Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Das Wundmittel.

So war Herr Lukas. Trotzdem seine Wunde nie recht verheilen wollte und ihn schon etwas schwach machte, war er immer noch Trost und Aufrichtung geworden für viele Jüngere und Stärkere. Kantilener siechte immer noch innerlich dahin; aber der Anruf zum Leben, zu diesem Leben hier auf Erden, den der Weise ihm wie einen Keim in die Seele gelegt hatte, er dehnte sich und schwoll doch ganz insgeheim. Die Halfström war viel bei ihm; wie es schien, auf einen Wink Rabesams … O'Brien war zwar durch Herrn Lukas' Wort freilich noch nicht glücklich geworden; aber er sann auch nicht mehr dem Selbstmorde nach und versuchte, das wunde Brennen seines lebensgierigen Herzens beim Anblick schöner Frauen, elastischer Pferde und ferner Berge schön zu finden. Wigram aber hatte erkannt: ich Einsamer habe recht. Die Millionen haben Unrecht. Er kehrte in sich selber zurück und arbeitete an einem politisch-philosophischen Werke: »Der südwestdeutsche Stamm als Beispiel und Mittelmaß des Menschentums.«

Wigram ging im englischen Garten umher, als wäre er wieder Vierundzwanzig! Ihn hatte Herr Lukas völlig erweckt; er war wieder so stark, als sei es im ewigen Leben! Nun entdeckte er, daß für ihn dieser Krieg, der seinen Körper verkrümmt und seine Seele unterwühlt hatte, nichts als Geschenke gebracht! Er betrachtete alle die Extreme, zu denen sich die Völkerfamilien ausgebildet hatten: die rührende französische Eitelkeit, an der ein Volk starb, das vor andern zu leben wußte, die angelsächsische Geschäftskälte und Ziffernvergottung und das ergreifende Bild, welches die gehorsamen russischen Massen boten, die Ärmsten, die ihre eigenen Ideale in Regimentsbefehlen zum ersten Male erfuhren und gläubig hinnahmen. Und viel und tief dachte er über Preußen nach. Über dies zweite oder dritte Sparta der Weltgeschichte, das keine Schönheit zu geben vermag. Und über Herrn Rabesams Wort: »Gestrenge Herren …«

Es schien ihm alles, was der Deutsche an Tiefe, der Franzose an Liebenswürdigkeit, der Engländer an Verständnis fremden Wesens, der Russe an gütigem und demütigem Menschentum hat, in jenem Teil deutschen Landes vereint, das der Schwelle des Orientes zunächst liegt und wissend ist über zwei Jahrtausende des Abendlandes. Das mit dem Blute von sieben Völkern auch das Verständnis für sieben Völkerschaften hat. Das geboren und geschaffen wurde nicht für den Familienegoismus einer Nation, sondern welches lebt als letzter Hüter großen, allgemeinen Menschentums. Er sei alles und nichts, sagen seine Feinde über den Österreicher. »Alles verstehen und nichts zertreten«, übersetzte Wigram bei sich.

Österreich, Bayern, das Schwabenland und die Schweiz, ihm waren sie das Herz der Erde. Für ihn wurde aus diesem, bis in Schneehöhen emporgehobenen Tabernakel Europas das neue Menschheitsideal, in Blut und Tränen, herausgeboren. Und sein starkes Herz erbebte, wie die Erde erbebt, wenn sie sich umbildet und Meere sein läßt, wo Berge waren und Berge aus den Meeren hebt. Er ahnte eine gänzlich andere Welt. Und er wußte, er war nach Herrn Lukas der erste Arbeiter an ihr. Selige Unsälde, das: »ich Einsamer habe Recht, und die vielen, beiläufig geborenen Millionen haben Unrecht!«

So war Lukas Rabesam der Erwecker Wigrams. Er wurde wiederbelebend für Kantilener, der immerzu irrend grübelte, an wen jetzt er seine viele Menschenliebe verwenden sollte und nie auf den einfachen Gedanken einer Familie kam. Er erwies sich als der einzige Mensch in zweien großen Kulturstaaten, dem der arme, sterbende Sellier seines Herzens ungelösten Rest ausschütten gekonnt, für den der Priester kein Verständnis haben durfte. Er hatte dem verzweifelnden O'Brien neuen Fraß vorgeworfen für dessen unersättlichen Lebenshunger; er band und er erlöste, ob er zu sich nahm oder fortwies. Immer atmete auf, wer von ihm kam; denn niemand zog er zu sich, zu Herrn Lukas, sondern er brachte jeden stets auf ihn selber zurück. Zu Wigram, zu Kantilener, zu O'Brien.

Und klein ist, wer nicht erkennt, daß Gott selber nicht anders arbeitet.

Jetzt kam, ganz gebeugt und zerrissen von widerstreitenden Gefühlen in seinem armen und immer noch ein wenig eitlen, alten Herzen, das alte Herrchen Scheggl zu ihm, der Tierarzt!

Zu ihm kam er, und nach München!

Zu Rabesam, um ein klares Herz zu bekommen; nach Deutschland, um in ein Land zu flüchten, das der weitgesehenen Sache dient und nicht der kommoden Nähe.

So flüchtete denn auch das alte Herrl ins Land der Objektivität. In Österreich drang er mit seinem Berieselungsmittel für Wunden nicht durch. Er war Vieharzt. Herrgott, war das ein Unglück!

Draußen im Reiche kniffen sie auch die Lippen zusammen; aber sie ließen den Roßarzt an die Menschen heran. Peinlich paßten sie auf; aber die Sache war ihnen mehr als die zufällige Konstellation: Tierarzt und Schmerzerlöser.

In Berlin und in München feierte Herr Scheggl Triumphe. Seine Behandlungsart wurde angenommen; nach der Zusammenstellung seines Mittels wurde nur so weit gefragt, als man dessen Unschädlichkeit feststellen wollte.

Aber das alte Grauscheggelchen war in Österreich zu Hause und konnte nirgends sonst leben; – wie jeder Österreicher. Dort und gerade dort wollte er seine späte Ehre und seinen Erfolg haben. Er hatte ja all das Seine hingegeben und war bettelarm geworden ob seinem schmerzenstillenden Balsamwasser!

Ein Teil nur von den Schmerzen hatte er aus der Welt geschafft, aber sein ganzes Vermögen. Und er hoffte doch sehr, als reicher, alter Großpapa unter den Kindern seines braven Sohnes zu sitzen und Gnaden über Gnaden zu verteilen!

Wie alle, kam er auch jetzo letzten Endes zu Herrn Lukas Rabesam.

»Du. – Die G'schicht' ist also die. Ultimatum. Ich muß den Professoren am Wiener Spital die Zusammensetzung preisgeben und ihrem Ermessen alles Weitere überlassen. Finden sie mein Mittel gut, so steht seiner öffentlichen Anempfehlung und allgemeinen Verwendung durch die Fakultät nichts weiter im Weg. Verstehst? Hat's aber Mängel, die zu verbessern sind, so verfällt mein Mittel zur Requirierung, wie Hafer und Sauerkraut! Ich seh, was sie wollen. Sie werden's dann zurechtrichten, und die Methode des alten Scheggl wird ein bisserl gedreht werden; – welches Mittel ist denn gleich vollkommen? Und dann?«

»Und dann«, sagte Herr Rabesam ungemein ermutigend. Im empörendsten Falle? »Dann wird es unter dem berühmten Namen eines Professors tausend Meilen weit seine sanften Kreise ziehen!«

»Also, siehst, das fürcht' ich immer!« rief der alte Herr.

»Fürchten?« sagte Herr Rabesam, »daß ein mächtiger Name in zwei Monaten rundum über die Erde hin allen Schmerz tilgen kann, was der mißtrauisch betrachteten Mixtur des Tierarztes nie gelingen würde? Scheggl, mein Alter! Hörst du sie, in ganz Europa? Die Stimmen in den Spitälern? Horche hin: hörst du sie jetzt wimmern? Hörst du die Nächte, die voll Stöhnen sind? Dir hat Gott, der dich erschaffen, zehn Talente in die Hand gelegt: Scheggl, hat der Vater gesagt. Ich habe dich erwählt. Geh hin und gib! Und du wehrst dich und zerrst und zerrst an den Wunden derer, die du heulen hörst, weil du meinst, dein Geldbeutel sei, was dir gegeben ward? Ah, du fährst auf: dein Name also! Mensch! Kann dir ein König den Orden geben, den du heute nachts tragen wirst – ich weiß es –, wenn du in deiner Kammer sitzest und das Gute getan haben wirst und den Schuldschein ins Feuer geworfen haben wirst? Wer kann dir mehr geben, als dein eigenes Herz! Habe ich dir nicht gesagt: Nur in dir selber findest du Gott?«

Da ging der alte Mann wirklich fort und litt noch und kämpfte; schwach war noch das Fleisch. Aber dann setzte er sich hin, bereitete einen eingeschriebenen Expreßbrief und gab das ganze Rezept an die Fakultät Wien und nach Graz und sonst noch, wohin er konnte. Sein Geheimnis war er los.

Dann saß er in dem düsteren und kahlen Hofzimmer, das er sich um sein letztes Geld gemietet hatte, und dachte einen Augenblick, daß es schön wäre, jetzt ein Zigarrl zu rauchen, das aber nun besser erspart blieb. Er nahm eine sehr aufrechte Haltung an. Bettelarm war er in seinen alten Tagen und sein Letztes, Großes und Einziges hatte er dahingegeben.

Aber Herr Rabesam hatte ihm das Ohr geöffnet. Er horchte über alle Spitäler Europas hin. Und die Stimmen irren Wahnsinns wurden überall stiller, kindlicher, friedlicher. Er hatte Schlaf gebreitet, wo keiner mehr war. Tiefes Atmen hörte er. Und tief atmend saß auch das alte Herrchen. Nichts mehr von Eitelkeit war an ihm, als die ganz hoch aufrechte Haltung, die es annahm. Denn es quoll und schwellte in ihm.

So wirkte abermals Herrn Rabesams Wort.


 << zurück weiter >>