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Joachims Lästerungen.

Es schien ein Zerstörungsprozeß im Zerebralsystem des Einsamen vor sich zu gehen. Bisher war er der Welt, die ihn zuerst von sich ausgesperrt, in vollkommen defensivem Schweigen gegenübergestanden. Sein Verfolgungswahn war latent gewesen, konnte man sagen. Jetzt, wo die große Vereinigung der Not auch nach ihm griff, brach der Widersacher gänzlich los und wurde so angriffsheiß, daß man dem armen Joachim getrost ein Sanatorium gegönnt hätte, statt ihn abzustellen. Er aber meinte, welterhaltend und wichtig sei, was er sich zu sagen erlaubte. Damit arbeitete er nun erst recht, wie jeder wirklich Kranke, an seiner eigenen Zerstörung.

Einer der auffälligsten Losbrüche dieser Seele hatte einen rührenden Anlaß.

Wigram, dem eine tückische Krankheit der Gelenke nicht erlaubt hatte, mehr für das sonnige Österreich zu tun, als im Grazer Felde die Bahn zu bewachen – er litt darunter – war in der letzten Zeit ganz gemütskrank worden. Viel Blut kostete sein Ideal: Österreich als Vorbild der Menschenbruderschaft!

An Leib und Seele litt er, verbiß es und tat seinen Dienst. Aber etwas unternahm dieser sonst so sehr in sich selber beruhende Mensch, das als trauriges Anzeichen für ihn gedeutet werden muß. Nach kurzem Überlegen schrieb er nämlich an die wenigen Menschenkinder, die noch in der stillgewordenen Stadt Graz von Gottsuchern überblieben waren.

Er schrieb ihnen:

»Kinder! Ich schreibe Euch nicht als Tröster, sondern als Leidender. Sicherlich seid auch ihr es in dieser Zeit. Geteiltes Leid ist halbes. Beraten wir, ob Balsam gefunden werden könnte. Versammeln wir uns wieder einmal, wir armen, lächerlichen Glücksucher aus törichten Tagen, jetzt, wo das Unglück uns vielleicht zu ganzen Menschen zurechtreitet. Zusammenkunft beim Heiligtum der Notburga, wo euer lieber, alter Herr seine Bergpredigt gehalten hat.« Und er gab Tag und Stunde an.

Sonderbar tastend, sonderbar unklar für einen Wigram! Was ging in dem starken Geiste jetzt vor?

Sein Aufruf seelischer Not war gerichtet gewesen an Bohnstock, an Liesegang, an Verene Magelon, an den alten Scheggl, an Kantilener und Vollrat. An alle, die Wigram als Jünger Rabesams noch in Graz glaubte. Und von denen fehlte noch Bohnstock, den es, wie Krögensen, Hatchet und die Halfström, dem silberweißen, alten Herrn nachgezogen hatte.

Die andern kamen alle so gehorsam wie Hündlein und ganz unbefangen. Niemandem war Wigrams merkwürdige Unsicherheit aufgefallen. Verene Magelon drang auch in Joachim, er solle sich zu den letzten, versprengten Freunden seines Bruders gesellen; solle raten oder widersprechen, gleichviel! Der lange, lederbraune Mann verzog keine Miene, als sie ihn bat, und sagte weder ja noch nein.

Das war ein Abend gegen Ende des August, als sie ihre schweigsam verzagenden Herzen auf den Berg der Andacht trugen. Der herbe, sachte Duft beginnenden Laubsterbens umfing sie und stimmte sie eigentümlich rein. Es war wieder Herrn Rabesams großes Wort bei ihnen, das alte, indische: ›Das bist du‹. Und es erhob sie; alle wurden ruhig und waren weder klein noch gebeugt mehr, noch gar unglücklich. Die erste Übung der Seele, die Herr Rabesam von den Seinen forderte, sich als Eins mit der Natur fühlen zu lernen, gab ihnen zugleich wieder Seelenruhe – nach vielen bedrängten Tagen! Das silberne und bunte Sterben um sie machte ihnen weit zumute.

Kantilener sagte: »Herr Lukas ist bei uns; ich fühle es.«

Und Liesegang fügte hinzu: »Ob der alte Meister nicht mehr ist als bloß ein Vorläufer?«

Alle schwiegen, nur der alte Herr Scheggl sagte kleinlaut: »Er müßte Macht besitzen, auch körperliche Schmerzen so zu beruhigen, wie er es tatsächlich seelisch vermag. Ich fühle, daß ich ruhig werde, wenn ich an seine Verkündigung denke. Aber wenn ich denke, daß sich viele Soldaten jetzt in den Spitälern, trotz Morphium, vor Schmerzen bis zu lachendem Irrsinn winden, da kommt mir das sanfte Abscheiden des Tages und diese Weite wie eine Lüge vor oder wie eine gleichgültige Herzlosigkeit.«

Kantilener blieb stehen. »Gerade, daß unser alter Herr Scheggl das sagt, beweist, daß Rabesam recht hat. Rabesam sagt: wenn Gott sich infolge lässigen und lauen Rufes nach ihm nicht zur vollen Gestalt ballen kann, so teilt er sich auf ›Versuche zur Erlösung‹ auf. Gebt acht: unser alter Freund hier hat ein Mittel erdacht, das wir in unserem Spital angewendet haben. Durch eine geringe Abspülung hat er schon die furchtbarsten Qualen aus der Welt geschafft.« Er wendete sich an den alten Mann: »Sogar bei Nummer 11 sind die Schmerzen nicht wiedergekommen, und die Wundränder verkörnten sich schnell.« Er reichte dem alten Manne, dessen alte, etwas trübe Augen freudig aufleuchteten, herzlich die Hand.

Alle wandten ihre Augen erstaunt nach dem kleinen Männchen, das jetzt ordentlich erquickt und hochauf dahinschritt. Der alte Herr Scheggl hatte etwas Rührendes und dennoch, bei mehreren niedlichen Schwächen, Belächelnswertes. Er hatte seinen kleinen, weißen Schnurrbart gelb gefärbt wie eine Möhre; er trug sich mit gänzlich altmodischer aber peinlichster Sauberkeit, und wo ein Spiegel war, da musterte er seine kurze, etwas rundliche Erscheinung, gab sich einen Ruck und Haltung und behielt diese dann eine ganze Weile, bis Eifer ihn hinriß, seine etwas steife Würde zu vergessen. Er hatte bisher zu niemandem von seiner Erfindung gesprochen, und nur Herr Rabesam hatte von ihr gewußt, von dieser rührenden Lebensarbeit, der Herr Scheggl sein ganzes kleines Vermögen zum Opfer gebracht hatte. Es war dies ein durch Kuren an Kanarienvögeln und adeligen Schoßhündchen in Wien erworbenes Vermögen. Denn als sich sein Sohn Franz in Eisenerz angesiedelt, da hatte ihm der Alte die ganze Praxis übergeben und sich nach der Stadt gezogen. Aus reiner Liebe und Mitleid mit den Tieren war seinerzeit das wackere Männlein Veterinär geworden und sein ganzes Leben war ihnen gewidmet gewesen. Jetzt aber, wo die Menschen und gerade oft die schuldlosesten und naivsten, – die tierähnlichsten, (ihm war das keine Beleidigung), so schrecklich litten, hätte er gerne umgesattelt. Aber man ließ ihn durchaus nicht zur Menschenhilfe zu! Da sann er nun seit über einem Jahre über seinem Berieselungsmittel, das er längst schon zugunsten der Tiere erfunden hatte und baute es auf Menschen um.

Wenn Herr Rabesam den Unglauben und die seelische Unruhe, wenn er die Todesangst aus der Welt schaffen wollte, Scheggl wollte das gleiche mit dem Schmerze erreichen. Und die beiden Alten waren viel insgeheim und ganz still beieinander gesessen und hatten an dem Wundbalsam verbessert, wo noch ein Tadel dran schien.

Dann war der alte Scheggl zu Kantilener gekommen. Mehrere Ärzte schon hatten eine Probe mit dem Balsam abgelehnt. »Das wär' uns eine schöne Ehr' und Bescherung,« hieß es, »wenn die Leute sagen könnten: schaut die Ärzte an! Keiner hat unsern Soldaten helfen können; aber da kommt ein Roßdoktor und der kanns!«

Des alten Scheggls Mittel galt also vorderhand für kaiserliche Soldaten als kränkend, und sie konnten noch lange stöhnen und wimmern; Scheggl durfte durchaus in kein Krankenhaus. Ein guter Geist, die Halfström, hatte ihm dann eingegeben, sich an Kantilener zu wenden, und der schmuggelte den Tierarzt kühnlich als Doktor der Medizin in sein Spital; unter Kantileners Aufsicht durfte er hospitieren. Und gleich die ersten Versuche schienen Wunder.

Gerade mit dem Aufsehen, das sie zu erregen begannen, waren aber auch die alten Schwierigkeiten in erhöhtem Grade da. Denn jetzt kamen gar die Universitätsprofessoren. Daß denen nicht eingefallen war, was einem Landviehbader gelungen sein sollte, das ging doch auf keinen Fall an! Unbedingt lag dem Mittel Scheggls ein Irrtum oder eine bisher unentdeckte Schädlichkeit zugrunde, und diese wollten sie erst einmal herausgefunden haben; dann konnte man ja über die beschränktere und fallweise Brauchbarkeit des Mittels weiter verfügen; – vielleicht es gar verbessern.

Herr Scheggl ahnte von dem ganzen Martyrium noch nichts, das sich ihm eben jetzt zu bereiten begann. Als der einzige gänzlich Befreite von allen stieg er heute den Berg der Seligkeit hinauf! Kantilener hatte ein halbes, hatte ein ganzes Dutzend Versuche gemacht, – alle hatten Glück und Friede über arme Leidende gegossen: Scheggl glaubte im Himmel zu sein.

Und ganz ein wenig dachte er doch auch daran, daß er, der vielbespöttelte, jetzt auf seine alten Tage noch ein berühmter und reicher Herr werden sollte! Die Auffassung Kantileners, daß auch in ihm ein Stück von dem, noch nicht vollkommen inkarnierten, Erlöser lebe, wehrte das gute Männlein mit ängstlicher Scheu ab; es wäre Gotteslästerung und Herr Rabesam würde bitter lächeln, wenn er davon hörte! Nein, so eitel sei er doch nicht! Dann erzählte er Vollrat Näheres von seinen Erfolgen, ganz ängstlich, ganz klein und bescheiden.

»Gerade diese Demut verklärt ihn,« sagte Kantilener leise zu Magelon, die jetzt auch gerührt zu dem alten Herrchen ging und ihm sehr den Hof machte.

So war alles schön und gut, und als die Sechse zur Nischenkapelle kamen, die sie das Heiligtum der Notburga nannten, schien über ihnen eine Stimmung, glücklich und lebensfroh, wie in den freudehungrigen Tagen der alten Zwölf, und doch auch weit, wehmütig und sinnend, wie die Mystik und die Innerlichkeit war, die Rabesam ihnen gegeben.

Liesegang setzte sich und sah auf die vorbeilaufende weiße Straße, die ganz stille lag. »Ein Gutes hat der Krieg,« sagte er. »Die Autos sind weg! Fort sind die angefressenen Fratzen, die, blöde nach vorn glotzend, ihre eigene Zeit mit ihrer Hast verhöhnten. Es geht wieder die alte Schwarzwälderuhr des ländlichen Lebens. Ganz geruhig. – Ah! Ein Stück alte Zeit!«

In diese Versunkenheit traf ein kühler Ruf hinein: »Aha, Ihr Flüchtlinge! Ist euch das Leben jetzt doch allzu interessant geworden? Ja, der heilige Staat!«

Die Sechse schauten auf. Joachim Rabesam stand vor ihnen; er sah gar nicht gut aus; seine scharfen Augen flackerten.

Verene Magelon ging behutsam zu ihm hin, gab ihm die Hand und sagte: »Wir versuchen, ein wenig Atem zu schöpfen.«

»Da geht nach Zentralamerika,« sagte Rabesam. »Dort findet ihr gerade noch den letzten Rest von Ruhe und Muße auf Erden! Sonst heißt sie überall schon romanische oder orientalische Schlamperei. In Afrika, in Indien, in China wird sie abgeschafft. Der Staat hat überall gesäubert! Die Seelen sind ungemein zweckmäßig eingerichtet. Wie Spitäler!«

Er reckte den Arm aus. »Da! Die ganze Welt ist ein großes Spital geworden. Durch den lieben Staatsbegriff!«

»Sie müssen Ihre Bitterkeit bekämpfen,« sagte Kantilener friedlich und voll gütiger Sorge zu Herrn Joachim. »Setzen Sie sich zu uns. Was haben denn Sie zu fürchten! In den Schützengraben werden Sie nicht geschickt.«

»Ich fürchte nicht den Tod, ich fürchte den Menschen. Den Feldwebel,« sagte Rabesam und blieb vor ihnen stehen. »Der Mensch-Kommandant ist das Gegenteil des Menschen-Sohnes. Ja.« – Er sah sich um. »... Ah? Hier hat Ihnen ja mein großes Kind von Bruder eine Bergpredigt gehalten? Die echte Bergpredigt bestand aber in Seligpreisungen: Hallo. Warten Sie, ich will Ihnen die sieben Seligpreisungen des großen Bezirksfeldwebels herzusagen versuchen. – Nein, nein, lassen Sie mich jetzt reden!«

Und vor die etwas verlegene Gesellschaft hintretend fing er an: »Bankbeamte sind jetzt selig, die zur Anleihezeichnung auffordern und Dichtervoyageurs, die in Schützengräben reisen.« Seine Stimme steigerte sich, so sehr er sich verhielt, in immer größerem Zorne.

»Und selig sind, die von den Kanzeln herunter den Krieg eine herrliche Sache nennen; denn sie werden Diener Gottes genannt.

»Selig, wer schwarz auf weiß alle Tage zum Weiterbluten und Weiterhassen hetzt; denn er wird staatlich geschützt sein.

»Selig, wer Schußwaffen und Sprengmittel erzeugt, denn auf ihn wird nicht geschossen werden.

»Selig, wer zu den Herzleidenden und Schwindsüchtigen sagt: Tauglich! Denn er wird keine Wunden schließen müssen im Granatfeuer!« Rabesam schrie jetzt beinahe, und bei jedem Satze sahen sich die Friedesuchenden erschrockener an. Vollrat flüsterte den andern ins Ohr: »Kriegspsychose!« Magelon hörte es; sie sprang von der Erde auf, wo sie gesessen. Eben fing Herr Joachim mit erhöhter Stimme wieder an: »Und selig …«

Da brach Verene Magelon in Tränen aus und fiel in ihrer Herzensangst dem alten Hagestolz um den Hals. Laut weinte sie: »Herr Joachim! Aber Herr Joachim!«

Nun schwieg der Überraschte endlich still und ließ das schöne junge Mädchen zaghaft, vorsichtig und verwundert, an seinem Halse hängen und weinen. Er war so etwas wie ritterlich verlegen. Da er Magelon zu beruhigen hatte, wurde er selber ruhig und bat sie in lieben Worten, ihm zu verzeihen und seinen Groll gegen diese Satanswelt nicht gar so ernst zu nehmen. Wenn man nur ihn in Ruhe ließe, er schwiege ja gerne! »Magelon, kleine, schönste Magelon!«

Da ließ das Mädchen von ihm ab und lächelte unter Tränen.

»Darf ich Sie nach Hause begleiten?« fragte der alte Hagestolz vollkommen weich und zahm.

»Ja, bitte,« sagte Magelon. »Aber Sie müssen brav bleiben.«

»Freilich, freilich,« versicherte Joachim hastig.

Damit war der erst so erschreckende Auftritt aufs anmutigste gelöst und beruhigt. Herr Joachim entschuldigte sich mit ein paar verlegenen Worten und trat dann, sichtlich erleichtert, mit Magelon bergabwärts den Heimweg an.

»Das war seltsam,« sagte der immer noch erschrockene Herr Scheggl, indem er mit den andern dem Paare nachsah, das um eine Waldecke biegend, verschwand.

»Ein so schönes Bussel auf so ein loses Maul,« sagte Vollrat bedauernd.

»Nein,« rief Liesegang eifrig. »Sie hat ihn nicht geküßt! Ich hab da genau hingesehen!«

Die andern lachten; es war ihnen jetzt leichter zumute.

»Eine bessere Therapie gegen einen beginnenden Wutausbruch gibt es wirklich nicht,« sagte Kantilener ein wenig neidisch, und Vollrat begann den Fall der Kriegspsychose eines so eingerosteten, alten Egoisten wissenschaftlich zu erörtern. Er schloß: »wenn er sich in das nichtsnutzige Mädel jetzt verliebt, dann ist er kuriert. Denn die wird ihm wahrhaftig genug zu schaffen machen! Ablenkung, angenehme Ablenkung, meine Herren. Das wollte ich auch Ihnen sagen, die ihr so ernst und tragisch herausgekommen seid, wie eine Bittprozession. Kantilener, denk doch ein bisserl über eure alte Glückssucherei nach. Die ganze Weisheit unserer jungen Tage hat in dem einen Zuruf bestanden: Chaire – freue dich! Weil die ganze Erde sich zerfleischt, – hat deshalb Herr Wigram und Herr Kantilener die heilige Pflicht, sich selber auch zu zerfleischen? He? Oder hat er nicht vielmehr die Pflicht, gerade von diesem einen Menschenexemplar, das er ja allein sicher in der Hand hat, das ganze Kriegsleid fernezuhalten und dieses Exemplar zugunsten des Staates, der Gesellschaft und einer zukünftigen Rasse fröhlich und gesund zu konservieren?

»Warum verliebt ihr euch denn nicht, Esel, die ihr seid? Gleich wär' euch anders zumute. Hat euch das Bussel der Magelon nicht Appetit gemacht?«

»Es ist hübsch, wie weich und fügsam der unnahbare, alte Hagestolz geworden ist,« sagte Kantilener lächelnd. »Da steckt etwas dahinter. He, Wigram?«

Aber Wigram schüttelte nur gedankenvoll mit dem Kopfe.

»Was hast du?« fragte Kantilener.

»Ich muß euch etwas sagen,« begann Wigram. »Wir sitzen hier an einem Heiligtum, das noch Millionen von einfachen Menschen lebendig ist, das wir aber, wie wir hier sind, mit der Wehmut betrachten, als gälte es einer erloschenen und verschollenen, heidnischen Gottheit. So reizend es erhalten und geschmückt wird, uns ist es wie eine wesenlos gewordene Ruine aus der Bronze-Zeit, der wir mit einer Art von Heimweh nachsinnen.

»Die Dreifaltigkeit! Notburga, die ihre Sichel an einen Sonnenstrahl hängt: was für innige, liebe, alte Geschichten! Und warum das alles ein Ende haben soll? Aber es bleibt wahr, und es ist ein fürchterliches Elend, daß Millionen und aber Millionen diese alten Symbole ebenso als gestorben ansehen, wie wir – und schlimmer als wir; mit einem Hasse nämlich, der noch schnell die letzten Kirchen stürzen und die letzten Heiligenbilder verbrennen möchte, damit allgemeine Öde in den Seelen herrsche auf Erden! Und dieser Haß ist nicht bei den trostlosen Arbeitermassen allein; auch die Wissenschaft hat ihn. Unter ihrer Führung ist der Staat so geworden, wie wir ihn erleben, und wie Joachim ihn haßt; bemerkt das, bitte!

»Meine Guten! Als das heidnische Altertum aufhörte und das christliche Mittelalter begann, da hat niemand etwas von einem Kerbschnitt in der Geschichte der Menschheit gemerkt, sondern ihre Tage flossen in kleinen Sorgen und bloß unter ein wenig vermehrten kirchlichen Predigten weiter, ohne daß die Menschen groß aufschauten. Wir schauen auch nicht auf, Freunde! Auch wir merken nichts! Und trotzdem vollzieht sich in unseren Tagen die erste, die ungeheure, die vollständige Absage, von Wissenschaft und Philosophie zugleich, – an die Religion! Nun ist noch nie an einem Staate verzweifelt worden, der auf Religion ruhte. Ist aber der Glaube dahin, dann stürzt jeder Staat nach. Und erzwingen kann man den Glauben nicht.

»Joachim Rabesam, der hier den Staat beschimpft hat, ist ein erstes Anzeichen, ein Sturmvogel, eine Warnung! Hier, an dem Heiligtum aus lieber alter Zeit, hat ein Mensch seine Verzweiflung herausgeschrien. Ihm sind Staat und Heimat getrennte Begriffe geworden. Heimat muß sein wie ein Elternhaus, in das der Mensch sich fügt als ein Kind, dem dort am wohlsten geschah. Wo ein Familienbegriff einer Nation also hinüberhilft, dort wird es, unter Kämpfen, eine Weile gehen. In Österreich fehlt diese Hilfe, und es ist auf das gerade in diesen Tagen abgesetzte Ideal der Menschenbruderschaft angewiesen. Es kämpft nur aus Ehre, weil man es angriff.

»Was Joachim über den Staat gesagt hat, das sagen heute Millionen enterbter Arbeiter. Sie sind die Armut, die nichts mehr hat! Sie haben keinen Halt, weil die Religion ermordet worden ist durch die Wissenschaft.

»Dies also ist die ungeheure Wende zweier Zeitalter! Die Wissenschaft sagt zwar, Religion entstand aus der Todesangst. Männlich und groß müsse man die Todesangst überwinden und in heroischer Resignation verzichten auf jenen Ausblick in die Ewigkeit.

»Das wagt die Wissenschaft einem Geschlechte zu sagen, das eben jetzt beweist, daß Todesangst die geringste seiner Sorgen ist, und das leicht und gern stirbt für Ideale, nach denen es gar nicht frägt, das aber aufschreit nach einem Gotte! Ein Geschlecht, das alle dreißig Jahre, ewig unbelehrt, neu geboren wird, soll jenen pfauenhaften Materialistenstolz lernen in seinem Elend? Jenen Stolz, der sagt: ich weiß, ich bin eine taube Nuß, von der nichts bleibt, wenn sie aufgeknackt wird?

»Und so wird der Jammer der Seele immer unerträglicher, seit bloß das Diesseits herrscht! Habt ihr Joachim Rabesam gehört? Hebt all dies Patriotengeschrei der Journale den Fluch und die Verzweiflung jenes einzigen Einsamen auf, der den Mut und das Wort fand, anzuklagen! –

»Der Staat ist es nicht! – Der Mensch ist es; das fühlen wir. Der Mensch kann es aber nur sein, wenn hinter ihm jener Gott steht. Wenn in ihm seine unerforschlichen Wege sind, von denen uns Herr Lukas sagt, sie stünden deutlich geschrieben. Jahrtausendelang haben die gewaltigsten Seelen, die großen Ahnenden, dasselbe gesagt. Die Wissenschaft hat ein Achselzucken für sie. Die Dichter aller Zeiten waren im Innersten fromm. Die Wissenschaft haßt, – aber ja, sie haßt im geheimen die Dichter! Denn die fordern von ihr, was sie nicht leisten mag!

»Wißt ihr, Freunde, was unsere Zukunft ist und unsere Pflicht? Die Wissenschaftler in die Zange zu nehmen! Wir müssen ihnen zurufen: Gebt uns, was Ihr gestohlen!

»Das ganze Volk muß sich erheben gegen sie: Gebt zurück, was unser war, das einzige Gut der Armen, die Religion! Ihr habt sie entblößt, habt über ihr Kleid das Los geworfen und sie ans Kreuz geschlagen und unsere Seele mit ihr! Gebt uns unsere Seele wieder! Ihr habt es übernommen, zu sagen: › So war sie nicht.‹ Suchet jetzt, wie sie ist, aber suchet in Demut und ohne Dünkel!

»Meine Brüder, ich bin bei Herrn Lukas gestanden, da hat er dieses gesagt: ›Die Doktoren der Medizin wissen: es gibt ein zweites Gesicht; sie wissen auch, es gibt Ausschaltungszustände, welche erwiesenermaßen Zeit und Raum auflösen und sie beiseite zu schieben vermögen, schon in diesem Dasein. Es gibt Tausende von solchen Phänomenen, die alle schaurig Geheimes ahnen lassen. Sie alle aber werden frechlich abgelehnt von jenen, eben von denselben, welche uns die Religion entgottet und unseren Leib entseelt haben!‹ Ich füge hinzu: das sind die fürchterlichsten Piraten, die Gott jemals über die Erde kommen ließ!

»Wißt ihr, welche Entschuldigung sie haben? Schlagt in jedem Lexikon nach unter den Kapiteln ›Doppelgänger‹, ›zweites Gesicht‹ und so weiter! ›Krankhaft sei dies alles.‹ Weil aber, nach Herrn Rabesam, die Mehrheitsströme Glaube oder Unglaube beherrschen, so majorisieren sie sogar die Kranken, statt sich demütig ihrem Elend und ihrem Sehen zu beugen. Früher verbrannte man jene, die mit den Geistern ein Bündnis schließen wollten. Jetzt isoliert man sie, leugnet sie, hypnotisiert ihnen, aus stupider Mehrheitswucht heraus, einen Widerruf! Wer gesund ist, der hat das alleinige Recht. Wer krank ist, sieht einfach falsch! Versteht ihr diese Logik? Es handelt sich, zu sehen, was jenseits allen Jammers ist! Der gutbezahlte Arzt aber sagt zu solchem Seher: ›Hinweg mit dir, du bist ja krank!‹ Als ob der Gesunde je das sehen oder ahnen könnte, ja auch nur dürfte, was sein Gegenteil bedeutet! Wer sieht mehr vom Tode und vom sogenannten Jenseits: der Gesunde oder eben der, der jenen dunklen Toren schon näher ist?

»Und Herr Rabesam sagt: niemand, er sei denn ein Aussterbender, kann etwas vom Jenseits erfahren!

»Nur eben der Kranke weiß von jenen Geheimnissen ein zu ihm herüberziehendes Ahnen! Statt aber ihm in Demut nachzugehen und zu erforschen: was wurde aus dem Jenseits dem gegeben, dem so vieles vom Diesseits genommen wurde? Statt dessen enterbten ihn gerade jene angefressenen Besitzer, die vom Dasein der Krankheit leben! ›Er habe nichts zu sagen und die Gesunden allein hätten das Wort!‹

»So haben die Naturwissenschaftler dies Leben entgöttert und entseelt, weil sie das bloße Wort ›krank‹ als Beweismittel ausschrien. – Jene schaurig in sich selber Geduckten hätten nichts auszusagen in diesem Dasein. Sie haben also einen Bannfluch ausgesprochen, entsetzlicher und wirksamer, als jemals eines Papstes Bann reichte: daß über ein Leben im Jenseits gerade jene Unglücklichen nicht reden und nicht gehört werden dürften, die ihm näher ständen als die Gesunden. Es hat der Spruch jener, welche die Kranken verstehen und lieben müßten, die Einzigen zum Schweigen gezwungen mit dem Schreckworte ›krank‹, die Einzigen, die etwas zu künden vermöchten, nur etwas von dem, was die Menschheit behüten könnte vor Verzweiflung! –

»Uns allen, ich weiß es, reißt es am Herzen, hinzugehen zu dem alten Manne, der allein auf Erden ein kleines Stückchen Kindesahnung vertritt.

»Wir dürfen nicht. Zum ersten Male, seit die Welt steht,« sagt Herr Rabesam, »darf Gott nicht folgen, wer Gott sucht.«

»Hier, am halbentgötterten Heiligtum, fordere ich euch auf, mir zu schwören: Geben wir keine Ruhe, bis die Wissenschaft einkehrt bei der Armut im Geiste und bei der Krankheit, um gerade von ihr demütig zu lernen. Verflucht sei der Dünkel der Hochschullehrer und geschändet, bis sie uns nicht zurückgegeben haben, was sie uns und dem Staate genommen, der unter der ungeheuer anwachsenden Lebensgier der Materialisten zusammenstürzen muß! Kolonien müssen von ihnen erobert und ausgesogen werden; geht dann das nicht mehr, so zerplatzt die aufgetriebene Blase der Gier, trotzdem die Innigsten und Besten ewig schlicht und fromm sagen: ›Geh nicht außer dich, sonst zersprengt der Fraß deine Seele. Geh in dich‹.

»Die Mediziner nehmen wir beim Schopf! Sie haben das Elend über die Erde getragen!«


Als Wigram ausgeredet hatte, bemerkten die andern erst, daß Vollrat während jener leidenschaftlichen Anklagen ganz stille fortgegangen war. Er, der absolute Materialist, war ein ehrlicher Rechenmeister; aber nicht mehr. Nun begehrte man am Ende noch Erklärungen von ihm, weil er Tatsachen gegeben hatte; das war zuviel, und es war verrückt.

Und gutmütig schweigend ging er fort.

So standen nur mehr Liesegang, Kantilener und Wigram auf der verdunkelnden Abendhöhe und gaben sich die Hände darauf, der Wissenschaft den ihr gebührenden Stachel in die Weichen zu drücken, wie Herr Rabesam es angeregt hatte, und wie es Wigram, leidenschaftlicher als der alte Herr, vorschlug.

Nach diesem kurzen Händedruck sah sich Liesegang wehmütig um. »Ach,« sagte er: »wo ist das Glück und das Leuchten unserer jungen Tage hin? Einstens waren wir zwölf um eine strahlende Frau. Jetzt sind wir ebensoviel und noch mehr – um einen alten Mann!«

»Es darf nicht alles Lockung und Farbenspiel bleiben auf Erden,« sagte Wigram ruhig. »Damals war eine leichte Zeit. Jetzt schreit die ganze Menschenseele auf. Damals waren wir jung und suchten unser Glück. Jetzt sind wir reif und suchen das Glück der andern. Damals sehnten wir uns nach dem Leben, heute sehnen wir uns nach der Ewigkeit. Findest du nicht, Liesegang, daß das ein großer Tausch ist? Wenn auch nicht so hübsch koloriert?«

Kantilener neigte schwerblütig den schönen, grauwerdenden Kopf. »Wigram hat recht. Denn vielleicht, wenn wir halten, was wir uns da zugesagt haben, vielleicht bricht jetzt hier, auf der Ries, dem Berge der Andacht, hier bei dem Heiligtum der Notburga, eine neue Epoche des Menschengeschlechtes an. Ein neuer Tag mit unvertilgbar überirdischem Lichte. – Ach, daß wir nicht zu Herrn Rabesam können!«

»Wenn es sein muß, so führt uns irgend eine Tollheit des sogenannten Zufalles hin,« sagte Wigram. »Und ich glaube, es wird sein. Ach, ihr Guten, ich habe das Gefühl eines Musikers, dessen Geige verstimmt ist, und der das absolute Gehör nicht hat. Spielen kann ich; aber da meine Geige im Wetter lag, so muß ich zum Kapellmeister hin, der mir den reingestimmten Grundton neu anschlagen muß. Eher wird mir nicht wohler sein.«

»Schreibe du an Herrn Lukas in unser aller Namen,« bat ihn Kantilener.

Wigram nickte mit dem Haupte. Dann stiegen sie bergab; ihre Herzen waren hoch und herrlich und der Sehnsucht voll, wie in ihren jungen Jahren, – aber der Sehnsucht nach dem Ewigen.

Als die letzte Stufe der Ries bergab führte, blieb Wigram eine Weile stehen.

»Wenn wir die Bilderschrift der Chinesen und der Ägypter hätten, müßten wir in diesen Tagen dem Alphabet der hunderttausend Buchstaben ein neues Symbol hinzufügen: ›das Achselzucken der Wissenschaft‹. Das selbstverschuldete.«

Tief atmeten die beiden andern. Es war wie ein Seufzer.

Ihre Kriegswende war es. – War es auch die der Welt?


Noch am selben Abend ging sein Brief an Herrn Rabesam ab und eine Woche nachher kam Antwort.

»Meine Lieben,« schrieb Rabesam. »Euer Menschentum bleibt die Ehre Österreichs, ob der Staat siege oder zerteilt würde. Siegt aber das deutsche Volk, so gönnet dem schwerleidenden doch, was es so sehnlich wünschte: seinen hochwüchsigen Staat! Er wird nicht in den Himmel wachsen, es sei denn durch Güte und Milde; denn gestrenge Herrn, wie ihr wisset, regieren nicht lange. Verliert aber das deutsche Volk den Krieg, so gewinnt die deutsche Seele. Ihr aber freuet euch zu beidem.

»Daß solche Not sich auftürmt, das hilft zur Sehnsucht nach Vollkommenheit. Das verhilft zu Dem, der uns wieder das Wort des Trostes und das neue Beispiel geben wird. Er ist umso näher, je größer das Leiden ist, und er wird kommen. Gebet dem Staate, was des Staates ist: die Hilfe eurer Arme und euer Blut. Und behaltet Gott vor, was Gottes ist: euer einsam Menschentum, das in euch immer noch leuchten wird, wenn auch nur verlassene Steine des Karstes um euch liegen im Heulen des Todes.«


»Gewinnen wir den Krieg, so gewinnt das deutsche Volk, und ihm ist es zu gönnen; verlieren wir den Krieg, so gewinnt die deutsche Seele,« murmelte Wigram. »Ja, das ist ein Ausweg und ein Trost, und ich will ihn auch Kantilener bringen. Wie es komme, wir müssen zufrieden sein.«


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