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Des Herrn Lukas letzte Worte und Abschied.

Einer Verquickung von Staatsklugheit und deutscher Gewissenhaftigkeit verdankte es der Russe Mitrophanow, der bei Danzig in einem Gefangenenlager dumpfe Jahre dahinträumte, – schon seit der Tannenberger Schlacht – daß man ihm Urlaub gab, zu seinem sterbenden, deutschen Lehrer zu eilen. Es paßte dies den Behörden recht gut, sie gestatteten die Ausnahme.

Herzlich schüttelten Krögensen und Hatchet die Hände des ernst gewordenen slawischen Schwärmers; mit ruhiger Wehmut gab ihm der alte Scheggl seine Rechte; verlegen ergriffen die Hand des Feindes Liesegang, Kantilener und Bohnstock. Und O'Brien, der an Krücken ging, bis er imstande war, den Ersatzteil an seinem zur Hälfte weggenommenen Unterschenkel zu tragen, blickte dem Russen offen, ja lachend in die Augen. »So sehen wir uns wieder! Gott sei Dank, daß sie uns noch die Hände ließen, um sie ineinander zu legen,« sagte er mit dem guten Gewissen dessen, der geopfert hatte. »Ich glaube, wir denken uns jeder sein Teil!«

Auch Wigram drückte die Rechte des tiefbewegten Gefangenen mit einem Ruck, der von einer energischen Beredsamkeit war.

Diese Neun, dann Birgid und Verene Magelon gingen mit dem alten Herrn, der heut jede Hilfe und Stütze gelassen abwehrte, unter den Bäumen langsam dahin; ganz seltsam und feierlich war ihnen zumute.

»Wenn Frugiatti hier wäre, so wären wir Zwölf,« sagte Bohnstock gerührt. Auch der jüdische Geiger war in diesen Tagen, wo der Staat alle Kräfte ingrimmig zusammenballte, »tauglich« gesprochen worden; er, an dessen beiden Lungenflügeln durch Impfung die Schwindsucht festgestellt worden war. Er konnte es noch nicht verstehen; mit einer müden Resignation beugte er seinen langen, schwachen Körper vor dem Unabänderlichen.

Liesegang fuhr auf: »Frugiatti? Er kämpft gegen uns! Er ist Judas; er fehlt mit Recht.«

Herr Lukas sah sich um und schaute Liesegang tief in die Augen. Da schoß eine heiße Röte über das Antlitz des raschfertigen Eiferers und er rief: »Meister, verzeih!«

»Der irrende Feind selber wird dir verzeihen, wenn du seiner in Liebe gedenkst,« sprach Herr Lukas.

Wenige Worte wurden mehr laut. Herr Lukas ging gänzlich stille und sinnend dahin. Manchmal blieb er vor Schwäche stehen; dann lächelte er die Besorgten freundlich an. Als aber einer ihn trösten wollte: »Meister, es ist nicht das letztemal; – du wirst leben,« so hob er die Hand abwehrend. »Ich weiß, mein Kind, was mir allein bewußt ist.« Da diese Antwort alle bestürzt machte, wendete er sich am Rande der Au zu ihnen und sagte: »Sehet ihr denn nicht, wie heiter ich bin und wie froh, daß diese Seifenblase zerfliegt? Damit ihr sehet, wie beglückt ich dahingehe, habe ich euch rufen lassen und versammelt. Denn ich kann euch nichts anderes geben, als dies mein Wort: Glaubet.

»Und sehet mich, der ich sterben werde und glaube: Und sehet: Ich bin so froh!«

Mit einer wunderbaren Kraft des Trostes trafen diese milden Worte die Herzen der Elf. Wie Südwind bei Nacht am leeren Kamin des Frierenden, wie ein Anruf der Natur selber, wunderbaren Klanges voll, waren die Worte: »Glaubet. Denn sehet: ich bin so froh!«

Und jetzt standen sie am Rande des hohen Holzes, vor ihnen aber ging weithin das Hochmoor gegen Norden und gegen Sonnenuntergang. Zu ihren Füßen floß die Isar nach Mitternacht; der Wanderschrei des beginnenden Vogelzuges hallte von ferne. Es war in den Tagen des scheidenden August und in den Lindenbäumen hingen schon wunderbar farbig die ersten, hochgelben Zweigbündel aus dem dunklen Sommergrün. Im Westen stand das flammende Vorspiel der Nacht. Er sah auf die Erde hernieder, der Abendhimmel, prächtig gestreift und farbig und geflammt wie ein Königstiger. Wie ein großes, leises, schönes Raubtier lauerte der Tod dieses Tages der Erde auf, die sich, ein träumendes Weib, nach der andern Seite wälzte.

»Meine Abendkinder,« sagte Herr Lukas gerührt und sah sie alle an, eins nach dem andern, wie sie andächtig um ihn waren und empfanden, daß eine große Weihe in ihrem Herzen emporzurauschen begann.

Dann setzte sich Herr Lukas Rabesam auf einen kleinen Heidehügel, welcher dicht mit blühendem Thymian bestanden war. »Es ist ein ehemaliger Ameisenhaufen,« lächelte er, »und die Menschen haben ihn ausgeraubt. Wohl, so sitze ich gut: – aus den Trümmern eines Staates, der gänzlich für den Tag und für den Zweck gebaut war, uns zum Symbol und zur Nachdenklichkeit. Wer will mir entgegnen, daß hier weniger sei als die Trümmer Karthagos und Roms? Die Ewigkeit kennt den Unterschied nicht; die Ameisen waren auch sehr verzweifelt, als das ein Ende nahm: – nach solcher Selbstaufopferung!«

Es lagerten sich die Elfe um ihn, und Herr Lukas begann: »Ich werde bald hinweggehen von euch und es ist mir gegeben, das zu wissen, ohne daß ich euch sagen kann, warum.

»Es ist mir auch gegeben, zu wissen, daß Gott ist, und wie er sich uns weiset, – ohne daß ich sagen kann, warum. Dennoch habe ich euch versammelt, um euch zu sagen: Harret aus und glaubet. Der Tag wird kommen, wo auch den Verlorenen gekündet werden wird: »Lukas Rabesam hat wahr geredet.«

»Immer kam aus der Ahnung Einsamer und Abgewendeter der Ruf: Es ist ein Gott! Und immer kam das Elend über die Völker, die nicht hören wollten, und aus dem Elend das Verlangen und aus dem Verlangen die Inbrunst und aus der Inbrunst die Religion, der Glaube.

»Gott ist nur der Gott dessen, der ihn begehrt.

»Wir leben in einer Zeit tiefsten Grauens; sie leugnet die Seele; sie begehrt nicht nach Gott. Und ihren Gemeinsamkeitsströmen beugen sich alle, wie sich alle beugen dem Staate, der doch durch Jahrhunderte in euren Schulatlanten immer wieder farbig verändert steht. Es nützt nichts; für den Tag und sein Gebot sind sie geboren und lassen sich immer mitreißen.

»Darum mußte ein Greis stehen und zeugen von Gott. Denn käme heute ein Junger und sagte: ›Lasset mich sinnen; ich habe das Geheimnis Gottes und des ewigen Lebens in mir,‹ er würde abgestellt und zu ihm gesagt: Schieß' und stich!

»Welcher Staat ist es, der dies sagt? Jeder. Denn die Zeit ist es, welche Führer zeugt, die nicht mehr auf dem Gott in sich selber stehn. Sie alle glauben höchstens an einen Götzen außer sich.

»Dem Menschen aber sagen sie: Schieß' und stich.

»Warum wagen sie diese Sünde gegen den Geist? Weil sie im tiefsten nicht mehr an den Geist glauben können. Denn ihre Religion führen sie wohl noch im Munde, nimmermehr aber im Herzen; sie ist wirkungslos.

»Darum ist diese Zeit die verlorenste, die verwundetste, die verwaisteste und elendeste von allen, die jemals waren! Sie frißt ihn sogar, der ihrer nie bedurfte und gibt ihm eine Ziffer, – dem seltenen Einsamen.

»Wisset ihr, wohin ihr, Einsame, treibt?

»Ich will euch sagen, was ein deutscher Romanschreiber mir zuruft und denen, die mir folgen wollen! Er war ein Kind des Tages, des Trunkes und ein Kenner der Verwahrlosung. Gerade der sagte, vorahnend, zum Deutschen: Eure fast mit mathematischer Sicherheit geschlagenen Schlachten der Zukunft bereiten eine innere Umwälzung des deutschen Wesens vor, von der weder die alten Führer, noch das kämpfende Geschlecht im ganzen eine Ahnung haben. Die jetzt Heranwachsenden aber wachsen in sie hinein. Wehe denen«, ruft er uns zu, »wehe denen, die sich dagegen sträuben! Wehe allen Sentimentalen, allen Ideologen! Sie werden heimatlos sein im neuen Reiche.«

»Wer aber die neue Zeit als Junger begreift, wird in ihr die Möglichkeiten eines reichen, gebietenden Herrenlebens finden, das allein starker Seelen würdig und geeignet ist, auch das ganze Leben des Volkes zu erhöhen!«

»Das sagt ein Deutscher, den sie Dichter nennen. Wisset ihr, was er will? ›Eine Riesenaufgabe; eine Vormacht, ein Herrenleben.‹ Und Wehe ruft er über mich und euch! Diesen Fluch aber rief schon das alte Rom den Christen zu, rief England Indien zu. ›Sie werden heimatlos sein im neuen Reiche‹, sagt er. Wann waren sie in ihrer Heimat, die Christen, die Heiligen, die Liebenden?

»Rabesam sagt euch aber: Alle Staaten müssen verzweifeln, deren Menschen ohne Gott stehen. Und würgen müssen sie sich, je mehr, je durchdringender diese Trostlosigkeit ins Volk sich fressen wird. Aber die Tiefen des Volkes werden aufschreien nach Gott, aus unermeßlicher Not.

»Dann, auf die geballte Sehnsucht aller hin, wird Er wiederkommen, den ich euch verkünde!

»Ihr aber gehet in alle Welt. Breitet die Sehnsucht nach ihm aus! Dem jungen Arzte saget: Siehe zurück in alte Zeiten: sie besaßen Kräfte, die ihr nicht mehr kennen wollt, die ihr den Händen hysterischer, hilfloser Laien überlasset, statt daß die Wissenschaft sie in heilige Hände nähme. Werdet wie Faust, der sich der Magie ergab! Ihr werdet anzurufen haben die geheimen Ströme, die es möglich machen, daß Raum und Zeit schon in diesem Leben ausgeschaltet werden, daß Künftiges gesagt und Tote zum Sprechen genötigt werden können. Wir Heutigen, umgeben von dem ungeheuer angesammelten Widerwillen der Ärzte gegen Krankheit und Tod, können nur ahnen. Ich sage euch aber, daß ich es weiß. Warum ich es weiß, das werden, sobald die neue Zeit der Sehnsucht da ist, hundert demütig Suchende ergründen. Dann aber wird er kommen, der alles in seine segnenden, reichen Hände fassen und einer elend gewordenen Menschheit die Wolken entzweireißen wird. Die Wolken Babels; die Stadtnebel des allgegenwärtigen London. Unter ihnen ist die ganze Menschheit krank geworden bis in ihre verödete Seele hinein!

»Er aber wird den neuen Weg zeigen zu Gott, weil die alte Religion wesenlos gemacht worden ist durch eine unselige Wissenschaft.

»Diese Wissenschaft erkennt nur das mit den Sinnen Wahrzunehmende als wirklich an. Darum hat sie das Jenseits nicht gefunden, das sie suchte, und das war fürchterlich; denn die Menschheit ist daran verelendet! Der Wirklichkeiten aber sind außer unserer Sinnenwelt Milliarden. Seid demütig und ehrfürchtig. Besitzet ihr den Glauben nicht? Wenn ihr ihn nur flammend ersehnt, so seid ihr schon Gottes. Nur lasset nicht ab, danach zu leiden! Die Sehnsucht sollt ihr über die Erde tragen!

»Eine ›weiße‹ Magie gab es; die müsset ihr wiederfinden. Besitzt der Kosmos noch unbekannte ewige Ströme, jenseits der Sinne, so besitzet auch ihr sie!

»Inzwischen, o ihr Lieben, kann ich euch nichts anderes so gewißlich und sicher mitgeben zur Seligkeit und Auflösung schon hier auf Erden, als indem ich euch immer wieder zurufe: Liebet, liebet bis zur Versenkung eure demütig unbewußten Geschwister in Gott! Die helle Landschaft wird euch glücklich machen bis zum Überirdischen! Seid eins mit den Wolken, horchet dem Rauschen der Bäume wie ihr dem Stimmton der Geliebten gelauscht hättet. Sehet den Wolken nach und nicht den politischen Gebilden, die wechselnder sind vor Gott, als jene. Wird es Abend, so versammelt euch und geht unter mit der Sonne, in Schönheit eurer Seelen. Der Abend sei euer Geheiligtes.

»Dies einzige Wort hinterlasse ich euch, das ihr reden sollt ins tiefste hinein zu Gras und Vogel, Wind und Himmelsbläue, Sonnenuntergang und grausigem Tagwerden, zum verwitterten Holze, zur Falterpuppe am Zaun, zum Sande und zum seltsamen Eisen, das sich nach Norden richtet aus dem Mehrheitsstrom der Erde heraus: – Das bist du

»Sie alle werden euch antworten: Sei es, – oder sie werden sagen: Hüte dich.

»Wie ich euch gesagt habe, daß die Ameise ein warnendes Symbol ist. Und Gott redet nicht anders, denn in der Bildersprache!«


Herr Rabesam stand auf. Die Mädchen stürmten über seine Hände, küßten sie, und alle riefen: »Meister, o Meister, bleib!« Er aber wehrte ihnen. Zaghaft standen sie jetzt in einiger Ferne und mehrere faßten sich an den Händen vor Bangnis und Brudergefühl.

Da wendete er sich noch einmal zu ihnen; seine Augen strahlten sanft und warm in die ihren, in alle; bis in ihre Herzen brannten diese tröstenden Augen. Und der alte Mann sagte in einer Ergriffenheit, daß die andern aufschreien hätten mögen, vor Glück und Wehe: »Ihr, meine Abendkinder.«

Als er dies gesagt hatte, da rauschte ein Wind auf, herrlich und hoch in den Bäumen. Und aus den Lüften kam vieles Rufen vom Heimflug der Wandervögel, wundervolles Rufen. Wildsehnliche Stimmen waren es, die nach Erlösung zu begehren schienen wie ihre eigenen Herzen. Dann neigte sich mit einer groß daherkommendem Wolke plötzlich eine tiefe Dämmerung über alles. Der alte Mann sagte:

»Kinder, lebet wohl. Auch diese Dunkelheit seid ihr.«

Und er ging von ihnen allen fort; allein – – ehe sie wußten, wie ihnen geschehen war. – – – –


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