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Die Ohrfeige des Herrn Professors.

Es kamen jetzt aber die Tage, da die großen, stummen Verwundetenzüge aus dem Nordosten nach Hause rollten. Männer wurden herausgehoben, mit eigentümlich weit aufgerissenen Augen, in denen noch jenes Entsetzen über das Ungewohnte und Ungeheure starrte, das später Gewohntes zu werden begann. Es waren die Tage, da niemand wußte, wie es ginge. Nur, daß es dort oben fürchterlich sei, wußten alle. Österreich hatte beinahe allein die dreifache Übermacht des Reiches der zermalmenden Ziffern aufzuhalten. Es tat dies, statt in vorsichtiger Defensive, in rücksichtslosen Offensivstürmen mit dem ganzen, brennenden Temperament seiner Bergvölker. Damals wurde oft durch die unzügelbare Angriffslust der Steirer und Oberösterreicher eine Höhenstellung verlassen und ein Tal angreifend durchquert, um die nächste Höhe zu stürmen, in der eine russische Übermacht defensiv blieb. Ein entsetzlicher Erntesommer war das; garbenweise lagen gerade so kostbare Rassen, wie Österreichs Alpenländler, vor den russischen Stellungen.

Und die spätsommerlichen Straßen sahen Männer ohne Arm oder Beine – damals noch ein grauenvoller Anblick. Und lange dauerte es, bis diese Männer, die ihr Mut, ihr Leid und ihre Standhaftigkeit mehr verschönt als vier gesunde Gliedmaßen einen jungen Bengel, den Frauen zu gefallen anfingen.

In diesen Frühherbsttagen ging der junge Herr von Karminell gedankenvoll umher. Jetzt erst begann er, den Rabesamschen Geschichten nachzusinnen und Menschen, wie der kindliche, wenig männlich scheinende Kantilener, für den er durch den Spott Magelons nach und nach eine Art mitleidiger Geringschätzung bekommen hatte, schienen ihm jetzt recht notwendig für die Menschheit. Beinahe ehrfurchterweckend, wegen ihrer Güte und Liebe.

Kantilener tat in den Spitälern dreifach Gutes. Als Arzt stellte er einen ganzen Mann; seine Hände und sein Sinn waren aber weich wie die einer Frau und dazu hatte er eine einfache Philosophie und eine Kraft des Tröstens, daß alle die vielen zu ihm kamen, welche das große Unglück hatten, ihren Kinderglauben verloren zu haben. Arbeiter, die an den alten Gott nicht mehr glaubten, Handelsangestellte und Handwerksleute, sie alle waren in Schmerz und Elend, sahen den Tod nahe oder ein freudlos Leben vor sich und fragten jetzt verzweifelnd das uralte: Wozu! Und alle griffen nach Büchern. Alle lasen.

»Abgesetzte Kunst!«

Der junge von Karminell diente beim Roten Kreuz und sah, wie sich diese Enterbten des Herzens Jesu um den gütigen Arzt drängten, der ihnen in den bangen Stunden zwischen Tag und Nacht vorlas. In jener Stunde, da die Abendglocken läuten, wenn die Wunden am bittersten brennen und das Menschenherz am wehrlosesten ist, erzählt er ihnen wohl auch Geschichten wie eine Märchenmutter. Eine Zuversicht und Heiterkeit strömte von dem alternden Menschenkinde aus, wie sonst nur von Herrn Lukas. Aber Herr Rabesam war viel allein; Kantilener konnte kaum ohne Menschen sein. Er war viel werktätiger als der etwas weltferne, alte Herr mit dem zur Absonderung neigenden Blut der Rabesame.

Jetzt war auch der junge Karminell alle Abend in den bangen Vesperstunden im Verwundetensaal, wo Kantilener vorlas oder Geschichten erzählte, auf alle Fragen Antwort gab und so recht das Konversationslexikon dieser vielen, unbelehrten und wißbegierigen Menschen abgab. »Fragt mich nur aus«, sagte er. Und die guten, armen Kerle, denen freilich auch der zweifache Doktorgrad Kantileners imponierte, sagten unter sich: »Der Herr Assistenzarzt weiß alles.«

Eine liebende Ehrfurcht war immer um ihn; er war diesen Menschen unentbehrlich und zehn Jahre später noch werden sie in allen Nöten ihres Lebens oder Gewissens zu ihm Rat erfragen kommen.

In diesen Sälen sah der junge Karminell, wie wenig die Nation bedeutet, und wie sehr das Menschentum alles ist. Russe und Serbe fand sich hier in einem mit dem Magyaren und Rumänen: diese einfachen Leute, die des Volkes immerfrischen Grundstock ausmachen, hatten aber zugleich – (alle!) – ein Gottesbedürfnis ohne Maßen! Nur wo Mammon hingegriffen hat, dort fehlt dies tief philosophische Fragen: bin ich ewig? Und darum weiß davon auch niemals die Welt, die mit Feder und Druckerschwärze alle Macht und alles Volk zu besitzen glaubt.

Aber alle dreißig Jahre gebären sich die Bauernmassen neu; die Arbeitervölker jedoch und das Stadtgewimmel, denen Gott nichts mehr sagt, sterben geschlechterweise aus.

Wer aber nahe bei Baum, Tier, Wolke und Wind lebt, der frägt immer wieder neu: Was bedeutet dies alles?

So wurde der junge Karminell nachdenklich. Was ihm bisher wie ein Sport erschienen war, sich mit Gott zu beschäftigen, das erkannte er nun als der gesündesten Menschheit Ursehnsucht; als das Fragen gerade der Frischesten; derer, die sich in Kindern fortsetzten. Und denen hatte man die Religion genommen!

Er wurde ernst und nachdenklich. In diesen Tagen begann ihm sein Papa immer mehr zu mißfallen. Der Herr Professor von Karminell hatte seinen Patriotismus genau so schön gepflegt wie seinen ergrauenden Assyrerbart. Das Wort »Staat« nahm er immer in den Mund, wie ein salbungsvoller Geistlicher den Namen Gottes. Triefend!

Alles einsame Menschentum war für diesen geölten Herrn abgesetzt und der Priester schien ihm eine lächerliche, veraltete und nur als notwendiges Übel zu duldende Einrichtung. Die wirklichen Priester waren ihm der Nationalökonom, der Ingenieur und der Jurist. Den oft eigenbrödlerischen Schullehrer liebte er jedoch nicht sehr. Man müßte gerade dem Lehrer das individuelle Wort stutzen, ja verbieten. Er sei Mittel zum Zweck. Der Zweck sei der »Staat«.

Der Herr Professor, der den Staat so hoch stellte, war persönlich ohne jede Menschenliebe. Jedoch er sagte: »Man muß kollektivistisch denken.« Aber bis nicht alle Menschen das gelernt hatten, gab er keinem Armen einen Kreuzer. Er las nur radikalvölkische Zeitungen und also war er, der gesichert zu Hause saß, für das unbedingte Kämpfen bis zum bittersten Ende, für das »Weißbluten«, für ein Nibelungendrama und für heiligste Pflichterfüllung des Volkes. »Es handelt sich nicht um Dasein und Wohlsein,« sagte er. »Nicht die Wohlfahrt darf angestrebt werden, sondern die Pflicht. Nicht der Einzelne darf wünschen und hoffen; er hat es für alle zu tun.«

»Wer ist dies: alle?« hatte sein Sohn einmal, etwas gereizt allerdings, gefragt. »Doch die Menschheit?«

»Es ist der Staat.«

»Aber das ist ja doch nur ein zufälliger Zustand. Oder eine gewollte Sippe, also ein multiplizierter Egoismus und dazu oft genug ein gewaltsam diktierter? Ein durch Presse und Schule majorisierend wirkender Zustand weniger Jahrzehnte?«

»Die Erziehung zur Pflicht wird ihn zum ewigen Zustande machen.«

»Dann muß er sich aber stets mit anderen Zuständen reiben?«

»Das ist dann eben der Krieg.«

»O Menschentum! Zu einem saubern Schlusse gelangst du mit deiner Erziehung zur Pflicht!«

»Du!« sagte der Herr Professor drohend. »Das ist so eine krankhafte Blüte von deinen Nazarenern her? – Ich hatte gedacht, du machtest diese Perversionen mit, wie irgend einen andern Sport! Aus Abwechslung und mit der Ironie, die einem jungen Weltmann geziemt. Solche Krankheitskeime darf man aber nicht in sich eindringen lassen.«

»Wenn du mit deiner Meinung allein stündest, Papa,« rief der junge Mensch eifrig, »so würde ich sie mir sehr wohl bedenken. Aber deine Meinung gerade ist in diesen Tagen durch alle Zeitungen durchgedroschen, deren Redakteure sich beeilen, dem Staate in ihrer Stellung unentbehrlich zu werden! Sie ist die Meinung aller. Siehst du, und deshalb ist sie mir verächtlich.« – – –

Worauf Herr von Karminell aufsprang und seinem Sohne ins Gesicht starrte. Er fand dieses entrückte, junge Antlitz so blutsfremd, so ungeheuer absagend gegen sein eigenes Wesen, daß ihn eine instinktive Wut erfaßte. Und er schlug mit der Hand mitten in dies Gesicht hinein, das ihn mit Haß erfüllte.

Der junge Mensch schien sich einen Augenblick auf seinen Vater stürzen zu wollen. Aber er beherrschte sich und seine Züge änderten sich vom Zorn zu einem namenlosen, traurigen Erstaunen; er wendete sich wortlos ab und ging.

»Bleib!« herrschte ihm der Professor nach. Aber der Junge floß unempfindlich davon wie Wasser.

Von dieser Stunde an war sein ganzes Wesen verändert. Er trug den Schlag wie ein Brandmal.

Sein tiefer Ernst, das Leid, das auf seinem Gesichte stand, fielen auch anderen auf und Verene Magelon kam ihm wieder näher. Teilnahmsvoll, wie sie durch ihre unglückliche Neigung für den einsamen und alternden Joachim geworden war, fragte sie den Jugendfreund aus, der noch viel zu kindlich war, um es nicht wie eine Wollust zu empfinden, einem schönen, mitleidigen Mädchen ein bißchen das Herz auszuschütten.

»Warum ich traurig bin? – Ich habe meinen Vater durchschaut.«

Magelon stockte vor Schreck die Stimme. Sie verstand Ottokars Worte anders. Endlich meinte sie: »Nun wissen Sie aber doch endlich, wohin Sie gehören?«

»Es ist eine Schande,« sagte der junge Karminell tonlos.

»Es ist keine Schande, einen so guten Menschen zum Vater zu haben; einen, der die ganze Welt immer nur beglücken und erlösen möchte! Haben wir nicht beide, gleich vom ersten Augenblick an, ein tiefes Gefühl für Kantilener empfunden?«

»Was sagen Sie da?« schrie der junge Mensch wie irrsinnig auf.

Und als die furchtbar erschrockene Magelon mit ihren Entschuldigungen und ihrem Leugnen seine Seele nur mit immer größerem Mißtrauen füllte, wendete der Sohn Frau Elsens eine Reihe von verzweifelten Tagen daran, nachzuforschen, wer die Freunde Kantileners zu jener Zeit gewesen, um die er entstanden war. Kantilener schien ahnungslos und unbefangen; vielleicht wußten es andere. Und so erpreßte er dem nüchternen Vollrat, der das alles sehr natürlich und gar nicht aufregend fand, den Bericht über Kantileners beinahe tödliche Krankheit, in die ihn Frau Elsens Weigerung gestürzt hatte, sich ihm wieder zu schenken. Aus den Fieberphantasien wußten Vollrat und Wigram, was geschehen war. Das Weitere erzählte die überraschende Ähnlichkeit von Vater und Sohn und das Schlußkapitel trug der junge Karminell selber in seinem Herzen. – Er wußte, wie seltsam innig und immer wiederholend seine schöne Mutter von dem armen Studenten Othmar Kantilener und seiner Dachstube am Gries geredet hatte, als wollte sie dem jungen Menschen ein verklärtes Bild einprägen, wie er selber werden sollte.

Er aber hatte als reicher Professorensohn Tennisschläger und Lenkrad am Auto gewählt und hatte nur sehr platonisch an Dachstuben gedacht.

Das war jetzt vorbei, und von dort oben am Gries kam er her. – Der junge Mensch war wie in Stücke gerissen. Bisher war er auf sein adlig Blut stolz gewesen; denn die Karminells entstammten einer alten und trotzigen Graubündner Familie, die es mit Jürg Jenatsch, dem schweizerischen Wallenstein, gehalten hatte und mit ihm blutsverwandt gewesen war. Damit war es fortab nichts. Er war der willensschwache Sohn eines langhaarigen Nazareners. Eine furchtbare Demütigung!

Seine Mutter war eine Lügnerin gewesen, eine heimliche Ehebrecherin, und als das Produkt stand er jetzt in dieser Welt da; zerfallen und enterbt in dieser klirrenden Kriegswelt.

Tagelang rannte der ärmste Junge herum, dem alles entstürzt war, was ihn in seinem bisherigen Leben gestützt und hochgemut erhalten hatte, und er fühlte nichts als ein Ameisenlaufen in allen Gliedern, ein bleiträges Nichtsein. In Wahrheit aber: er war in demselben wehrlosen Zustande, wie eine Schmetterlingspuppe es ist. Und auch in einem ebenso bedeutsamen. Wenn sich jetzt nicht das Blut Frau Elsens und jenes des Kantilener, dem er mit Abscheu und Angst auswich, kraftvoll erwies, dann war ein schönes Leben voll glücklicher Möglichkeiten zerstört.

Der leidende Junge stürzte zuerst zu Herrn Rabesam, wie ein Kind zu Muttern rennt. Alles lief, wenn in Herzensnot, zu dem silberweißen, alten Haupte.

Aber Herr Rabesam war fortgereist, sobald die Fahrt nach seinem lieben München wieder freigeworden war. Die Halfström war noch da und packte sein geringes Eigentum, das sie ihm nachbringen wollte. Ein paar Kisten Bücher.

Und die Halfström trug das Kleid der Schwestern vom Roten Kreuz und sah aus, wie ein silber- und goldenes Madonnchen.

Das ausgezeichnete Mädchen fühlte beim ersten Blick auf den Eintretenden, daß der junge Mensch seelisch todwund sein müsse. Sie geriet selber in Angst, als sie ihm sagen mußte, daß Herr Rabesam neulich leider mit Steinen beworfen und am Kopfe verwundet worden sei. Beschimpft und mit namenlosen Briefen verfolgt war er von je. Er erstattete durchaus keine Anzeige, aber er war still und nachdenklich in sein menschlicheres München zurückgegangen.

»Rabesam weg! Ja, soll ich denn gänzlich verlassen sein!?«

Da nahm die Halfström, die sonst in ihrer Berührungsscheu beinahe prüde schien, den hübschen, blassen Jungen ganz nahe an sich heran, indem sie ihm beide Hände an die Schläfen legte und ihn so zu sich zog, und sagte zu ihm in ihrem reizenden Schwedisch-Deutsch: »Ich bin die Tochter zu Herrn Rabesam. Was Sie ihm wollten sagen, das können Sie sagen mich. Ich will es haben ganz nahe da an mein Herz, als ob ich Sie liebte.«

So großmächtig waren diese Worte eines reinen und treuen Weibes, daß der haltlose junge Mensch fürchterlich zu weinen begann.

Und die schöne, ruhige Schwedin tat, was sie noch nie einem Mann erlaubt hatte. Sie legte das Haupt des zerstörten jungen Menschen an ihre Brust und ließ ihn da weinen, als wäre sie die, die ihn geboren.

So verwandelte sich ihm das reißende Weh: immer milder, immer süßer, immer gesegneter. Als er etwas ruhiger geworden war, riß er selber sich erschrocken von den reinen Formen des Mädchens ab und stand beschämt auf. Sie aber blieb freundlich und milde.

»Und jetzt reden Sie,« sagte sie voll Liebe und Güte.

Da stürzte er dem guten Mädchen wirklich die Geschichte seines ganzen Leids und seiner Haltlosigkeit vor die Füße hin. Sie saß stille und schien bewegt. Endlich sagte sie:

»Sie verachten also Vater und Mutter. Das ist schlimm. Denn so ein Mensch hat viel Neues zu beginnen. Er muß nämlich damit anfangen, sich zu achten selber. Er muß beginnen ganz neu, als wäre er der erste Mensch, aus Gottes Hand. Neu und ohne Ahnung. Es ist aber schön, so neu anfangen, denn man ist an all dem Alten schuldlos. Nicht, Herr von Karminell?«

»Lassen Sie dieses ›von‹!« stöhnte er.

»O, das kann man sich ja auch selber verdienen! Seien Sie nur adlig bis tief hinein, wie der junge Student war, der Ihr Vater wurde. Und ertrotzen Sie von sich selber das Bewußtsein dieses Wortes ›von‹.«

»Durch einen Betrug meiner Mutter,« schrie Ottokar.

»Reden Sie mehr ruhig. Ich glaube, es ist Ihnen unmöglich, zum Beispiel, schlecht über mich zu denken. Ich weiß, daß über mich nie ein anständiger Mensch schlecht denken könnte. Da hören Sie mich aber an: – Ich selber hätte mir alles gefallen lassen von so einem jungen Studenten, der sein Hab und Gut den Armen geschenkt hat wie Herr Kantilener und der unter Entbehrungen von der Philosophie auf Medizin studierte; weil er gesehen hat, ich kann den Armen so noch besser helfen. Wir sind dazu geboren, um von einem Mann genommen zu werden. Und wir sind dazu da, um uns dafür zu bewahren, daß uns nur der allerbeste Mann nehme. Oder auch der, welcher unserer am meisten bedarf. Ihre Mutter hat sich nicht weggeworfen. Sie hat sich verschenkt aus Rührung und aus Großmut. Und sie hat eine Lüge getragen ihr ganzes Leben lang. Das ist furchtbar! Und was ich von ihr weiß, so war sie so, daß es ihr auch furchtbar war. Darauf kommt alles an.«

»Ich möchte lieber von einem Raubmörder abstammen als von einem zu weichen Manne!«

Da zuckte die Halfström zusammen. Sie wurde rot und rief in ganz ungewöhnlicher Lebhaftigkeit: »Dieser Weichling (so heißt es ja auf Deutsch?) sieht von dieser Erde fort in einen höheren Zustand hinaus; in den Tod und in die Ewigkeit! Das nur macht zum Schein ihn unbrauchbar für diese Welt. Oder wenigstens nicht volkstümlich. Er hat vielleicht ein müdes Blut, aber ein edles! Ihre Mutter aber hatte ein allzu neugieriges. Mir kommt vor, das ist eine gute Mischung.«

Der junge Mensch sah auf. Die Halfström lächelte klug und gütig. Ottokar sah ihr in die graublauen Augen, in denen nichts stand als Reinheit.

Er atmete auf. »Jetzt,« sagte er, »jetzt bedrückt es mich nicht mehr so. Es bedrückt mich bloß noch, daß ein Mädel wie Sie mir so überlegen ist – an Gescheitheit, an Güte, an Kraft, an Charakter.«

»O!« sagte die reizende Schwedin mit der ersten Koketterie, die er an ihr bemerken konnte. »Ich werde schon auch noch die schwache Stunde haben.«

Aber ihr lieber, tiefer und heller Blick sagte zugleich: »Mit dir nicht!« Und so ging er.

Am andern Tag stand Ottokar bescheiden, fast demütig vor dem stattlichen Herrn Professor, der für seinen Vater galt, und kündigte ihm an, daß er von dessen Ansichten überzeugt worden sei. Er wolle ins Feld.

Herr von Karminell erschrak. Der Entschluß war ihm zu radikal. Aber er ließ sich wenig anmerken und verlangte von seinem Sohne bloß, er müsse drei Wochen in Graz bleiben, um sich das zu überlegen. Er dachte: Inzwischen faßt ihn das Leben schon wieder. Dann ging er würdevoll auf den jungen Herrn zu: »Da du dich durch deinen bloßen Entschluß schon vor mir gereinigt hast, so bitte ich dir hiermit in aller Form den Schlag ab, den ich dir leider gegeben.« Und er küßte den Träger seines erlauchten Namens kühl auf die Wange. Erschauernd hielt der junge Mensch stille, und dachte: »Ich lüge für Muttern weiter.«

Sein Entschluß war gefaßt. Er wollte sein verhöhntes Leben hinwerfen und sterben gehen.

Sterben gehen! Wenns auch vorerst bloß Vorsatz ist: Die Kleinen macht der Gedanke kleiner; die großen Seelen aber werden überirdisch von dem Anhauch dieser Hoffnung auf das gewaltige Tor, das zur Umformung hinausführt. Und: In Wahrheit! Diese drei Wochen machten aus dem jungen Karminell ein Wesen, das nicht mehr sehr von dieser Erde war. Er wußte, daß er den unsichtbaren Kranz des Opfers trüge. Und ohne daß er zuerst an Herrn Rabesam dachte, verbreitete sich in ihm jene enorme Stimmung, welche jeder kennt, der sich jemals dem Tode in Fassung nahe fühlte. Sie läßt das Ich verschweben und eins mit dem All werden.

Er ging durch die Alleen und jetzt sagte auch er zu den Bäumen: »Wir«.

Er sah seine Verwundeten liegen wie bange Kinder und half ihnen und erfuhr, daß auch ein Mann sein kann wie eine Mutter, wenn er mehr geworden ist als bloß Mann. Eine Weihe war über ihm und eine milde Reife.

Er sah jetzt den Vater, der ihm dies Leben gegeben, ruhig neben sich; er ertrug ihn und half ihm still, ohne Erregung. Er diente. Zum erstenmal in seinem Leben diente er.

Kantilener redete ihm liebevoll ab, an die Front zu gehen. Liebevoll und klug. »Wie Sie sich in diesen Kriegswochen vertieft und verändert haben!« sagte er. »Das viele Leid hat Möglichkeiten in Ihnen eröffnet, seelisch groß zu werden, daß ich staune! Nein, Herr von Karminell, Sie könnten noch Besseres tun, als sich dort zu opfern, wo die heiligen Ziffern stehen. Ja, ja: diese Ziffern sind heilig, aber eben Ziffern!«

»Ich bin nichts als eine Ziffer. Ich gelte für einen Knaben. Ich will ein Mann sein. Eine so schöne Gelegenheit findet in den nächsten vierzig Jahren keiner mehr, sich wegzugeben!«

»Man kann sich jeden Tag weggeben. Zwanzigtausendmal kann man sterben, wenn man will,« sagte Kantilener, »denn man kann sechzig Jahre lang jeden Tag opfern. Man kann absterben durch Sichversenken ins Leid: durch Mitleid mit andern, durch Liebe.«

Da wurde der junge Karminell ein wenig nachdenklich. Aber er sagte: »Das ist übermenschlich. Soviel kann ich nicht. Ich will bloß geben, was ich vermag. Also mein zusammengepfuschtes Leben.«

Eine große Ehrlichkeit war über ihn gekommen. Er wußte, er müsse ganz von vorn beginnen. Daß so Schweres bald enden dürfe, war vorderhand eher eine Erleichterung der plötzlich ernst gewordenen Aufgabe, zu leben.


Aber die Alleen, diese Alleen von Graz im Herbste! Sie machen so weich. –

Sie rauschen sänftlich, als redete Liebe; sie haben Farben, wie nur die Sehnlichkeit malt; sie verführen zum Leben und sie machen die Todesangst doppelt groß. Wen unter diesen goldenen Bäumen der Wunsch gepackt hat, zu leben, dem reißt es am Herzen! Die Glutfarben dieser Alleen gegen den blauen Himmel, ihr langsames Dünner- und Lichterwerden, ihr Blätterwirbeln, das letzte Laubrascheln auf der Erde, das ist ein Sterben, so innig, wie es von Millionen Menschenkindern kaum einem gegeben ist. – Seltsam auch, daß diese Herbstfarben gerade beim größten Friedhof, an der Straße nach dem Süden, am leuchtendsten glühten.

Und wenn der junge Karminell ruhelos durch die Blätterbrandungen rauschte und sie ansah und Herrn Rabesams großes Wort leise vor sich hinsagte: »Das bist du«, dann beneidete er die Blätter und die verwitweten Bäume, diese fast unsterblichen Bäume, über denen ein maßlos blauer Himmel hing, um ihr selbstverständliches Fallenlassen. So gelassen ließen sie ihre Blätter fallen wie der Staat seine Menschen. – – –

Dabei hatte, mit dieser wehrenden Lebensliebe, auch die Einsamkeit den jungen Ottokar angefaßt. Jetzt verstand er, wie jener Joachim Rabesam so unabänderlich an seiner Einsamkeit hing!

Das Kainszeichen der Menschenscheu ist gar bitter und gar süß aus Fluch und Segen gemischt, so daß nie mehr von sich selber los kann, wen einmal die Schlange ins Ohr gebissen mit ihrem Flüstern: Du bist Gott, wenn du dich von den Allzubewußten abtust und schon in diesem Leben zu den ersten fünf Schöpfungstagen zurückkehrst, zu denen jeder kehren muß.

Diese ersten fünf Tage: sie hatten keinen Krieg! Die Sperlinge freuten sich übermütiger denn je des Erntereichtums, die Amseln huschten durch das Falllaub, die Eichhörnchen sammelten Mast und fütterten ihr Winternest mit behaglichen, wärmenden Stoffen. Karminell sah an den Zäunen und in den Hecken die Schmetterlingspuppen; alles ging wie immer, und was die Menschen Übles trieben, das hatte keinen Bezug auf die kleine Welt. Da überkam manchmal eine namenlose Sehnsucht den jungen Mann, dennoch zu leben, aber nur mit jenen Unbewußten! In diese Herbstabende hineinzuleben, tagsüber in den enterbten Alleen grübeln, abends bei traulicher Lampe ein menschenfernes Buch betrachten; oder dem Nachtwind zuzuhören. Wohl möchte er auch Briefe schreiben; aber nur an abermals Einsame, die in adeliger Stille da und dort, fern, über die Erde hin wohnten und den Wolken nachblickten. Nach München an den silberweißen alten Herrn; nach dem seltsamen Moskau an den russischen Religionsschwärmer Mitrophanow; nach Oerebro an die stille und schöne Halfström. Wenig ließe sich ihnen sagen und doch viel!

Und diese Stadt Graz ist zum Einsamsein so unendlich gütig gemacht! Du hast die Weite, du hast die großen Parke, ohne die die Einsamkeit der Städte fürchterlich wird. In den Mauerreihen der grau wimmelnden Massen kannst du nie du selber sein. Jene Stadt Graz aber ist zu alledem noch übersichtlich und traulich wie eine Stube, gegenüber den ungeheuerlichen Austernbänken aus Ziegel und Zement, Berlin und Wien.

Die Sucht, neu zu leben, sog also und zog und lockte um sein Herz. Die Welt war schöner als je. Aber der junge Mann erkannte dies allzu weiche Hinträumen als seines Vaters Blut. Er wollte härter werden und darum mußte er hinaus.

Eine letzte Probe hatte er noch zu bestehen. Diese Stadt warb um ihn mit all ihrer berückenden Seltsamkeit, und dazu kamen jetzt ihre ausgesprochensten Kinder zusammen: fast alle Überbliebenen jener Zwölfe von ehemals.

Die allgemeine Einrückung hatte ohnedies viele der alten Glücksucher versammelt. Jetzt kamen noch zwei hinzu. Wigram und, – zum andernmal, O'Brien.

Wigram als Landsturmmann; er hatte südlich von Graz die Bahn zu bewachen; O'Brien aber, der Hauptmann, kam als Verwundeter wieder: – recht nachdenklich! O'Brien war zwar noch der abenteuerliche, heitere und übermütige Weltmann wie nur je; eine ganze Lichtfülle von guter Laune strömte jetzt noch von ihm, wo er beinahe die eine Hand verloren hätte, und wo er furchtbar Ernstes erlebt und gesehen hatte. Aber all das war herbstlicher, reifer geworden: Kaum aus der strengsten Spitalsbehandlung entlassen, stürzte er sofort voll Begeisterung und Ergriffenheit in die lieben, nie vergessenen Gassen seines Graz hinaus, das er seit anderthalb Jahrzehnten so gut wie nicht gesehen hatte! Alles redete ihn an, alles stak voll Erinnerungen, alle Bäume erzählten von Frau Else, von der blonden Mali, von Mädeln und Frauen; ach, und was für Frauen! Und von dummen, dummen Jungen voll seltsamer Streiche!

O'Brien weiß, in wenigen Wochen muß er zum zweitenmal hinaus ins Feld. Und wenn er jetzt auch ein Bataillon bekommt; er kehrt vielleicht nie wieder. Das schuf auch in ihm eine Lebensgier, als sei er wieder zwanzig Jahre alt, und er stürzte sich mit trinkender Sucht auf diese wehmütig goldenen Abschiedstage. Er fraß geradezu, mit allen Sinnen, jene unglaubhaften Farben des steirischen Herbstes; er kostete auf den Märkten alle Früchte, er trug sich Melonen, Feigen, Trauben und Nüsse nach Hause und sah sie stundenlang an, wie sie auf einer zinnernen Schüssel beisammenlagen. Er sagte oft zehnmal langsam und leise das Wort »Oktober« vor sich hin, zärtlich, wie den Namen einer Liebsten; denn das Wort »Das bist du« kannte er noch nicht.

Manchmal ging er auf die Ries, ging abseits in die Wälder und zündete sich an einer recht zigeunerhaften Stelle ein kleines Feuer an, an dem er sich Maronen oder Kartoffeln röstete, damit es so wäre »wie damals«. Und immer überlegte er, ob er nicht zusammenrufen sollte, was von den Zwölfen noch lebte. Wohl fürchtete er zuerst Enttäuschungen. Moralisten mit gezücktem Richtschwerte wie Arbold wollte er nicht mehr sehen. Aber als er Kantilener antraf und sah, wie der jung und dumm geblieben war, da quoll ihm doch das Herz. Zusammen gingen sie Liesegang aufsuchen, der ebenfalls schon in den Tagen des Abrückens an die Front stand und jetzt eigentümlich feierlich und milde geworden war.

Liesegang mußte von den neuen Torheiten der neuen Zwölf erzählen. O'Brien war begeistert!

Die Idee, daß der Heiland partout wiederkehren müsse, wenn die Menschheit nach ihm verlange, machte ihn vor Freude ganz toll. »Es ist so, es ist gewißlich so!« rief er stürmisch. Und sogleich stellte er sich und den Freunden vor, wie Er, der Liebendste, vielleicht jetzt schon draußen auf einem der Schlachtfelder sich über die Verwundeten neigte und sie segnete und tröstete und ihnen half. »Goldklare Helle strömt in sterbende Herzen unter seinem Blick, unter seinem milden Wort. Die Front hat alle Schrecken für mich verloren, seit ich hoffe, daß ich ihn dort finden könnte,« rief er. Seine unbedingte, feurige Gläubigkeit steckte Liesegang von neuem an und alle hatten jetzt einen unmäßigen Jammer, daß ihr lieber, alter Herr Rabesam weggegangen war! Jetzt, wo ihre Tage so wehmutsvoll klar geworden waren! – O, die Steinwürfe von Graz, sie entseelen seine Alleen.

O'Brien raffte flugs Kantilener, Liesegang, Bohnstock und Scheggls alten Herrn zusammen und bat auch Vollrat inständig, doch nur einmal wieder dumm zu sein! Er suchte auch den kleinen Krögensen und Birgid Halfström, in die er sich nach den Erzählungen der Freunde augenblicklich verliebt hatte; aber die waren mit Hatchet nach dem freieren, gesegneten München gegangen. So nahm er sich flugs den jungen Karminell an die Seite, der ja von Frau Else her sein Anverwandter war. Ein kurzes Anstaunen der Gesichter Kantileners und des Jungen, dann zuckte er zusammen und wußte alles.

Es rührte ihn sehr, als er merkte, wie ahnungslos Othmar schien; aber als ihm Vollrat verriet, daß der junge Karminell unter dieser Genesis fürchterlich leide, schloß er den Neffen glühend in sein rasch fertiges Herz ein. »Junge, du bleibst fortab an meiner Seite! Ich bin dein Onkel, dein Freund, dein Hauptmann fortan. Und wenn du willst, dein Vater, bist du doch mein Blut! Du kommst in meine Kompagnie, du wirst, sobald ich weiter bin, mein Bataillonsadjutant; bis dahin bist du so weit vorgerückt. Wir gehen nie mehr auseinander; verstanden?«

Und der junge Karminell wurde zum erstenmal seit langer Zeit wieder froh. Neben diesem stürmisch lebenden Offizier wurde das Dasein ja doch wieder stark und schön wie alter Wein. Er war von O'Briens Blut? Das gefiel ihm.

Diese sechs Freunde, alte und neue, führte O'Brien jetzo festlich nach Süden, wo in silberner Felderweite der starke Wigram als Kommandant einer Landsturmabteilung Wachdienst tat. Allen bebte das Herz vor Freude nach Wigram, so sehr steckte O'Brien sie an.

Das kleine Lager des Landsturmleutnants war reizend. An einem Wäldchen lehnte die aus buntestem Material zusammengenagelte Bretterbaracke, in der Wigrams brave Familienväter hausten wie die Räuber. Wigram selber saß im etwas schneidenden Herbstwinde an einem Lagerfeuer und sah tiefsinnig in die Glut. Es war ein so hübsches Bild, daß sich O'Brien vor Vergnügen beinahe überschlug. Der Wald, die farbenklecksige Hütte, das Feuer, die Fernen – famos!

»Wigram, großer Philosoph! Alter Junge, grauer Klotz, bist du es doch? Kennst mich wohl nicht?«

»O'Brien,« sagte Wigram und zeigte seine enormen Zähne in breitem, ehrlichem Lachen.

O'Brien riß ihm beinahe die Hand aus. Dann drehte er ihn nach allen Seiten. »Laß dich ansehen; Herrgott, das heiß' ich Landsturm! Der Säbel rostig wie ein alter Pflug, die Hosen wie Elefantenbeine, die Schuhe gewaltig! Wigram, eitel bist du alleweil noch nicht geworden!«

»Nein,« sagte Wigram und lachte immer noch. So gefreut hatte er sich schon lange nicht. Er konnte gar nichts sagen. Er schneuzte sich aber zweimal, worauf O'Brien gleich in Rührung geriet und den alten Trotzkopf um den Hals nahm. Dann saßen alle ums Feuer, Wigram machte die Honneurs und verteilte Kartoffeln aus der heißen Asche.

»Was machst du jetzt? Schreibst du wieder ein philosophisches Werk? Dein Lob des Todes hab ich gelesen; ein mächtiges Ding! Weißt du übrigens, daß die Kerle da schon wieder eine neue Religion haben?! Du, eine mordsfeine! Ich bin völlig gewonnen dafür. Aber zuerst erzähle du, was du jetzt machst.«

»Ich stelle ein System der Genügsamkeit auf. Es wird heißen: ›Die göttliche Armut‹ oder ›Das poetische Leben‹. Nach diesem System braucht ein Europäer fortan nur mehr eine Krone höchstens pro Kopf und Tag und die Grundlage ist saure Milch. Ja. Und Kartoffeln. Womöglich selbstgezogene.«

»Aber das ist ja herrlich! Da wirst du ja staatsnützlich, alter Anarchist! Hallo, aber: Du schreibst das doch auch wieder dem Deutschen Kaiser?«

Alle lachten und Wigram lachte gutmütig mit.

Dann erzählte O'Brien alles, was er von Herrn Lukas wußte. Daß der, als Grundregel, seinen Jüngern verbot, einem Anhänger der alten Bekenntnisse seinen herrlichen Kinderglauben zu nehmen! Der neue Glaube sei nur für solche, die den alten endgültig verloren hätten; und das gefiele ihm sehr!

»Ich fühle mich genau wie der Apostel Paulus,« sagte er. »Ich habe den alten Herrn nie gesehen. Aber ich bin viel begeisterter als die da, die ihn natürlich auch schon ein bissel verleugnet haben, diese Petrusse! Und ich werde das Evangelium überall in den Offiziersmessen verkünden; dort wird ohnehin selten was geglaubt; ich verderbe niemand. Und wie seinerzeit ihren Mithras, so sollen auch heute im zerfallenen Europa die Soldaten ihren Soldatengott haben. Fein wird's! Und euer Esel von Katzelmacher hat insoferne recht gehabt, als auch ich sage: Unbedingt müssen wir den Angerufenen der Sehnsucht suchen und haben! Er kann nur auf den Schlachtfeldern sein, denn die Not ist dort so ungeheuer, daß er sicher jetzt schon lebt! Seit ich das weiß, freu' ich mich wieder auf die Front. Ich sage euch, ich habe mir manchmal schon gewünscht: ›Hand oder Fuß weg; nur Ruh' haben!‹ Jetzt geh ich mit einem neuen Herzen hinaus. Und ich hab' da auch einen Sohn. Dem will ich das Mannshandwerk lernen, das eiserne, daß es eine Freude sein soll.« Und er nahm Ottokar Karminell um die Mitte. Der junge Mensch sah endlich wieder aus frischen und zuversichtlichen Augen in die Welt.

»Hast du noch Liebesgeschichten?« fragte Wigram behaglich.

»Du, nein; denk dir! Ich bin immer in bosnischen Garnisonen herum gewesen; dort kriegt man das Interessante nicht zu sehen und das andere hat mir nie gefallen. Dann habe ich auch zuviel körperliche Bewegung gemacht. – Denkt euch, ich bin anderthalb Jahrzehnte der wildeste Jäger dieser wilden Berge gewesen; immer mit den Bracken hinter Wolf, Sau und Bären her! Ich habe drei Bären geschossen und zwei Luchse, die Wölfe zähl' ich garnicht! Wenn ihr zu mir kommt, werdet ihr das Fell einer Bärin sehen; so was Seidenweiches, Schwarzes, Inniges habt ihr noch nie betastet, und ich war der größte Esel, daß ich das göttliche Tier geschossen hab!« Er machte eine Pause: »Heiraten hätt' ich sie sollen!« schrie er dann. »Das wär' die einzige Frau für mich gewesen!«

Die Freunde lachten, als wären sie noch ganz, ganz junge Kerle. Die alte Zeit war vollkommen wieder da, jetzt an Wigrams Lagerfeuer; ihre ergrauenden Haare standen ihnen allen reizend, weil die Augen flammten und blitzten wie damals, als sie, eine seltsame Aktiengesellschaft, das Glück dieser Erde gepachtet hatten.

Einen Augenblick brannte das Herz des jungen Karminell in großer Sehnsucht auf, es möchte doch Friede sein! Jetzt, wo er sein Blut auf der einen Seite in dem abenteuerlich frischen O'Brien leuchten und flammen, auf der andern Seite in dem sich verschenkenden Kantilener träumen sah, kam er sich gar nicht mehr so verfemt und geschändet vor. Er saß fester im Sattel des wilden Tieres Leben; denn er kannte sich selber besser als vordem.

Aber ein ungeheures Vertrauen zog ihn mutterwärts, zum Abenteuer. Der helle, holde Irrtum, die Kraft, die Lebenslust und Leidenschaft O'Briens sollte ihn leiten! Das leiser mahnende, väterliche Blut bekam er ja ohnedies umsonst dazu; das lief ihm nicht aus den Adern. Und so saß er am Lagerfeuer, begierig den alten Geschichten aus einer Zeit horchend, in der er entstehen gemußt.

Er wich keinen Schritt mehr von O'Brien. Und mit ihm fuhr er hinaus in den frischgefallenen Schnee der Karpathen; trostvoll und sicher!


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