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Sie suchen ihn …

Eine ungeheuere Angst, als bliebe am Morgen die Sonne aus, faßte anderntags die Elf, die gestern um den alten Herrn gestanden hatten. Nicht konnten sie begreifen, daß es ein Abschied für immer gewesen wäre, den er ihnen entboten. O'Brien hatte schon anderntags zu ihm gehen wollen, die Halfström auch, und Magelon und Liesegang. Er aber war nicht daheim; er war gar nicht nach Hause gekommen, und er schien rätselhaft verschwunden, so wie auch sein seelisch todkranker Bruder ins Dunkel gegangen war.

Die Elfe boten alles auf, ihn zu finden, und ihre Verzweiflung setzte sogar in jenen tiefbedrückten, letzten Sommertagen die stillgewordene Hauptstadt der deutschen Seele in Unruhe. Wer war dieser Rabesam? fragten viele in München.

Und Herr Lukas kam nicht wieder.

Etwas aber geschah, das eher verwirrend als klärend wirken mußte. Aber da es sich ereignete, muß es erzählt sein.

An einem der folgenden Abende gingen Kantilener mit Wigram und O'Brien, den sie sorglich stützten und führten, durch Rabesams lieben englischen Garten und bohrten sich wehmütige Erinnerungen an den alten Herrn ins Herz, – und Betrachtungen, ob sie imstande sein würden, ihm zu folgen. Es war Nacht geworden. Da kamen ihnen laufende, leichte Tritte entgegen, ein weißes Frauenbild blieb vor ihnen in der Graunis stehen. »Kantilener, Wigram, O'Brien! Ich habe ihn gesehen, ich habe seine Erscheinung gesehen! Er ist tot!«

Und ohnmächtig stürzte Verene Magelon vor die Freunde hin.

O'Brien hatte einen kleinen Sitzwagen bei sich, in dem er fahren sollte, wenn das Gehen ihm beschwerlich fiel; aber er wollte ihn nie verwenden. Jetzt hoben sie das bewußtlose Mädchen hinein und brachten es zu der Halfström, die am nächsten wohnte und am besten zu helfen wußte.

Es dauerte aber die ganze Nacht, bis es gelungen war, Magelon zu erwecken, und dann wußte sie von nichts und fragte selber, was geschehen wäre. Die Freunde wollten sie auch nicht erinnern und ließen erst den Vormittag verstreichen, ja sie hießen Magelon essen und trinken, bevor endlich O'Brien, den die nagende Ungeduld rücksichtslos machte, in sachtem Tone begann: »Nun, wie war das denn? Herr Lukas Rabesam hat sich Ihnen gezeigt! Magelon, meine Magelon, sind Sie denn krank?«

Da begann Magelon an allen Gliedern zu zittern. »Warten Sie,« sagte sie. Dann legte sie den Kopf in die Hand, um alles wieder zu ersinnen, was sie im grauen Abenddunkel so schaurig angeweht hatte. Und jetzt erzählte sie.

»Ich bin gegen das kleine Freundschaftstempelchen hingegangen, weil ich gehofft hatte, Herrn Lukas zu sehen, in der grenzenlosen Verödung, die jetzt in mir ist. Dort bin ich an der Wiese gesessen, bis es dunkel war; da wollte ich nach Hause. Wie ich aufsehe, sitzt, ganz nahe, Herr Rabesam oben beim Tempelchen und sieht vor sich hin ins Weite; freundlich und nachdenklich. Ich rufe: Meister! er hört mich nicht. Ich stürme hinauf; es ist steil, und die Knie zitterten mir. Wie ich oben bin, sehe ich ihn schon jenseits des Hügels ruhig an den See treten. Ich laufe herunter, ihm nach. Ich erkenne jedes Stück seiner Kleidung genau. Er war es! Er war es!

»Ich bin bis an ihn heran, denn er schaute über das Wasser. Da sieht er sich um, und mir stockt das Blut vor Grauen, denn eiskalt weht es von ihm zu mir, als ginge eine Kellertüre auf. Er sieht mich mit einem ganz wesenlosen Blick an, daß mein Herz einen Krampf bekommt, und weist mich von sich. So hat er die Hand erhoben, ganz leicht, ganz gleichgültig. Und wie ich nach ihm greifen will, tritt er, – ja, da tritt er aufs Wasser! Und geht über den See! Er geht über den See, wie über eine frischgemähte Wiese; es sah nicht anders aus, denn zuweilen sah ich seine Füße hinter den Wellen nicht. In der Mitte des Wassers wird er plötzlich unwesentlich; ein verrauchendes Etwas, das keine deutlichen Umrisse mehr hat, – und ist hinweg. Gott sei Dank, daß ihr mich gefunden habt! Ich wäre irrsinnig geworden!«

In diesem Augenblicke kam, tiefernst, Liesegang herein und teilte mit, daß gestern abend um neun Uhr Herr Lukas Rabesam in der dritten Klasse eines ganz elenden Vorstadtspitales, ohne zu leiden oder zu kämpfen, an Entkräftung verschieden sei.

Er hatte sich selber vor zwei Tagen dort gemeldet. Der Arzt wußte ein wenig von ihm und hatte ihm eine bessere Klasse angeboten. Aber Herr Lukas wollte nicht. »Ich will unter denen sein, die in ungenannten Scharen leiden,« hatte er gesagt. Und sein Bett wurde mitten unter die andern gestellt. Vierzig Betten voll Elend, viele Stimmen, viel Gestöhn. Da tröstete er und redete von der Unsterblichkeit, die auch ohne Kirchenglauben in uns läge. Sie hörten ihm von Herzen zu.

Am andern Tage kam Fieber; wortlos lag der alte Herr und schien auf die Stimmen der andern Leidenden zu horchen; seine Augen wanderten. Abends begann er eigentümlich zu lächeln. Er lächelte, ohne zu antworten, wenn man ihn fragte. Er sah wie in die Ferne und lauschte wie in die Ferne. Dann wurden seine Augen verwundert und angestrengt, endlich starr. »Er lag auf dem Rücken, die Arme weit ausgebreitet und war tot, ohne daß wir ein Hinübergehen bemerkt hätten,« schloß der Arzt.

Es war genau die Stunde, als Verene Magelon ihn am Monopteros in die Ferne schauen und dann über das Wasser des kleinen Sees weggehen gesehen hatte.

»Das ist sein Wort an uns! Das ist sein Beweis,« rief Verene Magelon.

Aber ein Spezialarzt erklärte allen: »Die hübsche kleine Dame aus Graz ist hysterisch. Solche Ausschaltungszustände sind uns nicht ganz unbekannt. Sie gelten dem Laien für interessant, sind aber bloße Störungen und Krankheitssymptome. Sie sind schließlich nicht wunderbarer, als wenn ein nervöser Mensch von fünf gegebenen Karten immer und unvermeidlich jene zieht, welche der Partner sich dachte. Das Phantom des Herrn Lukas war natürlich nicht wirklich da, sondern die hysterische Überreiztheit der Dame projizierte es vor sich hin, wie eine laterna magica das Bild, das in ihr selber ist. Die junge Dame sollte unbedingt eine Nervenkur durchmachen! Allen Ernstes!

»Das Mädchen war, nachdem sie siebzehn gänzlich gedanken- und kummerlose Jugendjahre in äußerem Glück, in zerstreuendem Reichtum durchlebt hatte, mit innerem Sträuben in eine rein geistige, beinahe krankhafte geistige Gesellschaft getreten. Durch das Hinzukommen einer Zeitepoche, in der das tiefste Leid allgemein wurde, trieb es ihren Charakter, der eher zu einem fröhlichen Vegetieren geschaffen schien, an, zu opfern und zu leiden. Die Pflegearbeit schwächte ihre physischen und psychischen Kräfte; die immerwährende Aufregung, das Tasten und Suchen ihres leeren Herzens unterwühlten einen Organismus, der zum Lachen bereiter war als zum Weinen und zur Versenkung. So lösten sich Überreizungserscheinungen aus, deren Bilder sie eben jener aufregenden Welt des Jenseits entnahm.«

Das war die Rechnung der Wissenschaft.

Wir wissen nun aber, daß gerade ein Teil der Jünger um Herrn Rabesam den Satz aufgestellt hatte, daß eben nur der dem Tode und dem Jenseits Nähergerückte, also der kranke Mensch, Aufschluß erhalten könne zu jenem verschlossenen Brunnen, den die Wissenschaft abgesperrt hatte mit der Aufschrift: »Untrinkbares Wasser!« Wigram besonders warf der Wissenschaft vor, daß sie solange auf Gesundheit des Leibes hingearbeitet hätte, bis die Seele verzweifelte. Ja, bis der entseelte Staat der bloßen Leiber in einem Paroxismus der gereizten Nützlichkeit ausgebrochen sei; eben diesen Krieg. – Und die krankhafte Schau des Weltkindes Verene Magelon gäbe eines jener Symbole, von denen Herr Joachim gesprochen hätte. Über einen künstlichen See sei er, mit abweisender Geste, von ihr fortgegangen, genau in seiner Sterbestunde. Diese künstliche Trennung vom Jenseits bedeute die Alleinseligmachung des Wortes Gesundheit, des Wortes normal. Diese Anlage trenne die Menschen von der Ewigkeit, könne aber abgelassen werden. Gerade bei den Kranken müsse in die Schule gehen, wer über Tod und Ewigkeit Näheres erfahren wolle.

So erhob sich Streit schon in den Stunden, da des Herrn Lukas armer Leib noch unbestattet im Sarge lag. Bedauerlich war dazu, daß auch ein geistlicher Herr Beschwerde führte, Herr Lukas habe in seinen zwei Tagen, da er, völlig unbekannt und wunderlich genug, bei der siechen Armut sein Ende erwartete, die letzten wachen Stunden zu schwer verständlichen, neuen Lehren über Gott und Unsterblichkeit benützt, so daß einige jener Ärmsten sogar den Trost der Kirche zurückgewiesen hätten.

Wer Herrn Lukas und sein inniges Verhältnis zu jeder Religion näher kannte, mußte jedoch wissen, daß der arme alte Herr ganz bestimmt keinen Gläubigen fortgeführt hatte.

Da aber jener bloße Vorwurf zu einer Verweigerung des kirchlichen Segens und Begräbnisses und damit zu Zerwürfnissen führen konnte, wurde der Vorschlag der Halfström, Herrn Lukas in seiner Heimaterde zu bestatten, von allen Jüngern außer von Mitrophanow mit Freude aufgenommen, und sie schossen die Mittel zusammen, das irdisch Überbliebene des teuren Mannes nach Graz zu schaffen, wo ohnedies die Gruft seiner Familie des Letzten ihres Stammes noch wartete.

Verene Magelon rang mehrere Tage mit einem gefährlich scheinenden Fieber. Ihre Mama sprach ihr das Leben ab. Sie hätte ihr Töchterchen zwei- und dreifach vor Schwabing gewarnt, schrie sie verzweifelt. Feucht sei es und ungesund, und erst die Schwabinger Geisteswirtschaft! Jetzt hatte man das Fieber!

O'Brien kam viel zu den Frauen und teilte mit der kopflosen Mama alle Angst. Was er sonst nie gestanden hätte, daß sein Herz seit dem ersten Anblick des schönen Mädchens brenne, das wagte er am Bette der verloren Scheinenden offen zu zeigen. Sie war für ihn, den Krüppel, viel zu schön und glücklich; die zerbrechende, arme Seele aber machte ihm Mut. Er half sie so treulich pflegen, daß Mama ganz gerührt und ergriffen war, und immer durfte er fortab neben Magelon sein.

Schon am Tage, an dem endlich die Überführung des armen Herrn Lukas in die Heimat vor sich gehen konnte, war für Verene Magelon alle Gefahr überwunden, so daß auch sie nach dem alten Städtchen gebracht werden konnte, in dem sich diese ganze Geschichte angesponnen hatte. Alle fuhren mit Herrn Lukas hin, nur Mitrophanow mußte in sein Gefangenenlager zurück.

Liesegang, mit dem er einstens vergeblich und sehr lächerlich nach dem neuen Heiland gesucht hatte, begleitete ihn, neben dem Wachtmeister, der den Russen zurückzuliefern hatte. An der Treppe des Eisenbahnwagens blieb Mitrophanow stehen und sprach das feierliche Wort:

»Und ich sage Ihnen, Herr Leutnant Liesegang, hier war eine jener Inkarnationen des Erlösers, die der Verstorbene selber prophezeite! Der Unglaube der Zeit und ihre Majoritätsströmung verwischte sein reines Bild und senkte Blei auf seine Flügel; aber er war da. Er! Der Erlöser selber!«

»Mein Herr, mäßigen Sie sich,« sagte der Gendarm.

Und dann fuhr der Zug davon mit dem Schwärmer Mithrophanow, der einen dicken Pfeil im erstaunten und erstarrten Herzen Liesegangs stecken ließ.


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