnungsschwingungen, gibt es Schwingungen, die das Phänomen des zweiten Gesichtes in uns erbeben lassen? Oder gibt es gar ein eigenes Reich, das wohl jene Schwingungen begreift, nicht aber die unsern? Reden diese sonnenweiten Harmonien der übersinnlichen Töne und Lichter zu den reinen Geistern? Du, Vollrat, Vollrat!«

»Mein guter Freund,« sagte Vollrat mit unerschüttertem Phlegma, »stelle dich nicht auf den Kopf, es hilft dir nichts. Wer außer das Gebiet des Wahrnehmbaren treten will, der muß irren. Hörst du? Er muß! Metaphysik muß naturnotwendig irren. Gib dich also mit fruchtlosen Spekulationen nicht ab; sie sind lächerlich.«

»Du bist ein Rechner, ein Materialist,« sagte Kantilener bekümmert. »Beweis: Du verstehst nichts von Kunst, und ein so braver Kerl du bist, von Ergriffenheit und Rührung hast du nie was gespürt. Nicht einmal geliebt hast du in deinem Leben, denn du hast dich nie verschenkt! Du, aber, Vollrat! Was kein Verstand ausrechnen und abspitzen kann, was außerhalb von Seziermesser, Mikroskop, Meßapparat, Wage und Tiegel liegt, das erreicht noch, in leisem Erschauern, die Ahnung! Darum beginnt der gänzlich versunkene Künstler, der Asket und der Heilige dort sein Reich, wo Ihr verkündet, Ihr kalten Köpfe: Von hier ab ist Irrtum. – Du nimmst mir all das nicht übel!«

»Großes Kind,« sagte Vollrat freundlich. »Sei glücklich dabei. Mir macht es ja nur Spaß, zu sehen, wie unverbesserlich jung du geblieben bist. Ist der Vierzig vorüber und denkt nach, was Gott mit ihm gemeint haben könnte!«

Kantilener ging fort. Er ging durch den Stadtpark, welcher gänzlich stille war. Er ging und fühlte alle Wonnen der Ungewißheit und ihre Qualen; nie war ihm das Leben so ergreifend schön erschienen als nun, da er seinen Geheimnissen am nächsten gewesen war. Dann ist das Lebensgefühl am höchsten, wenn es am tiefsten ist. Kantilener schauerte vor Glück und Leid. Er ging der Gottheit nach; es war wunderschön, das tun zu dürfen. Und als ihm trotz allem Grübeln gar nichts Rechtes einfiel, und alles nur Gefühl blieb, begann er in tiefem Ernste: »Unser Vater, der du bist im Himmel wie auf Erden« – Er hielt inne und grübelte der Tiefe dieses Wortes nach. Schon in ihm lag die Verkündung, daß es keinen Tod gäbe … »Geheiligt werde dein Name.« Wer ihn immer in sich hat, ist selber geheiligt … »Zu uns komme dein Reich …« Bei ihm, Kantilener, war es. Und inzwischen saßen Menschen in ihren Kontoren und rechneten über Kohle und Asbest nach. »Dein Wille geschehe.« Er nahm jeden Satz an das Herz und staunte über die Ewigkeiten, die das Gebet Dessen enthielt, den viele kluge Köpfe für abgetan und überwunden halten. Dann betete er es noch einmal durch, köstlich langsam und innig. Es war ein großes Glück darin.

Die schöne Verene Magelon ging an ihm vorüber und sah das Leuchten seiner Augen; er selber sah sie nicht; aber als er vorbei war, blieb sie stehen und blickte ihm nach, solange er, zwischen den Baumreihen sichtbar, so dahinwandelte.


Das war am Gründonnerstag gewesen. Und traurig war ihm nur der Gedanke, daß die Karwoche so wenigen Menschen dieses gab, was, in ergreifender Schönheit und Größe, für alle da ist.

Dann war Karfreitag.

Dieser Tag ist in katholischen Landen tief und doch auch sinnlich schön! Er redet zu den Augen und er redet zum Herzen. In den Dämmerkirchen verborgen sind die heiligen Gräber mit ihren gemalten, oft schauerlich anmutenden Wachsfiguren und den bunten Glaskugeln der Grablaternen; es geht das Grauen um und das Geheimnis am hellen, wonneschauernden Tage!

Viele denken heute an Christus den Herrn! Jeder anders …

»Es war der Herr, der gesagt hatte: ›Arbeitet nicht‹«, sprach Kantilener leise zu sich. »Es war der Herr, der zu ganz wenigen sprach, und man hat ihn für die Allzuvielen zurecht gebogen. Es war der Herr, der einer ganz kleinen Gemeinde das Letzte und Höchste des Menschentums kündete: Geht nicht mit den Händlern und nicht mit den Lehrern, die hochmütig sind, und nicht mit denen, die Silberlinge verdienen. Geht zu Gott, auch wenn jene sagen: Sehet, wie ist der Mensch ein Tagedieb! Müßiggang, der Anfang aller Laster, ist der Vorwurf, um dessentwillen die Kinder Gottes verschrieen werden, und ängstlich haben sie sich in den Haushalt der entsetzlich Vielgewordenen, der Andern gefügt. Nun sind sie beinahe ausgestorben, die immer und immer wieder nur zu Gott lenken wollten. Wer sammelt sie wieder? Wann kommst du nochmals, o Herr?

»Entweder einsamer Christ oder gehorsam wimmelnde Ameise! Entweder Inder oder Preuße! Zwischen diese beiden Ideale ist die Menschheit heute gestellt. Herr Jesus! Liegst du denn gänzlich im Grabe? Sende doch Einen, nur Einen, der den Hauch deiner Seele in die Sprache unserer Tage zu übertragen vermag! Ich bedarf eines reinen Meisters; ich bin zu schwach und zu klein gegen die pressende Majorität von Arbeit, Kriegstüchtigkeit und Nutzen! Gegen den ewig wiederholten und ewig betrogenen Markttag!«

Um ihn beben die jungen Birken, unter ihm drängt das kleine Gras, über ihm überhasten sich sorglos, weiß und lieblich, die Wolken. Aber schon hört und sieht Kantilener, wie, gerade jetzt, da oben eine ehrenwerte und sehr kühne Chauffeursnatur mitten durch all die zarte Seligkeit donnert. »Ein Flieger! Einer von den Bewunderten, die nie mehr, nie mehr etwas von der Sage des Karfreitags und vom Parsivalssehnen wissen mögen werden! Und nicht hat er sich aufgeschwungen in den weitblauen Himmel. Herabgerissen zu sich hat er ihn … Unhaltbar und undämmbar überkribbelt das zahllos gewordene Geschlecht der Maschinenanbeter das hellgrüne Land und macht es zu Kohlenfeldern, durchbohrt die Berge, reißt der Mutter Erde den Leib auf und die Eingeweide heraus, wimmelt auf der See und knattert in den ehedem so sehnsüchtig fernen Wolken. Und damit die letzte Sehnsucht von dieser Erde gehe, der letzte Wahn der großen Liebe, deshalb haben die Mediziner den Gott abgesetzt, und dem rührend stillen Priester glaubt kein Mensch von gesunden Sinnen mehr, daß er glaube! Betrüger heißen, die den letzten Rest des großen Symbols verwalten. Damit ein Ideal sei, wird die Gemeinschaft derer obenhingestellt, mit denen unsereins nie eine Sekunde Gemeinschaft hatte! Staat heißt sie. – Herr Jesus, nimm mich zu dir in dein heilig' Grab!«


Es war das nur eine Stimmung, eine reißend schmerzliche, schöne Stimmung, und man darf durchaus nicht glauben, daß der gute Othmar es immer so bitter ehrlich mit Entsagung und Opfertod nahm. Auch war er sonst sehr selten zum Beten gestimmt, sondern er griff sehr gerne nach Wein und Butterbrot und sah hübsche Frauen wenigstens gerne an, in einer halbbewußten Sehnlichkeit. Aber Stimmungen gingen diesem empfänglichen Herzen über alles, und so machte er die Karwoche innerlich mit wie ein Flagellant.

Mittags saß er schon wieder bei Vollrat und freute sich kindisch über die ersten Radieschen, die der Materialist selber gezogen hatte. Vollrat war gut gelaunt und neckte den himmlischen Othmar, als der ihm von dem dämmernden Geheimnis und der Macht der Kirchen erzählte. »Das da ist mein heiliges Grab und meine Auferstehung,« sagte Vollrat und wies auf die lustig roten und prallrunden Früchtchen, die ersten, die das junge Jahr der Sonne entgegenhält. »Ich habe auch allerlei vom Leben wollen, lieber Othmar! Ich habe Universitätsprofessor werden wollen. Aber der Kerl, bei dem ich Assistent war, hat eine arme Alte als Versuchskaninchen benützen wollen, wie schon oft. Ich hab' ihm gesagt, daß ich sie anderswie herum retten könnte. Vor den Hörern war das eine Sünde gegen das oberste Gesetz aller Ärzte, daß eine Krähe der andern nicht die Augen aushacken dürfe. Es bildete sich eine geheime Feme gegen mich. Ich mußte in meine Praxis zurück und selbst da hat mir die Ärztekammer Prügel genug nachgeworfen. Na, ich bin immer gescheiter gewesen als diese armen Kerle, die von andern alles erlernen müssen, was der rechte Arzt aus sich selber findet. Und so was spüren die Menschen! Glaub' mir's! Dem Kerl, der aus sich selber wird, laufen sie nach. Das ist das ganze Geheimnis des Erfolges. Soviel habe ich aus unserer komischen Schwärmerzeit immer noch übrig behalten, daß der einzige Erfolg letzten Endes in einem selber liegt. Hab' ich erst aus mir selber einen Vollmenschen gemacht und diesem Vollmenschen ein Dach über dem Kopf gebaut und ihm Hunger und Sorge ferne gehalten, so habe ich ihn nicht weiter mit Phantomen wie Ehre, Einfluß und Karriere zu behelligen. Da bin ich gar bald von den Menschen fort und zu Gartenbäumen und Hühnern gekommen und zu diesen Radieschen. Ich verstehe, was kaum einer mehr kann, behaglich in der Sonne zu sitzen. Und ich bin auf zwei ganz wunderbare Philosophien gekommen. Die eine gilt mir, die andere der Welt.«

Kantilener wetzte neugierig auf seinem Sessel und steckte vor Spannung sein Radieschen nicht in den Mund.

»Die eine Philosophie ist: Zwischen Huhn, Baum, Strauch, Rettich und Mensch ist gar kein Unterschied. Du hast ohnedies dieselbe Weltanschauung; wir sind alle Brüder. Nur gibt es bequeme und unbequeme Brüder. Menschen gibt es, die sind wie Bäume: so anspruchslos, gebefroh und still. Und Bäume gibt es, die sind wie Menschen: so aufdringlich, auswucherisch und voll Ungeziefer. Jetzt müssen wir zum Beispiel alle Berberitzen hinausschmeißen. Sie züchten den Rostpilz, sind übergierig in ihren Wurzeln, na – und so weiter. Und wenn du dir überdies Darwin zu Herzen nimmst und daran denkst, daß der Affe nicht gar zu weit hinter uns liegt, so kannst du kaum mehr einen Mann ansehen, ohne daß du nicht immer an den schlecht überwundenen, großen, neugierigen, boshaften und neidischen Affen denken mußt, der dich immer wieder aus stumpf begehrlichen Augen anschaut. Besonders in Büros bilden sich die Käfig-Eigenschaften sehr heraus. Das sind auch die Theorien eines meiner Freunde, der ohnedies jeden Augenblick zu Besuch kommen muß. Hallo, bleib' nur da. Er ist ein Prachtkerl, um den es dir leid täte; weich' ihm nicht aus, sag' ich dir!«

»Und die zweite Philosophie?« fragte Kantilener arglos.

Vollrat lehnte sich in seiner leichten Rundlichkeit zurück, schob ein Radieschen in den Mund, um den der kurzgestutzte Vollbart sehr behaglich herumging, und sagte: »Die zweite Philosophie gilt der Welt, gilt den Menschen als Brüdern, als Richtern, als Vorgesetzten, als Abgeordneten und anderen Sichselbstbeglückern. Die ist sehr kurz zusammengefaßt in dem einzigen Zitate, das der Deutsche aus ›Götz von Berlichingen‹ kennt.«

Der naive Kantilener sann nach. »Ich entsinne mich eben auch nur eines einzigen,« sagte er. »Das heißt beiläufig: Ich habe mit mir selber so viel zu schaffen, daß es mich wenig kümmert, was andere mir nachzureden belieben.«

»Hm,« sagte Vollrat, »im Grunde ist es ungefähr dasselbe. Aber Götz drückt das sehr viel kürzer aus, – da, wo er das Fenster zuschmeißt. Und das habe ich gemeint.«

»Na, hörst du,« sagte Kantilener verlegen.

»Du, Othmar, schätze das Zitat nicht gering! Ich sage dir (wahrlich, wahrlich, würde in einem deiner heiligen Bücher daneben stehen): Wer sich bis zur Höhe dieser Weltanschauung emporgeschwungen hat, dem kann nichts mehr geschehen, weder im Himmel noch auf Erden! Der ist bis an die letzten Erkenntnisse gelangt und wenn ihn heute der Staat als Rekrut ins Granatenfeuer schickte, ein Zustand, der nicht jedem behagt; wer dies heilige Wort besitzt, hat einen Talisman, der gegen alles schützt!«

»Vollrat,« sagte Kantilener, »wenn dein Freund, der heute kommen soll, keine tieferen Erkenntnisse hat, so höre ich lieber dem Rauschen zu; – da drüben.«

»Iß erst von diesem wunderbaren Schinken,« sagte Vollrat gemütlich.

Und Kantilener tat es, mit großem Behagen sogar. Der Garten schaute über beide dahin, sie selber vergaben sich leicht und gerne und im Grünen schmeckt alles besser, sogar zynische Grundsätze.

Während des Mittagessens, dem ein sanfter Landwein viel zur guten Stunde hinzufügte, wurde Vollrat ernster und erzählte ihm von Joachim Rabesam, der heute kommen würde. Ein verbitterter, menschenscheuer Sonderling; geradezu der schwarze Geist, das Gegenspiel zu seinem guten Kerl von Bruder, dem Lukas Rabesam.

»Joachim ist die lebendige Absage an alle menschliche Gesellschaft,« erklärte Vollrat. »Er verteidigt sich mit Gründen, die ganz wunderbar sind, und hat seinen eigenen Humor. Halt still, Othmar, du wirst ihn gleich ganz lieb haben! Er ist der jüngere Sohn von dem alten Geologen Rabesam; na, weißt du, der einmal hier eine Berühmtheit für dreißig Jahre war, – wie alle Universitätsprofessoren! Ach, so denk doch nach. Sein System ist doch, dem Namen nach, noch unbekannt. Na also: Der junge Joachim hat nun, genau wie der Lukas, den ganzen Universitätsschwindel, der vor den Augen der ahnungslosen Jungen mit so viel Pomp gespielt wird, durchschaut und hat gesagt: Hat mein Vater sein Geld unanständig verdient, so will ich es anständig ausgeben. Vermögend sein und noch einem andern armen Teufel eine freie Stelle wegnehmen, auf der vielleicht er Besseres wirken kann wie ich, wäre Diebstahl. Ich will von der Welt nichts als Ruhe und Muße, um über sie nachzudenken.

»Beide Brüder haben damals das Gleiche gesagt. Der Lukas im stillen; hat sich auch nach München gezogen und dort studiert, als ob er kein Ende finden könnte. Der Joachim aber ist trotzig unter den Augen seines Vaters ein sogenannter Nichtstuer geblieben. Der Vater hatte ganz recht, wenn er entsetzt war: denn er selber wäre niemals, bei viel freier Zeit, so unschädlich geblieben wie die beiden jüngeren Rabesam, die das gute, reiche Herz ihrer Mutter geerbt hatten! Also gut, Joachim geht auch ein wenig in die Fremde. Eines Nachts kommt er aber zurück, weil ihm der Vater das ganze Taschengeld entzogen hat. Er wollte ihn zwingen, Geld zu verdienen. Es soll mitten in der Nacht einen Streit zwischen Vater und Sohn gegeben haben, der bis in die Dienerzimmer drang. Den Alten hat der Schlag getroffen, er ist umgefallen und hat sich im Sturze an einem Messingbeschlag den Schädel verletzt. Der arme Joachim, der sich alle Schuld beimißt, ruft die Mutter wach, und die zwei Unglücksmenschen legen den Alten, damit nur ja kein Auflauf und falsche Nachrede entsteht, fürs erste ins Bett. Kommt Tag, kommt Rat, denken sie. Der Tag kommt, sie rufen den Arzt, der greift allererst dem Alten unter den Rücken, findet das gewisse Eingesunkensein und merkt, daß der Alte nicht im Bett gestorben ist. – Gerichtsverhandlung! Die zwei armen, geängstigten Hascherln, die Mutter und das Studentel, tun, was sie gleich hätten tun sollen, und berichten die Wahrheit. Alles wäre gut; – bis auf den üppigen Klatsch unserer geliebten Stadt!

»Ja, hätte jetzt der arme Joachim schnell Brot und Brut gesucht! Aber er ist ganz verbiestert gewesen, hat erst recht in keine Advokaturskanzlei eintreten wollen, aus Angst, daß ihm irgendwer anonym schreiben könnte: ›Der Vatermörder will Recht sprechen?‹ Und ohne Beruf mißtrauten ihm alle guterzogenen Väter, Mütter und Töchter. So ist er einsam geblieben, und wieder, weil er einsam und anders war, ist das Gerede der Allzuähnlichen über ihn weitergegangen. Und die Folge so unausrottbaren Klatsches? Denk dir, Othmar: Seit jetzt dreißig Jahren getraut sich der arme Kerl nur bei Abenddämmerung unter Menschen, aus Bitterkeit und aus Angst vor jenem alten Gerede! Niemand soll ihn sehen und er möchte sich am liebsten verkriechen! Sei lieb und offen zu ihm: es tut ihm wohl. Sonst glaubt er gleich, auch du meidest ihn aus Scheu vor der verbissenen Sage, die um ihn tuschelt!«

Kantilener schwieg ergriffen stille. Er dachte bloß: »Der arme, arme Mensch! Wieder einer, der Erlösung braucht, und dem die Liebe abhanden kommen ist ohne eigene Schuld. Wie viele mögen auf solche Weise der Liebe verlustig worden sein?«

»Und sein Bruder?« fragte er dann.

»Der ist schon beinahe ein Greis und ist ein Kind geblieben. Unheilbare Infantilität. Um ihn herum versammeln sich auch lauter unbrauchbare Menschen.«

»Vollrat! Ob man ebendasselbe seinerzeit nicht auch von Christus gesagt haben mochte?«

»Möglich.«

»Wie heilig,« sagte Kantilener, »ist doch alles im status nascendi.«

»Die Liebe nicht,« spottete Vollrat.

»Die Liebe ist nicht dann im Zustand des Geborenwerdens, wenn sie zeugt, wie du anzudeuten scheinst. Die Liebe ist in ihrem status nascendi in der Sehnsucht. Alles Spätere ist Reife oder Verwesung.«

»Othmar Kantilener, iß einen Apfel, nimm Käse und Wein!«

Und wiederum folgte Othmar dem Freunde, der sich nicht im mindesten auf irgend ein Stück Jenseits einlassen wollte, und schmauste mit einem etwas nachdenklichen, aber immerhin diesseitigen Appetit.

Nachher lehnte er sich zurück und sagte befangen: »Es fällt mir zu spät ein, daß ich am Karfreitag Schinken gegessen habe.«

»Bist du kirchengläubig?« fragte Vollrat sehr ruhig.

»Nein; im Gegenteil. Ich mühe mich ab, die Urfährte Christi wiederzufinden. Aber am Tage, da Der litt, dem wir nachsuchen, sollten wir doch nicht prassen.«

»Er hat eine Mahlzeit eingesetzt zu seinem Andenken,« sagte Vollrat gleichmütig, »und sagte selber, daß die Menschen ihn einen Schlemmer schölten.«

Aus solchem Munde waren diese Worte, die nicht behutsam gesprochen wurden, dem armen Kantilener nun aber wirklich verletzend, und er erhob sich, dankte Vollrat für den Mittag durch ein Kopfnicken und ging ins Freie, weiter, immer weiter auf die Berge im Westen los.


Eine Zeitlang überlegte er, ob er nicht umkehren sollte, wegen Joachim Rabesam. Dann befürchtete er einen bitteren Menschen und Zyniker wie Vollrat und stieg auf denselben Waldberg, auf den sie einst, die Zwölfe, in versunkenen Gedanken den Kultus ihrer jungen Herzen gesucht hatten, und von dem aus Helbigs Asche in den Oktoberwind zerflattert war.

Solange er an Vollrats Seite gesessen hatte, mußte er über dessen gleichmütig spöttische Art, allem Mysterium gegenüber, lachen. Jetzt brach wieder die Sehnlichkeit in ihm hervor, es möchte auf dieser Erde doch Bedeutsameres gewollt sein als nur immer diese Fopperei: fressen, um zu arbeiten, und arbeiten, um zu fressen. Und das, nach neuester, nordostdeutscher Lehre, womöglich in Reih und Glied!

Sein Herz rang mit Gott und rief sehnlich die Wolken an; aber die zogen eilig weiter, wie verlegene Herren, die er anbetteln gewollt, und die kein Geld geben mochten. Ihre Antwort konnte er sich selber denken: »Wenn man es mit vierzig Jahren noch zu keiner Ausgeglichenheit gebracht hat, Musjö, so können auch wir nicht helfen.«

Und doch war das sein ganzes, tiefstes Glück, dieses ewige Fragen und Sehnen! Die anderen waren unzufrieden nach außen; er nach innen, bis in den Kern der Schöpfung hinein. Während er aber so stritt und mit Gott rang, geschah ganz sachte das Wunder; denn der Herr segnete ihn aus Baum und Strauch. Es wehten die Buchen und narkotisch gesänftet lagerte er sich auf das wilde Steinmoos und lauschte. Die wunderbar zarten Lärchen hatten Purpurtriebe; so königlich rot, wie keine Farbe ist, nicht einmal im Herbste die des wilden Waldkirschenbaumes. Die Bäume hielten diese ihre inbrünstig roten Weiberherzlein in den blauen Himmel hinein wie Dankopfer und die Hand des Windes streichelte sie, als gefielen sie Gott gar wohl. Das Rot und das zarte Knospengrün waren wie ein Musikmotiv in Farben. »Zwischen Auge und Ohr klafft eine sonnenweite Leere,« dachte Kantilener, »und hier finde ich das Geheimnis, daß ich Musik sehen kann.« Ein selig gelber Falter gab dem Himmel das Sonnenlicht auf strahlenden Flügeln zurück und wippte damit ganz leicht, als empfände er: ich bin der Allerschönste. Es kam aber ein viel bunterer daher, neckte ihn. Drunten stäubte ein Weidenbusch immerzu seinen goldflutenden Weihrauch in das sanfte Waldwehen hinaus, als riefe er: ›ich liebe, ich liebe! Da habt Ihr mich!‹ Und überall schrieb Gott seine traulichen Irrtümer hin: es war nicht zu widerstehen. Da wurde Kantileners Herz rein, voll und stark. Wieder kam dieser Trost über ihn, der bisher einzige gegen den Gedanken völliger Vernichtung: Was kann denn mir geschehen, da doch übrig bleibt, was ich so inbrünstig liebe?

Karfreitag auf dem urzeitlichen Korallenriff, dem immer wieder Schönheit entsproßt, seit den Zeiten der kunstvoll genetzten Steingewebe jener Tiere, bis zum Stäuben der Goldweiden! Einsamkeit, erstes Hummelgesumm, letzter Schneetrotz in den Waldschründen, Falterstille, Windweben, und mitten drin ein einziges, einsames, feiertägliches Menschenherz. Und alles zusammen blüht und schauert und fühlt den Vater der nie zufriedenen Wolken.

Dieses Glück, dieses wehtuende, wildsehnliche Glück, es ging durch Mark und Bein. Der ewig Schweigende hat ihn gesegnet, wie nur er vermag.


Verene Magelon ging in großer und lauter Gesellschaft über den Stadtpark und alle waren sie sehr elegant. Der junge Karminell trug die neuesten Schöpfungen; ein exotischer Baron war der einzige, der ihn an Kostbarkeit übertraf, aber nicht an Gewähltheit. Dazu war noch ein lustiger und berühmter Operntenor mit von der Partie; er war sehr frech und sehr witzig, und alle machten dem schicksten Mädchen der ganzen Stadt den Hof. Sie lachte viel; manchmal war sie übermütiger als alle anderen. Auf einmal fühlte sie etwas wie Müdigkeit und Verdrossenheit und wurde still. Der junge Herr von Karminell kam an ihre Seite: »Magelon, was haben Sie?«

»Ach nichts. Unzufrieden bin ich, wie immer.«

»O, Sie möchten wieder das Wunderbare. Es gibt kein Wunder.«

»Das gibt es. Aber für mich gibt es das nicht. Für Ihre Mutter hat es das Wunderbare gegeben.«

»Sie sind doch jetzt, was ehedem sie war, Magelon! Immer zehn, zwölf Anbeter um sich, immer die berühmtesten und elegantesten Männer. Umworben, alle entzückend –«

»Es kommt darauf an, wen man entzückt. Um mich sind die elegantesten Männer. Um Ihre Mutter waren junge Menschen, die gegen diese Herren aussahen wie Schäferhunde bei Regenwetter. Und dennoch, mir reißt es das Herz aus dem Leibe, – vor Neid gegen Ihre Mutter.«

»Na hören Sie? Lächerlich genug hat sie sich gemacht mit ihren Nazarenern und Havelockmännern!«

Magelon dachte ein wenig nach. »Der Kantilener wollte ja gar ein Religionsgründer werden, hat mir Ihr Herr Papa gesagt.«

»Ja, es ist sonderbar, daß es auf dieser heutigen Welt noch solche Mondsüchtige geben kann. Die ganze Menschheit pfeift ja schon per Dampf und per Hupe auf so veraltete Spekulationen. Das Diesseits ist schön und mächtig und gibt soviel Arbeit und Aufgaben für den ganzen Mann, daß man Weichlinge und Träumer einfach drei Jahre in die Kaserne stecken müßte, um robuste Naturen aus ihnen zu bilden, stark für den großen, allein würdigen Lebenskampf.«

»Sie würden sich auch in den Kasernen nicht belehren lassen und jeden unbewachten Augenblick nach den stillen Waldbergen hinüberträumen,« sagte Magelon sinnend. »Mich ärgert's ja auch, wie diese Menschen, die weder recht Manndl sind noch Weibl, an der Welt vorübergehen. Ihr Reich ist nicht von dieser Welt, pflegt ihre Antwort zu sein auf jedes Ansinnen von der Art, wie Sie es eben gestellt haben. Aber eben deswegen beneide ich Ihre entzückende Mama so sehr. Sie hat zustande gebracht, was dem gescheitesten Kommandanten einer Schulkompagnie nicht gelungen wäre: diese Käuze zum Leben zu verführen, und damit ad absurdum, ja! Ach, ich wollte das auch einmal können!«

In diesem Augenblick kam aber, heimkehrend, durch den Abend Kantilener daher, und er ging, wie ein Rauschen durch Bäume geht; so unirdisch ging er dahin. Magelon griff an ihr Herz; es hatte ihr einen Stich gegeben. Und der junge Herr von Karminell war ernst geworden und still.

Als Magelon ihrer lustigen Gesellschaft dann lange Zeit keine Antwort gegönnt hatte, zerstreute sich diese gelangweilt; eine Weile blieb der junge Karminell noch allein an ihrer Seite; aber auch da redeten sie nichts. Nach dieser Zeit des Schweigens sagte Magelon leise: »Der ist aber doch auch zu sonderbar.«

»Ja; ich kann ihn nicht auslachen, wie ich möchte.« Beide hatten die ganze Zeit an Kantilener gedacht.

Magelon hielt ihrem jungen Freunde kurz entschlossen die Hand hin. »Leben Sie wohl,« sagte sie.

»Wo wollen Sie hin?«

»Allein sein.«

»Magelon, ich habe einen Verdacht.«

»Und wenn ich zu Herrn Kantilener ginge? Ist man neben dem nicht noch viel mehr allein, als mit sich selber?«

»Na, dann viel Glück zur zweiten Frau von Karminell,« sagte der junge Herr ironisch.

»Ich bin anders,« entgegnete Magelon ernst … »und werde anders sein.«

Sie ging; Ottokar von Karminell sah ihr etwas bänglich nach. Sie hatte nicht die weichen und allzu weibhaften, koketten Biegungen seiner Mutter. Sie ging sehniger, sportlicher. Sie war auch blond, ja; aber ihr viel dunkleres Haar war kraus und ihre Augen waren so tiefstahlblau, daß sie unter den feinen und beinahe schwarzen Augenbrauen und den sehr dunklen Wimpern schwarz aussahen. Dazu war sie blaßbraun von Haut. Die einen sagten, sie wäre braun und sähe blond aus, die anderen, sie sei blond, sehe braun aus.

»Ein rasches, entschlossenes Mädel und vielleicht ein wenig pervers,« sagte Karminell bewundernd. »Eine pikfeine Mischung!«

Dann ging er in seinen Klub, wo er langhin im Sessel lag, rauchte und etwas unbehaglich nachdachte, wer der Lächerliche sei: Der Gottsucher mit seiner absoluten Hilflosigkeit jedem Korporal gegenüber, oder er mit den wunderbar gekrempelten Hosen, den pastellblauen Seidensocken und den Lackschuhen mit koketter Masche, Dinge, die er eben erblickte, wie er so an sich heruntersah.


Verene Magelon ging als modernes und freies Mädel resolut den Weg, den sie Kantilener einschlagen gesehen hatte. Über die Allee auf der alten Bastei und dann den Schloßberg hinan. Ihr Schritt war fest und mutig. Bergauf ging sie langsamer. »Ich steige da eigentlich einem Herrn nach,« sagte sie leise lachend, »aber, – er hat das Wunderbare bei sich, und das eben will ich. Oder ich will entlarven, wenn da ein Schwindel steckt.«

Je höher sie in den Abend emporkam, desto mehr entfiel ihr aber der Mut. Die Amseln sangen traurig süß; eine Karfreitagsknarre klang aus der Tiefe. Die Glocken waren nach Rom geflogen.

Verene Magelon stand stille und rang ein wenig nach Atem, obwohl sie gar nicht schnell gegangen war. Die Weichheit dieses Tagsterbens übernahm sie; ein kleines Mädel mit einem kleinen Herzen stand sie jetzt auf halber Berghöhe und wäre am liebsten wieder hinab und davongelaufen. Aber es lockte geheimnisvoll. Und dann war Herr Kantilener so rein. Auch war er nicht mehr jung. Dies, daß ein solcher Mann entweder ganz unnahbar ist oder aber leicht zu besiegen, ganz ungefährlich oder ganz gefährlich, und daß man das immer erst weiß, wenn es zu spät ist, dies geheimnisvolle »Alles oder Nichts« zieht ja die jungen Mädel so sonderbar zu den alternden Männern.

Langsam, ganz langsam und mit klopfendem Herzen stieg Verene Magelon den Rest des Berges empor. Sie wußte dort Bescheid. Sie hatte viel gefragt, seit sie Kantilener gesehen hatte, den unbewußten Vater des eleganten jungen von Karminell. Sie kannte also die Wigram-Nische unter dem Winzerhäuschen. Dorthin trieb es sie. Es wurde, als sie aus den Bäumen beim Uhrturm an die Felsen der Westseite herankam, bedeutend lichter. Im dämmerigen Abendschatten hatte sie sich sicherer gefühlt. Jetzt kam noch die Angst dazu, gesehen zu werden. Aber, schließlich, war sie nicht frei? So gelang es ihr, unbekümmert einherzukommen, obwohl sie Kantilener in der Wigram-Nische sitzen sah. Er hielt aber den Kopf in die Hände gesenkt; da blieb sie entschlossen stehen. Nun war schon alles gleich; ganz aufrichtig stand sie und wartete. Er sah nicht auf, sie besah seine sehnigen Hände; ein Schwächling war er doch nicht. Die Hände gefielen ihr, denn sie ahnte, daß er sie oft geballt haben mußte. Magelon bog und neigte sich wartend ein wenig in den Hüften, dann entschloß sie sich und rief ihn an: »Herr Kantilener?«

Kantilener schrak empor und erkannte sie gar nicht. Höflich stand er auf. »Die gnädige Frau wünschen?«

»Wir kennen uns doch von der Herrgottswiese,« sagte sie ein wenig enttäuscht. Das war der erste Mann, der sie sich nicht gleich gemerkt hatte.

Er machte es aber wieder gut. »Nein,« sagte er, »daß ich mir so was nicht besser einprägen konnte!« Und mit ehrlicher Bewunderung sah er das schlanke Ding an.

»Störe ich Sie?« fragte sie. »Sie schienen in tiefen Gedanken.«

»Das bin ich schon den ganzen Tag und ich bin froh, daß es jetzt so schön anders geworden ist.«

»Bleiben Sie fortab in Graz?« fragte sie.

»Ja,« sagte er. »Es gibt Städte, wo man der Gottheit näher ist als in anderen. Das sind die Städte mit einer Vergangenheit, mit Erinnerungen, und besonders Städte mit großen, stillen Gärten. Ja; Ruinen und Gärten müssen sein. Rom, Salzburg; aber auch Paris, München, Graz. Da kann man spintisieren. Da rasselt es nicht überall. Es weht und rauscht. Wirklich; es gibt Städte, wo man Gott näher ist.«

»Aber dieses Nachdenken über Gott, von dem geht ja doch die bekannte Augustinuslegende? Daß es ebenso klug wäre, das Meer auszuschöpfen. Ist das denn das einzige am Leben, das Sie lebenswert gefunden haben?«

Kantilener lachte ein wenig und sagte dann:

»Denken Sie sich mal einen Mann, der sich hinsetzen würde, um das Meer auszuschöpfen. Ein Gefühl hat er sicher: Ich tue, was kein anderer auf Erden wagt, noch unternimmt. Schon das Gefühl, abseits und außerordentlich zu sein, ist köstlich. Dieses Gefühl hat mich als dummen Buben zuerst angetrieben, großartig nachzusinnen, was mit Gott los sei; – ohne daß ich auf das geringste kam. Aber ich sann nach; das war eben das Köstliche. Die Eitelkeit, auf solche Weise der Eine und Einzigste zu sein, die ist lange dahin, aber die Lust der Besinnlichkeit ist geblieben.«

»Herr Kantilener, könnten Sie mir ein wenig erzählen? Ich habe nie das geringste Bedürfnis nach Mystik gehabt. Aber, seit ich sah, wie es Sie erfüllt und beglückt, bringt mich die Neugierde nach dem Jenseits außer mir! Sagen Sie mir: Kann man denn auf so Dinge kommen, ohne wissenschaftlich zu arbeiten?«

»Zuerst sagt es das Kind; dann kommt der Gelehrte und beweist es,« erwiderte Kantilener freundlich.

»Das ist ja schön, das ist ja wunderbar!« rief Magelon und schlug sich mit beiden Händen an die braunen Wangen. »Wenn's für Kinder zu fassen ist, so bin ich dabei. Warten Sie, ich setze mich da neben Sie und dann erzählen Sie!« Und ehe Kantilener Zeit hatte, verlegen zu werden, denn der Sitz in der kleinen Nische ist ungebührlich schmal, da saß auch schon das reizendste Mädel der ganzen Stadt neben ihm und zog schnell ihren Rock über die feinen Knöchelgelenke herunter. »So,« sagte sie.

Junge Leute, alte Leute gingen vorüber, alle einsam und immer seltener; denn der Abend wurde grau. Mit leisem Neid oder mit Wohlwollen schauten sie auf das offenkundige Liebespaar. Aber während sie ein wenig über die Ungleichheit der beiden an Alter und Kleidung staunten, erzählte das große Kind Kantilener dem andächtig zuhörenden, entzückenden Geschöpfe bloß Geschichten vom lieben Gott.

Es wurde Abend, es wurde Nacht; sie saßen beisammen wie Kinder, denen wohlig gruselt. Und immer wieder tat Verene Magelon eine Frage; kurz, schnell und voll Sensation. Und immer wieder ging die sanfte Stimme Kantileners weiter.

»Wir kennen nur unsere Kräfte nicht. Tiefstes Selbstvertrauen ist zugleich Gottvertrauen. Denn außerhalb des Trugzustandes dieser Erscheinungen sind wir, jedes, der Mittelpunkt des Weltalls. Würden wir uns auch sonst so wichtig fühlen und glauben: wenn wir sterben, muß die ganze Welt sterben?«

»Der Tod, immer der Tod!« rief Magelon nervös.

»Ihn hat Gott in die eine Wagschale gelegt. In der andern aber liegt die Liebe. Sie gleicht den Tod vollkommen aus.«

»Die Liebe«, sagte Verene Magelon träumerisch. Aber leise und unbekümmert um das Vibrieren des jungen Frauenkörpers neben sich redete Othmar Kantilener weiter von der Unsterblichkeit der Maikäfer.

Die Nacht war weich, verliebt und schwül. Die Wolken zogen faul und schlampig dahin, als wären sie zu einem Bacchanal der Naturgötter als Daunenkissen befohlen. Inmitten der freundlichen Aufstellungen Kantileners warf Verene Magelon die kurze Frage hin:

»Sagen Sie, Herr Kantilener, hat Sie wirklich die alte Geschichte mit der schönen blonden Frau so von aller Welt abbringen können? Sie sind ja sterbenskrank geworden, damals. – Aber jetzt? –«

Kantilener schwieg augenblicklich still.

»Ich bin sicherlich ein taktloses Mädel«, sagte Magelon etwas kleinlaut wegen dieses langen Schweigens auf ihre brennende Frage. »Aber ich meine, es ist jammerschade um Sie! Ich weiß ja nicht, ob Sie nicht vielleicht wirklich eine neue Religion zu stiften vermögen. Wenn Sie aber dergleichen nicht vermögen, so geben Sie niemandem etwas und nehmen sich selber viel.«

»Was nehme ich mir?« fragte Kantilener verwundert. »Ich bin doch glücklich damit. Mehr kann man nicht erreichen.«

»Ach so. Sie sind glücklich!« sagte Magelon enttäuscht. »Ich habe mir immer gedacht, Sie leiden sehr und flüchten nur deshalb in die Mystik.«

Kantilener dachte wieder eine ganze Zeit nach. »Eigentlich leide ich auch,« sagte er dann. »Ich leide an der Welt und ich leide vornehmlich daran, daß ich ihr nicht helfen kann. Sie haben zudem recht: ich sollte diese Dinge aufgeben oder sie nur seltener betreiben, in freien Stunden oder zum Privatvergnügen. Ich sage mir das selber, seit ich weiß, daß ein Berufener da ist, des Schüler zu sein mich vielleicht glücklicher machen wird, als wenn ich der Lehrer des Wenigen würde, was mir eingefallen ist.«

»Was sagen Sie da?« rief Magelon. »Es gibt einen Menschen, der Ihnen in diesen Dingen noch überlegen ist?«

»Ach, das ist ja so schön, daß man sich immer noch beugen kann,« sagte Kantilener freudig. »Und daß es jetzt wieder anfängt, das Lernen, das Glück, die Zukunft, wie vor siebzehn Jahren! Es ist seltsam, es ist nachdenkenswert: Damals waren wir Zwölfe aus der Steiermark. Jetzt sind wir Zwölfe aus der ganzen Welt. Damals waren wir um eine wunderschöne Frau gruppiert, blühten und machten alle Bankerott. Jetzt sind wir um einen lieben alten Herrn versammelt in herbstlicher Klärung.«

»Kann man zu ihm?« fragte Verene Magelon eifrig.

»Jeder darf mitgehen. Wir sollen schon seit einiger Zeit mit Herrn Rabesam unsere heiteren Abendpromenaden im Freien beginnen. Denn er ist Peripatetiker. Ich selber werde neu eingeführt und brenne nach ihm. Aber Liesegang und Sellier und einige andere verkriechen sich. Aus Scham, weil sie Herrn Rabesam den längst gesuchten Heiland nicht zeigen können, wie sie allerwärts versprachen.« Und er erzählte dem schönen Mädchen von dem Streiche der Herren Frugiatti, Liesegang und Hatchet. Da hatte sie endlich etwas zu lachen! Kantilenerchen erzählte es wirklich mit Humor; sie war, nachdem sie ihn schon enttäuscht aufgegeben hatte, jetzt beinahe verliebt in ihn! Es war eine famose Geschichte und das beste an ihr war, sie konnte sie wieder erzählen, wenn man sie wegen ihrer nazarenischen Neigungen hänseln sollte. Sie konnte sagen: Ich will mich doch amüsieren! Und in ihrer Freude nahm sie Kantilener an der Hand.

»Gott sei Dank,« sagte sie, »Sie sind ein Mensch geblieben. Diese ätherischen Geschichten stehen Ihnen lange nicht so gut wie Ihre allerliebste Ironie!«

»Die habe ich nun aber Herrn Rabesam gegenüber gar nicht«, sagte Kantilener bescheiden.

»Also ich werde den alten Herrn kennen lernen?«

»Ja; schon in den nächsten Tagen.«

»Kann man sich nicht durch Lesen seiner Bücher auf ihn vorbereiten?«

»Er hat nie etwas geschrieben.«

»Warum nicht?«

»Er sagt: ›Wenn meine Lehre nicht aus meiner Persönlichkeit heraus allein lebensfähig ist, so mag ich sie nicht durch Papier zu einem Mumiendasein bringen. Haben die anderen großen Stifter nur durch ihr Leben und ihr Beispiel die Jahrtausende bezwungen, so gilt das auch mir zum Gesetz.‹«

»Also der wird die neue Religion stiften?«

»Nein; er bereitet nur auf sie vor. Er verkündet den kommenden Erlöser. ›Mein Trost‹, sagt er, ›ist nur einstweilen. Er ist für Euch, die Ihr den Herrn nicht erleben werdet. Der Erlöser wird dasselbe sagen wie ich, aber sein Beispiel, sein Opfer und seine Person werden schmerzensreich und heilig sein, weil seine Zeit schmerzensreich und heilig sein wird. Das ist diese Zeit nicht und darum bin auch ich es nicht, nach dem Gesetz der ausgleichenden Strömungen. Ich bin nur sein Vorläufer, einer seiner Vorläufer.‹«

»Das ist aber eine komplizierte Geschichte«, lachte Verene Magelon. »Also: Wie jede Sängerin ihren Impresario braucht, so will auch der neue Heiland in unserer zerstreuten Zeit erst die Vorbereitung des Publikums zuwege bringen?«

»Verene Magelon, spotten Sie nicht,« sagte Kantilener bittend.

Sie stand etwas verlegen auf. »Ich ärgere mich ohnedies selber oft über mich«, sagte sie. »Man erzieht uns zur Skepsis, zur Nüchternheit; wir übertreffen uns, in unserer Gesellschaft, gegenseitig durch Verleugnung jeglicher Schwärmerei. Aber je mehr ich mit dem Munde spotte, um so heftiger brennt es mir oft im Herzen. All diese lieben Dummheiten möchte ich ja gar zu gerne selber machen und glauben! Jetzt gehen wir aber, Herr Kantilener! Ich werde brav sein. Und zu Herrn Rabesam holen Sie mich ab. Ja?«

Kantilener versprach es.


 << zurück weiter >>