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Herrn Rabesams Erprobung.

Es gibt Hauptstädte von Ländern und Reichen; so da sind London, Newyork, Berlin, Petersburg und viele andere. Und es gibt Hauptstädte der Menschheit: Paris, Rom, München, Zürich, vielleicht sogar Salzburg. Die einen sind von Kaufleuten, Politikern und Soldaten gebaut; von all den Berufen, welche der Zeitlichkeit dienen und dem ewig Vergänglichen. Die andern sind geschaffen von Priestern oder von Künstlern oder heiligen Königen, die das vergängliche Volk krank nannte.

Es sind diese Städte immer jene mit den großen, träumenden Gärten, in denen die Seele wachsen kann; jene Städte, in denen man Gott näher ist.

Und es sind die Städte, an denen die Menschheit genest.

Unwahrscheinlich schien es ja, daß alles, was an Rabesam hing, wie durch eine leise Magie in diesen Tagen des Druckes nach München hingezogen worden war. Und doch war es kein Zufall, wenn auch wunderbar. Denn München ist eines der letzten, großen Asyle des Menschentums. Ein Berlin ist im wachsten Zustand ersonnen. München ist entstanden wie im Traum. Berlins Gärten sind gebaut, jene Münchens gewachsen; und so sind dort auch die Menschen. Wie stille Pflanzen sind sie oft, die sich dorthin retten.

Weil in seinem Wahne Joachim Rabesam nach München geflüchtet war, ging auch Magelon hin. Und wo Herr Lukas war, dort blieb die Halfström, blieben Hatchet und Krögensen. Und als der Winter vorbei und Kantilener zur Not genesen war, wie es äußerlich schien, da trafen sich viele alte Freunde wieder.

Draußen im englischen Garten, weit dort, wo er waldig wird, und wo allabendlich die Rehe sich äsen, hatten sie ihre kleinen Zusammenkünfte, die entwurzelten Abendkinder, die heimverlangten nach einem sanften Ende.

Herr Lukas hatte ihnen verboten, sich in größerer Gesellschaft zu rotten. »Ich will nicht, daß Ihr eine Sekte werdet«, sagte er ihnen. »Ich will, daß Ihr Einsame bleibt!« Und er nahm seine Abendkinder nur einzeln mit sich, zu zweit nur dann, wenn die beiden sich gänzlich verstanden.

An einem ungewöhnlich lauen Abende ging er mit Wigram und Kantilener die lichten Wege des schönsten aller Gärten. Die Amseln versuchten stammelnd das Neue zu gestehen, das in ihnen wallte und zuckte; doch wußten sie noch nicht, wie es sie in wenigen Tagen erfüllen würde. Es blieb bei kurzen Flötenrufen; dann wurden sie unruhig und jagten sich in die weiche, laubraschelnde Dämmerung der Gehölze hinein. Dann und wann war ganz fernes Wagenknarren und immer wieder das Aufschackern der Drosselstimmen. Das waren die einzigen Laute. Sonst war nur die weiche, liebe Stimme des alten Herrn zu hören.

Herr Lukas ging aufrecht, die beiden jüngeren Männer gingen an Stöcken.

Und der Abendflug der Enten ging über den See.

»Freunde«, fragte der alte Herr, »was seid ihr nicht glücklich? Du, Wigram, hast dich geopfert mit allem, was du warst. Meinst du, der Alldurchdringende sähe hin, ob dies Opfer klar und bewußt wäre? Er sieht nur, ob du dich geopfert. Das verlangt er, das genügt ihm; es ist das höchste und letzte. Wenn der Staat, dem du halfest, anderen den Weg zum höchsten Menschentum versperrt, ist es deine Schuld? Welcher Staat hat noch je das höchste und letzte Menschentum beherbergt und geschützt? Die Franzosen haben aufgeschrien um den Dom zu Rheims, aber die Dombaumeister haben sie ins Feuer geschickt. Ein Vulkan ist ausgebrochen; du kannst dabei nichts tun, als helfen und retten, was dir am nächsten liegt. Das aber ist dein Vaterland. Du hast recht getan, Cyrus Wigram. Nicht du selber darfst König deines Herzens sein, sondern die es um Hilfe anrufen, die sind es. Du bist dem Anrufe aller gefolgt. Der Anruf mag töricht und im Fieber geschehen sein? Genug, du warst gerufen, und du gabst dich ihm hin. Gesegnet bist du, Cyrus Wigram, weil deine Anarchie sich entwurzeln ließ!«

»Und jetzt zu dir, mein blasser Othmar Kantilener. Du hast nie gewußt, daß du geliebt warst, und daß du Vater warst. Du hast dein Blut dir entrissen gesehen. Erst hast du es als einen spöttischen, jungen und reichen Betrogenen des Tages erblicken müssen und dann als ein Kind, das um nichts mehr flehte, als um ein wenig Luft. Vor deinen eigenen Augen erstickte dein eigenes Blut. Höre! Du mußt nun stark sein, mir Rede zu stehn auf einige Fragen, die weh tun. Du siehst es als unnütz an, daß jener schöne und reichbegabte junge Mensch gelebt hat, sich nie gefunden hat und mit Angst und ungelöst wieder gehen mußte?«

»Ja,« sagte Kantilener; »das ist es.«

»Du aber willst weiterleben?« fragte der alte Mann.

»Ich muß wohl; irgend etwas hängt in mir am Leben; nicht ich selber,« sagte Kantilener aufrichtig.

»Dann lebe gänzlich«, sagte Herr Lukas. »Denn nur jene, die aus tiefster Seele verlangen, nicht mehr hier mitzutun, die haben das Recht, Abendkinder zu heißen.

»Was bist denn du? Myriaden von Voreltern haben dies Leben durchgoren und in ihnen warst du von ewig und eheher, nur in immer unendlicherer Verdünnung, je weiter du zurückreichtest. Du bist ein geringes Teil ihrer ganzen Lebensgier, bist ein vereinzeltes Aufbäumen einer der vielen Blasen, die ihre Lust bildete. Sie schillert, fliegt ein Stückchen und zerplatzt.

»Und dein Kind ist alles dies, dich hinzugerechnet und durch die fremde Ahnenreihe, aus der Mutter her verdoppelt in seinem Anderssein und dir so fremd wie die Zwei der Eins.

»Trotzdem bist du beinahe gestorben, weil dieser zu dir Hinzugekommene sterben mußte, und du würdest ihn Gott mit Nägeln und Zähnen aus den Händen reißen, wenn du könntest. So wie du beinahe um Frau von Karminell gestorben wärest! Siehst du da nicht, Othmar Kantilener, daß du leben mußt

»Ich möchte nur leben,« sagte Kantilener, »um für die Menschen den ewigen Trost wiederzufinden; die Religion«.

»Die war immer und immer da«, sagte der alte Mann. »Weißt du, daß alle gänzlich Entrückten und Großen seit jeher dieselbe eine und ewig ungeschriebene Religion hatten? Diese Religion ist freilich nie für die, welche sich auf dieser Erde von Hand zu Hand weiterreichen müssen. Diese Religion ist nur für die, welche fortgehen. Darum wurde auch niemals einer von den Reinsten, die Gott suchten, Gründer einer Volksreligion, sondern das waren jene, die den Menschen suchten. Diese Religion ohne Volk, von der ich rede, sie schwebt jenseits und über und außer diesem Leben. Sie wurde von Gott selber gegründet; aber aussterben muß, wer sie erschaut!

»Und es gibt gegründete Religionen. Tiefsittliche Anwendungen, welche uns jene gaben, die wir in unsern Kirchen und Tempeln vergöttlichen. Diese Religionen sind nie von Erkennenden gegründet worden, sondern je und je von Moralisten. Es waren die ungeheuersten Herzen, deren das Menschentum fähig war, aber es waren Herzen aus Fleisch und Blut, nicht Ahnungen. Herzen haben nur vergänglichen Herzen wieder etwas zu sagen; wie denn nach Christus, Gott ein Gott der Lebenden ist. Einsam und klein ist die Gemeinde derer, die schon sterben in diesem Leben, und die jene Religion anerkennen, die der Gott der Ewigkeit gab. Darum sagt Lessing:

»Der echte Ring vermutlich ging verloren; den Verlust zu bergen, zu ersetzen, ließ der Vater drei für einen machen!«

»Noch einmal sage ich dir, Othmar Kantilener: meine Lehre ist eine volkslose Lehre; eine der Einsamen. Du bist nicht zum Absterben angetan, der beinahe zugrunde ging, weil sein fremder Sohn sterben mußte. Aus unermeßlicher Verdünnung bist du gekommen, bist zum Schaum dieses Lebens geworden und nun kannst du das letzte nicht: dich auflösen, wie eine kleine Wolke in allzu sommerlicher Luft. Du mußt und willst dich noch ballen und begehrst noch nach Gewittern.

»So sage ich dir denn, kämpfe und leide weiter. Ich scheide dich hiermit feierlich von den Abendkindern, damit du wissest, du bist zu stark und zu lebendig für sie!

»Das muß ich dir sagen. Denn eine unermeßliche Zuversicht und eine Kraft zu leben wird dir aus diesem Interdikt erblühen. Du weißt nicht, was du bist? Sicher ist bloß, du bist nicht, was du weißt. Gehe zurück zum Leben; es ist dein und du bist sein.«

»So heißt das, du weisest mich von dir?« rief Kantilener erschrocken.

»Bleibe an meiner Seite und in meinem Herzen,« sagte der alte Herr freundlich, »solange es dir warm ist bei mir. Ich werde dich mir immer nahe haben, das weiß ich. Aber, du, verstehst du nicht?! Eben weil ihr beide, nachdem euer Leib zerbrach, auch eure Seele gebrochen fühltet, bewieset ihr, daß ihr beide noch nicht ganz am Abend angelangt und noch zu lebensirre seid. Zu dem, was der geburtenhungrige Staat Aussterben nennt, dürft ihr noch nicht kommen. Der Arzt würde das freundliche, das lockende Wort gebrauchen: ›ihr seid zu kräftig!‹ So lebt doch ihr Lieben, lebet!

»Ihr könnt immer noch dem schönen und fernen Waldglockenton des Abends lauschen. Es gibt einen Weg der Vollkommenheit, und der heißt: Opfere dich und stirb hinweg. Es gibt einen Weg der Halbheit. Symbol! Denn wir sind halb vom Vater und halb von der Mutter her. Dieser Weg heißt Leben. Lebt ihr aber, so strebt danach, dem Symbol der Wage zu gehorchen! Die Harmonie und das schöne Gleichmaß ist Gott am nächsten; sie ist eine Stufe zu ihm!

»Ihr selber werdet nicht vergottet sein; aber Gott wird Gast sein bei euch. Darum aber müßt ihr dieses Leben nicht nur selber erleiden, sondern auch weitergeben! Vernehmt ihr wohl? Dazu gibt es zwei Wege: Durch Arbeit für die, welche mit euch weiterleben müssen, und durch Kinder. Wer keines von diesen will und nur sich selber zu nützen trachtet, der ist verdammt. Wigram, du, arbeite. Kantilener, du, werde ein ehrlicherer und verdienterer Vater, als du warst, da du das Glück suchtest – und in die Lüge sankst. Erobere dir wieder, um was du so sehr littest: die lichte Frau und den besonnten Jungen! Vielleicht wird einer deines Blutes Der werden, nach dem wir verlangen. Sage es ihm nur: Die Kraft, zu erlösen, die in Christo lebte, muß auch heute wiederkommen, wenn sie nur gerufen wird. Beißt sich dieser Anruf in sein Herz, dann weißt du, warum du erst einen Sohn verlieren mußtest!

»Und du, Wigram, arbeite! Zusammenbrechen sollst du im Dienste aller!«

Und sie gingen auseinander; jeder nach einer andern Seite des in tiefer Nacht nach Frühling drängenden Gartens.

Kantilener blieb eine ganze Viertelstunde versunken stehen, und sagte ein wenig bitter: »Es ist klar. Er hat mir gesagt: Othmar heirate! Er verwirft mich. Aber, – hält er mich denn ernstlich zum Vater geeignet?«

Damit war Kantilener schon halb geheilt.

Wigram schrieb noch diese Nacht sechs Foliobogen, die er am andern Morgen zwar wieder zerriß. Aber er notierte daraus.

Auch er war nicht unzufrieden mit dem Gebote des Alten.

Herr Rabesam war der strengste aller Lehrer. Er ließ alle Schüler durchfallen und schickte sie zum Leben zurück – und ihnen war es recht.


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