Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Wie die Menschen Ihn suchten
oder
Ein erster April.

Im Jahre vierzehn gingen zu Graz an einem Frühlingstage ein paar junge Leute den Weg der drei Magier aus dem Morgenlande. Sie wollten und mußten den Heiland finden und sie suchten ihn zu Graz, wo alles Wunderliche möglich ist.

Der Heiland war verkündigt worden durch Herrn Lukas Rabesam, der ein liebes altes Kind war; ein ewiger Phantast und ein Mensch von so rührender Güte, daß ihm glaubte, wer ihn sah und hörte.

Herr Lukas Rabesam, der liebe Wanderchrist, hatte es in Salzburg, in Bozen und in München, wo er bei Freunden herum zu wohnen pflegte, verkündigt, der Herr Jesus müsse wiederkommen und zwar bald; und das sei eine ausgemachte Sache, die vollkommen wissenschaftlich begründet wäre.

»Nämlich: Was man Götter nannte, das war als tatsächliche Kraft vorhanden, solange man sie glaubte. Denn die Götter waren Willensströme. Negativpolspannungen. Physikalische Gemeinsamkeitsströme des Volksverlangens.

»Was man Gott nennt, ist immer da, wenn man es anruft, und ist in jener Form da, in der man es will. Denn Gott ist ein Induktionsstrom der menschlichen Sehnsucht. Er gibt jedem, was er verlangt. Dem Mammonsdiener tut er seinen Willen als Elektrizität, dem gläubigen, großen Kinde als Ahnungskraft. Er hat Millionen Formen; er ist, was und wie Ihr ihn wollt in seiner grenzenlosen Güte, und straft Euch nur, wo Ihr selber Euch straft.

»Jetzt aber ist die Zeit abermals faul geworden; die Seelen verrotten und das sind die Zeiten der Erlöser seit jeher. Das sind die Zeiten, wo Gott gerufen wird. Und immer kommt er auf solchen Ruf hervor; als göttlicher Mensch! Er muß kommen, weil er gerufen wird; er, der tiefverborgne Gegenstrom des äußerlichen Truglebens.

»Er muß: Eine Liebe, wie es die unseres Heilands Jesus Christus war, kann nicht sterben. Sie muß leben und wandeln immer wieder.

»So oft das Leid zu groß ward und die Seele zu veröden drohte, dann zwang es ihn, wiederzukommen, in Fleisch und Blut. Er muß; es geht nicht anders.«

So hatte Herr Rabesam gepredigt unter den Buchen des Mönchsberges ob Salzburg und im englischen Garten zu München und am Walchensee, im Hofe von Runkelstein und im stillen Schloßparke zu Eggenberg bei Graz. Und er sagte dasselbe schon mehr als ein Menschenleben lang. Diese Berg- und Seepredigten hatten sich aber inzwischen weithin herumgesprochen und der arme, sehr milde und stille alte Herr begann in Mode zu kommen, was ihn sehr verlegen machte. Er trug es wie ein Opfer und eine Pflicht, daß die elegantesten Amerikanerinnen ihn im Sommer zu München als fixe Programmnummer notierten, die unbedingt zu erledigen wäre, weil sie schon mehr als very nice sei!

Wenn sie ihn so vor Liebe fast zerrissen, dann ging er durch: daher sein Wanderchristentum. Sonst war er keine unruhige Seele, und auch die Behörden hatten ihn nie irgendwo ausgewiesen. Nie machte er Schulden und bezahlte alles selber, was er brauchte; das war freilich beinahe nichts.

So nun war Herr Lukas Rabesam, der selbstverständlich ein geborener Grazer war, geartet.


An einem ersten April ging später wirklich ein halbes Dutzend seiner begeisterten Jünger, und zwar pünktlich in Graz, den verkündeten neuen Heiland suchen.

Wie alle Jahre hatte auch im Jahre Vierzehn zu Fasching die erste Sternfahrt der Verehrer Rabesams nach München stattgefunden. Viele von ihnen machten dort den Karneval mit; nach Aschermittwoch aber erholten sie ihre Seelen doch wieder bei dem alten Herrn. Solches Wesen betrübte ihn sehr und er hatte ihnen gesagt: »Wie seid Ihr doch! Die Verzweiflung ist nahe! Aber immerhin: so ist Gott nahe.«

»Wo, wo?« hatten sie geschrien.

»Dort, wo man ihn ruft.«

Wer nun die Grazer Jugend kennt, der kann sich denken, daß diese, von denen eine kleine Rotte Herrn Rabesam sehr anhing, auf jene Antwort selbstverständlich und augenblicklich beschloß, den Heiland in Graz erstehen zu lassen. Daß es ein Fiasko wurde, ist so natürlich, daß man es nicht vorauszusagen brauchte. Aber unsere Geschichte, die später etwas tiefer gehen soll, muß damit beginnen.

In Graz lebte Herr Liesegang, der einstmals, vor siebzehn Jahren, zu dem Verein der Zwölfe gehört hatte, die sich sonnten. Er war jetzt verheiratet, hatte zwei Kinder und trug einen Hemdkragen; das war aber auch das Ganze, in dem er sich verändert hatte. Er suchte immer noch das Glück, das Wunder und die Tiefe. Der war der erste Narr. Er rief nach Herrn Doktor Othmar Kantilener, der aus einem Dorfexil sehnliche Briefe geschrieben hatte, voll Heimweh. Ob in Graz immer noch das Wunder sei? Er hätte gehört, ein Grazer verkünde den wiederkehrenden Gottmenschen!

Diese Briefe gingen Liesegang und einem kleinen Herrn Studiosus Sellier sehr zu Herzen. Sie sagten sich: »Nun wohl, suchen wir.« Sellier war ein netter Franzose, der immer allein ging und mit sich selber redete. Wie er dazu gekommen war, gerade in Graz Philosophie zu studieren, wußte niemand. Aber er war da und paßte in die leidenschaftliche Luft ebenso gut hinein wie sein Freund, der eben angekommene Italiener Frugiatti, der zuerst Irredentist gewesen war, bis ihn die Allerweltsliebe erfaßt hatte, zu Bozen; – infolge einer Predigt Lukas Rabesams. Besonders der ungeduldige Frugiatti wollte und mußte seinen Heiland lebendig haben; aber schon ganz geschwind!

So begann das spätere, innigere Suchen und Warten anderer, stiller Menschen mit einer kapitalen Torheit ihrer ungeduldigen Vorläufer. Frugiatti hatte den viel feineren und nachdenklichen Sellier angesteckt; Liesegang ging selbstverständlich sofort in Flammen auf, Kantilener eilte herzu, andere wurden von den beiden Romanen unterrichtet; » sie hätten ihn!« Und in heiliger Aufgeregtheit kamen sie nach Graz, die Jünger des Herrn Rabesam, den endlich Gefundenen anzubeten.

Bloß, weil Herr Frugiatti durchaus nicht warten konnte.


Ein langer, düster aussehender Mensch fütterte im Stadtpark zu Graz Vögel; damit begann es.

Die Vögel nahmen ihm das Futter aus der Hand. Das ist in Graz etwas Selbstverständliches. Da aber Frugiatti als Italiener wußte, daß, ausgenommen in den Tagen des heiligen Franz, die Vögel den Menschen nie anders nahekommen als in gebratenem Zustande und auf Polenta, so schrie er gleich: »Miracolo!«

Nun, diese Fütterung sah ja wunderbarer aus, als man sonst im Stadtpark gewöhnt ist; das ist wahr. Sonst fliegen die kleinen Vögel, wie sie von den Grazern erzogen sind, herzu, nehmen das Futter von der Hand fort und sind gleich wieder heidi oder verzehren ihren Raub in immerhin achtungsvoller Nähe vom Menschen. An jenem Frühlingsmorgen aber war es bitter kalt; die Vögel hatten doppelten Hunger und niemand fütterte sie. Frugiatti war zum erstenmal in Graz und hatte den kleinen Franzosen aus dem Bette getrommelt, um möglichst viel zu sehen.

Da stand nun, auf einem kreisrunden Sonnenfleck, der durch die Bäume fiel, ein düsterer Mensch mit Schwärmeraugen, auf der Schulter einen wilden Finken, der ihm einen Nußkern aus den Lippen zog, auf der Hand zwei Meisen, die aus einer Düte fraßen, und zu Füßen zwei Eichhörner, die an ihm emporzuklettern begannen. Und rund um ihn flatterte und schwirrte es nur so von anderem zutraulichen Federzeug!

Der kleine Franzose war dergleichen gewöhnt, aber dieses Bild war anziehender denn je. Die hungerigen Vögel, die sicherlich den täglichen Frühgänger längst kannten und erwartet hatten, trieben es auch gar zu lebhaft um ihn. Sellier stand stille und lachte leise, während Frugiatti ihn erbleichend am Arme packte: »Tien, là!«

Pause. Dann ein zweiter, erstickter Ausruf Frugiattis: »Er ist es!«

»Mein Gott, wer?« fragte Sellier verwundert.

»Freund! Sagte nicht unser maëstro Rabesam, der neue Christ wird alles mit gleicher Ehrfurcht und Innigkeit umfassen? Eh? Pflanze, Tier! Ecco! Er wird alles lieben als sich selber? Ecco! ›Dein Allgefühl, o zukünftiger Herr der Liebe, wird vielleicht wieder wunderbare Erscheinungen zur Folge haben: denn auch das Wunder entsteht bloß aus Polarisationsströmen der Glaubenskraft.‹ Na und? Hier sitzen Vögel des Himmels ohne Furcht auf den Schultern eines Menschenkindes. Vielleicht würden sie auch in Todesnot zu ihm flüchten. Eh, und wie weit ist es von da bis zur Tatsache, daß Pflanzen bei seinem glücklichen Nahekommen aufblühen? Ist das nicht möglich? ›Was kann eine rein physiologische Reaktion übermächtiger Liebesströmung nicht alles bewirken?‹ sagte der Meister. ›Liebesströmung kann überstark, kann eine reale Kraft werden wie die elektrische auch‹, sagte er. Jawohl.«

»Warum hat sie dann noch kein Mediziner entdeckt?« fragte Sellier in milden Zweifeln.

»A–o! Wie sagt der Meister? ›Zwischen dem Mediziner und dem Geheimnis der Natur baut sich die Mauer der Eitelkeit oder des Honorares auf.‹ Ja, ja! Dieselbe Mauer, die, nach Schopenhauer, den Philosophieprofessor ewig und hoffnungslos von der Philosophie trennt!«

»Wir wollen nicht reich sein; weder im Geld noch im Geiste: Demütige dich, Philosoph im fünften Semester; der Himmel will sich nur den Armen im Geiste öffnen!«

Da sagte der kleine Franzose, indem er zum erstenmal bescheiden seine kurze Pfeife aus dem Munde nahm, mit einem Hin- und Herneigen des hübschen braunen Kopfes leise: »Es wäre wunderwunderschön, wenn du recht hättest.«

Also hatte die Torheit ihn angesteckt; er wünschte das Wunderbare und so war er ihm verfallen.

Damit hefteten sich beide an die Fährten des mageren Menschen mit dem versunkenen Antlitz. Sie waren entschlossen, ihm nachzugehen und wenn der rätselhaft Aussehende auch den ganzen Tag so weltfern dahinwallen sollte. Ja, am liebsten hätten sie es dann gesehen, daß er geradewegs in eine Abendwolke hineinginge. Und sie ihm nach.

Der Unbekannte merkte gar nichts. Er hatte seinen Schlapphut in die Hand genommen, hielt das bronzebraune, hagere Antlitz grüblerisch gesenkt und sang leise. Aber er sang dermaßen schön, daß es selbst dem musikalisch gut unterrichteten Franzosen schaurig ums Herze ward: Vielleicht trieb wirklich das Ungewöhnliche sein Spiel mit ihnen?

So gingen sie andächtig hinter ihm her, hinter dem Langen, dem sonderbar Fremden.


Es war ein weiter Weg; durch den märzenhaft wartenden Stadtpark, durch die Straße, an deren Ende das hübsche Kloster mit dem roten Türmchen hereinsieht, und über kleine Zaunwege, in deren Gebüschen die Spatzen großes Hallo hatten, nach Waltendorf und weiter. Die Erde rechts von ihnen wurde hell und fern; man sah den sanften Halbkreis der Berge und darüber den weißen Schnee unter blauem Himmel. Links ging ein Hügel mit ihnen. Häuser hörten auf. Ein Paar Ziegeleien bemerkten sie gar nicht: ihre Geister und die Geister des Frühlingstages waren ganz unter sich.

Helle kleine Wolken, wie Putten, leichtsinnige Gedanken des gutgelaunten lieben Gottes, trieben am blauen Himmel dahin, als sänge der lichte Tag eine Ariette nach der andern. Die Lerchen klangen daneben ordentlich wehmütig, solche Lust war in den Lüften, in den ausgelassenen Lüften dieses Südtages. Einmal rieselte goldgrünes Licht über die von Lerchen überjubelten Wintersaaten, dann wieder schauerte es dunkel darüber, als wollte der große Papa oben Kinder schrecken, um sie dann sicherer zum Lachen zu bringen. Oder als runzelte Mutter Erde die Augenbrauen ob der vorübergehend kühlen Laune ihres himmlischen Liebhabers. Die Berge waren so blau, so unglaubhaft blau! Verhext war die Welt, verhext war der Italiener, der Franzos, und vor ihnen strich wunderbar singend ihr seltsamer Rattenfänger nach Süden hinaus.

Endlich hielt er vor einem Hause, das ganz einschichtig an der Bergböschung lehnte und ins Gras des Hanges hineingebaut war. Vor ihm warf es, wie mit einem Hauch, die Tür auf, ganz von selber; er trat hinein. Traumstill ging die Tür wieder zu und wartend standen die beiden jungen Männer.

Nach einer ganz kurzen Weile begann aber im Hause eine Geige zu spuken; eine Geige mit der Süßigkeit italienischen Wohllautes, mit der Tiefe deutscher Versunkenheit. Es war eine so wunderbare Weise, daß beiden Menschen, wie sie da warteten (und nicht wußten, was nun sein würde), Tränen in die Augen traten. Der Ton sang wie eine verklärte Seele!

Sie standen, bis die Sonne hinter dem Hausdache hochkam und auf die Straße brannte und bis die Geige schwieg. Ins Haus wagten sie sich nicht. Leise beratend suchten sie die nächste Dorfschenke auf, die am Beginne der Häuser von Sankt Peter lag, und fragten und forschten da nach dem langen, versunkenen, braunen Fremden. Da erfuhren sie denn freilich Wundersames.

Er sei das Kind einer großen, berühmten Familie und selber Doktor. Jedoch er habe sich von der Familie und von der Universität und aller Gesellschaft losgesagt. So fing die Kunde an.

»Ganz wie Lukas Rabesam,« rief Frugiatti ungestüm.

Der letzte Rest von Besinnung im hübschen Kopfe des kleinen Franzosen begann bei solcher Parallele ebenfalls zu schwinden.

»Weiter, weiter,« schrie Frugiatti.

Ja. Der Herr Doktor Ephraim Nußriegel reise bis Madrid und Paris mit den Zigeunern, denen allein er Freund und Bruder sei, und spiele mit ihnen Geige. Kein Primas hatte eine so zaubergewaltige Geige wie er. Mit anderen Menschen als mit Zigeunern lebe er nicht.

»Denn die Zigeuner sind die sogenannten Sünder, die verachteten Zöllner. Weil sie die einzigen Müßiggänger unserer Tage sind,« sagte Frugiatti leidenschaftlich. Er mußte Parallelen ziehen. Aber als er gar erfuhr, daß Herr Nußriegel in einem Zimmer zusammen mit seinen Hühnern lebte, die ihm ihre Eier ins Bett legten, und daß er kein Fleisch esse, weil ihn die Tiere erbarmten, und daß er fast umsonst lebe und immer in demselben Anzuge ging, schwarz und hager wie er war, da verschluckte er den dritten Ausruf. Ganz blaß, aber entschlossen stand er auf.

»Das ist er,« sagte er kurz.

Sellier blickte träumerisch in den Himmel und faltete zu einem geheimen Gebete die Hände: »Ach ja, gib ihn uns, du rätselhafter Geber und Nehmer da oben.«

Und er schrieb noch im selben Dorfwirtshause bis Mittag. Er schrieb nach Zürich an den Russen Mitrophanow, nach Paris an John Hatchet und nach Upsala an die Freundin Halfström, sie möchten kommen und es auch den anderen sagen. Denn es wäre möglich, daß sie Herrn Rabesam eine selige Überraschung machen könnten. Ja. Sobald ihr Meister und Lehrer nach Graz kommen würde (wie er in den Ostern gerne pflegte, weil dann die Heimat so träumerisch war wie ehedem), da wollten sie ihm sagen: »Siehe, hier ist, den du verkündet hast und nach dem sich du und wir sehnten.«

Und wollten ihm den Heiland präsentieren.


Von Sellier erfuhr das der Schwärmer Liesegang und von dem erfuhr die ganze Geschichte der lautauflachende Vollrat, ehedem auch einer der zwölf Seligkeitssucher. Vollrat nun hatte eben einen gottesdurstigen Brief Kantileners erhalten und sagte sich: Den alten Jungen kuriere ich diesmal gründlich! So schrieb er ihm, was für Dinge sich in Kantileners geliebtem Abdera bereiteten: »Kommst du?«

Hei, ob sich da Kantilener beeilte, mitzutun!

Freilich, der alte Herr Rabesam tat Vollraten leid; der sollte keinen Spott tragen, der paar Narren wegen, die es, wie allenthalben, auch um ihn gab. Darum bat und beschwor er einen alten Freund (einen vereinsamten Bruder des Herrn Lukas), den Joachim Rabesam, er möchte doch aus seiner Vergrabenheit auftauchen und helfen, Lukas vor der Dummheit seiner Jünglinge zu behüten und auch einen andern alten Freund ein wenig zur Vernunft zu bringen, Kantilener, der dreiundvierzig und immer noch nicht gescheit worden wäre.

Dieser Joachim Rabesam war einsam und verbittert über die Maßen und man wird noch manches von ihm hören. Er haßte alles, was sich rottete, um irgend etwas ›Nützliches‹ gemeinsam zu tun: die Bienen, die Ameisen, die Krähen, die Schakale, die Wölfe und die Menschen. »Denn nur Gesindel hat es not, sich zu rotten,« sagte er. Jenem aber, der einsam war, wie er, dem half er ohneweiteres. Und Kantilener war einsam, einsam wie der Hahn auf dem Turm einer Heidekirche.


Sellier war da, Liesegang und Frugiatti. Mitrophanow war gekommen, Hatchet auch. Kantilener stand zu erwarten. Sie alle sollten ansehen kommen den, der mit Hühnern lebte und mit Zigeunern deren Verfemtheit teilte.

Und zu alledem kam der erste April über diese Welt.

Windig war es und unfreundlich, aber Frugiatti, Sellier, Liesegang, der Russe und der Amerikaner zogen festlich aus, um den kennen zu lernen, den sie Herrn Rabesam bald produzieren wollten.

Das geheimnisreiche Haus war still wie immer, seine Türe stand offen, das Rätsel schien in allen Winkeln zu lauern.

Bis gegen Abend hatten sie, auf Liesegangs Flehen hin, gewartet, damit Kantilener den erhebenden Augenblick miterlebe. Aber der war nicht angekommen. Vollrat hatte ihn zurückgehalten und hatte sich auch selber geweigert, mitzugehen. Er wollte abwarten.

Es war schon beinahe dämmerig, als die fünf Rabesamianer sich vor der Türe verlegen anstießen, um sich Mut zu machen. Frugiatti war blaß, Liesegang käsegelb wie sein Ziegenbart. Sellier blickte mondsüchtig und träumerisch drein, Mitrophanow war so nervös, daß er bitten mußte, noch eine Zigarette rauchen zu dürfen, ehe man etwas begann; die Hände zitterten ihm, als er sie drehte. Hatchet hatte die ohnedies starken Kinnbacken aufeinandergebissen und sah aus wie ein Schraubstock. Er war der einzige, der eine annähernd männliche Haltung bewahrte, und die Hände hatte er stilgemäß in den Hosentaschen.

Das waren die neuen Magier; vor ihnen war auch eine Art Stall und Wohnung zugleich, und sogar der Stern fehlte nicht. Ein ganz kleiner Komet stand trüblich und verwaschen am abendlichen Himmel, damals in jenen Frühlingstagen des Jahres Vierzehn. Frugiatti zeigte ihn den andern mit bedeutsamer Geste: »Ecco, was sagt Ihr?«

Ein altes Weiblein ging vorbei und sah nach dem Sternchen hinauf, das unbestimmbar aussah wie ein zertretenes Ei. »Das ist der Kriegsstern,« sagte es ängstlich. »In der Früh, da hat er lauter Zacken; aber am Abend sitzt die heilige Mutter Maria drauf.«

Das alte Weiblein ging weiter; niemand achtete ihres Aberglaubens. Mitrophanow rauchte heftig zu Ende, der Wind rauschte stärker auf und aus dem Hause begann ein Xylophon zu klappern; es spielte einen grotesken, einen geradezu makabren Tanz, als ob Totenbeine aneinanderschlügen. Keine Geige begrüßte die fünf Erschauernden, nein; es war wirklich ein Xylophon, und als die Fünfe, sich ermunternd, nähertraten, da erfaßte der Wind oder der hämische Teufel selber die Türe und schlug sie ihnen vor der Nase zu. Drinnen ticktackelte das Xylophon in gedämpfter Wildheit weiter.

»Das ist seltsam,« sagte der Russe.

»Hast du ausgeraucht?« fragte John Hatchet. Der Russe schleuderte seine Zigarette von sich. Es mußte ein Ende haben. Hatchet zog eine Hand aus der Hosentasche und drückte auf die Klinke. Dann ging der ganze Schwarm enge aneinandergedrückt ins Haus hinein.


Die Wahrheit über den Besuch beim neuen Heiland konnte wohl nur langsam zum Vorschein kommen. Denn die Fünfe waren eine Zeitlang dermaßen verlegen, daß nichts aus ihnen herauszubekommen war. Nur Hatchet spuckte im Bogen aus, als Vollrat ihn anhielt: »Na, wie war's? Wie war's!«

»Ich verlasse mich fortan nur mehr auf Mister Rabesam in Person,« sagte er in seinem angelsächsischen Akzent einsilbig. »Ein Original muß nicht gleich ein Heiland sein.«

Endlich, nach langem Drängen, fügte Hatchet hinzu: »Ich habe ihn ohnedies niederboxen wollen, aber er hat sich durch die Türe geflüchtet; da, wo seine Hühner beim Dach in den Garten hinaus konnten.«

»Warum wollten Sie den Heiland nur gleich niederboxen?« fragte Vollrat in kaum verhohlenem Behagen.

»Er hat Liesegang eine große Ohrfeige gegeben.«

»Und warum die Ohrfeige?«

»Weil Liesegang wütend war über ihn. ›Einen Heiland haben wir gesucht und ein Geigenfälscher sind Sie,‹ hat Liesegang ihn angeschrien.«

»Wie kann man einem Fremden aber auch nur so etwas sagen!«

»Die Entrüstung war durchaus am Platze. Frugiatti hatte ihn begrüßt: ›Friede sei mit Ihnen!‹ Da hat er ganz kostümmäßig gesagt: Amen. Dann hat der Russe begonnen: ›Herr, wir suchen das Heil.‹ Da hat er gesagt: ›Bedienen Sie sich, meine Herren.‹ Da hat der Russe gesagt: ›Wie, Herr?‹ Da hat er geantwortet: ›Ich meine, Sie sollen sich setzen.‹ Es war aber nichts zum Setzen da, als ein Stuhl und den hat er eingenommen. Auf dem Bett lagen dichtgedrängt seine Hühner. Dann hat Frugiatti sehr viel Worte gefunden, ich weiß nicht mehr welche, daß wir das Heil suchen, was ja auch wahr ist. Und hat uns vorgestellt. Bei mir ist er aufmerksam geworden. ›Sie sind Amerikaner?‹ hat er gesagt.«

»Yes, sir.«

»Und reich?«

»Ich wollte mich entschuldigen. ›Wenn ich den gefunden haben werde, den wir suchen, dann will ich gern all das Meine verschenken und nach seiner Anweisung den Armen geben,‹ habe ich bescheiden gesagt. Da hat er gesagt: ›Aber Menschenkind, da kaufen Sie mir doch eher diese Geige ab. Sie ist ein echter Stradivari. Ich habe sie wieder hergerichtet, ich kenne mich genau aus. Den Zettel klebe ich Ihnen dazu gratis ein. Ein guter Freund von mir hat ihn genau nach dem Original gestochen und ihm ein vergilbtes Ansehen gegeben. Der Zettel ist nur für die Esel; die Geige ist für die Kenner.« So hat er mir die Geige hingehalten, daß ich vor Verwunderung ganz starr geworden bin und nichts zu antworten wußte. Inzwischen ist aber Ihr Mister Liesegang ebenso rot über sein ganzes Gesicht geworden, wie er ehedem blaß war. Er ist gleich auf ihn losgegangen: ›Herr, dann lassen Sie solche Allüren! Herr –‹ Ich weiß nicht genau, wie er das mit dem Geigenfälscher gesagt hat, da war auch schon die Ohrfeige da. Es war eine sehr gewaltige Ohrfeige,« schloß Hatchet bewundernd, »denn Mister Liesegang fiel davon um. In der Verwirrung entkam der Landstreicher und wir haben sein Zimmer ein wenig demoliert, soweit das noch möglich schien. Denn es sah allerdings schon vorher aus wie der Stall zu Bethlehem.«

Mehr war nicht aus dem Amerikaner herauszubringen. Er behauptete, das Erinnerungsvermögen an andere, einleitende Worte vollkommen verloren zu haben, und Frugiatti, Sellier und Liesegang waren dermaßen verkrochen, daß niemand sie entdecken konnte. Der Russe aber wehrte nur nervös ab und sagte: »Lassen Sie, lassen Sie. Alle großen Augenblicke haben Lächerlichkeiten als Vorläufer. Das ändert nicht, daß der Erlöser kommen muß. Und wir werden ihn erleben. Verlassen Sie sich darauf, mein Herr.«

Das war der Beginn der merkwürdigen Suche einer großen Sehnsucht dieser Tage gewesen, einer Sehnsucht, die wohllautend nur wird, wo Wohllaut ihr entgegenatmet. »Wenn Gott wirklich ein Induktionsstrom der menschlichen Sehnsucht ist, wie Herr Lukas Rabesam verkündet, dann hat er dem Fanatiker mit einer Ohrfeige geantwortet, was durchaus für seine Weisheit und Einsicht spricht,« sagte Doktor Vollrat, als er dem armen erstaunten Kantilener von jener Ouvertüre erzählte.


Denn Kantilener war nach seinem Graz gekommen, nach langen Jahren der Verbannung, und er wäre in diesen Tagen kaum zurückgekehrt, wenn er sich nicht mit dem Bürgermeister des Dorfes zerstritten hätte, dessen Gemeindearzt er gewesen war.

»Erzähle, Kind,« hatte Vollrat gesagt.

»Mein Gott, ich habe eine glücklich-unglückliche Gewohnheit, die jeder anständige Mensch haben sollte: Alles, was auf Erden geschieht, muß über Jahrhunderte hin betrachtet werden. – Über Jahrtausende! Aber so ein Bürgermeister, gar wenn er noch dazu Abgeordneter ist, der ist eben das am meisten der Sekunde gehörige Geschöpf der Erde – den Journalisten vielleicht ausgenommen. Ich habe ihm nun gesagt: Das deutsche Volk ist ein einstweiliger Begriff; die Menschheit ist der dauernde. Und da –«

»Ojeh,« sagte Vollrat, »mit nichts untergräbt man seine Existenz sicherer als mit Perspektiven über Jahrtausende.«

Kantilener richtete sich gleich hoch empor. »Es ist aber nicht meine Existenz, die mich besorgt,« sagte er. »Es ist die seelische Zukunft der armen Menschheit! O Vollrat, wohin treiben wir denn!? Man hat den wahren Priester samt dem falschen abgesetzt; die »religio« hat abgehaust. Und doch ist der Blick nach dem Jenseits das einzige, von dem wir sicher wissen, daß er uns Menschen allein vor den Tieren gegeben und bestimmt ist. Er ist also unser Beruf. Denn alle die sozialen und technischen Kunststücke samt der Organisation machten Ameisen aus uns: weiter nichts. Gott aber hat sichtlich gewollt: ›Denket nach; hier habt Ihr dies Euer Leben, umringt von den Symbolen der Wesen, die nicht nachdenken.‹ Das ist Gottes Wort.

Und es sind nicht so wenige, die schon wegen der Verameisung der Staaten zu verzweifeln beginnen, Vollrat! Es sind nicht wenige, die nach dem Geber der neuen, ewig alten »religio« rufen! Frau von Karminell hat mich einmal ausgelacht, als ich ihr meine Sehnsucht nicht ganz verbergen konnte, selber einst diese verschüttete Religion wieder auszugraben. Sie hat recht gehabt. Denn ich bin in acht Semestern der Medizin um die stille Ahnung meiner unbewußten Seele gekommen. Darum ist es ein Glück, daß ich stellenlos bin: in diesem versonnenen Städtchen werde ich wieder zum Klang meiner eigenen Tiefen gelangen. Ich werde treiben, was die Menschheit von heute am meisten verachtet: Müßiggang!«

»Tu das,« sagte Vollrat gutmütig. »Und wenn du wieder arbeiten willst oder mußt, so komm nur zu mir; ich gebe dir zu tun.«

Da ging Kantilener vom Freunde hinweg; er ging ebenfalls, den Gottmenschen zu suchen. Aber er suchte ihn anders als die Herren Frugiatti, Liesegang und Hatchet. Er suchte ihn nicht nach außen.

Und davon erzählt das nächste Kapitel.


 << zurück weiter >>