Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Eine Bergpredigt.

Damit man nicht glauben soll, es sei ein Wunder geschehen, sei vorausgeschickt, daß Herr Ephraim Nußriegel, der sonst ein guter Kerl, aber von etwas vereinsamten Sitten war, Herrn Liesegang wegen der Ohrfeige eine Beileidsvisite gemacht hatte. Liesegang hatte sie ihm verziehen und Nußriegel von den Gründen ihres Besuches und ihrer Heilandssuche in Kenntnis gesetzt.

Daß er für den Erlöser gehalten worden war, hatte nun Herrn Nußriegel dermaßen geschmeichelt, daß er sich Näheres über die Lehre Herrn Rabesams erbat. Er billigte sie.

Als Herr Rabesam also mit seinen Jüngern über die Ries ging, da war, ganz still und sittsam, auch Herr Ephraim Nußriegel darunter, neben Liesegang. Das waren zweie. Der dritte war Hatchet, der vierte Sellier, der fünfte Frugiatti, der sechste Mitrophanow, der siebente ein schmächtiger Däne, Krögensen, der achte ein alter kleiner Tierarzt, Franz Schleggls Vater aus Eisenerz, ebenfalls Franz Schleggl gerufen, der neunte ein ganz entzückender Herr Franz Joseph von Flanetzky, der alles mitmachte, sogar Religion! Der zehnte war Kantilener, der elfte der lange, arme, jüdische Geiger Bohnstock, den Kantilener gestern, als Begleiter Herrn Rabesams, mit tiefer Rührung erkannt und wiedergefunden hatte. Mit Bohnstock ging die schöne Verene Magelon, weil sie sich von ihm über Kantileners Jugend und über die lichtgoldene Frau von Karminell unterrichten lassen konnte. Und wegen ihr, als zwölfter, war der junge von Karminell gekommen. Dann waren noch Freunde mit. Vollrat und andere. Diese, etwas zurückhaltende und ältere Herren, ließen durchblicken, daß sie zwar den lieben alten Lukas aufs höchste verehrten und sich im Notfall für ihn sogar zausen lassen würden, daß diese Verehrung aber seiner Persönlichkeit mehr gelte als seiner Lehre.

Ebensosehr der Person Herrn Rabesams als seiner Lehre galt aber die geradezu ansaugende Liebe zweier Amerikanerinnen, die sich an den alten Herrn klammerten, als wollten sie ihn immerzu erklettern. So lebhafte Bewunderinnen gehören durchaus zum Stabe eines Seligkeitslehrers, und alle schienen froh, daß sie da waren; denn sie steigerten immer die entstehende Begeisterung, welche, wenigstens bei den nördlicheren Männern, verhältnismäßig ruhig schien, ins Mystisch-Schwärmerische hinauf. Sie sahen alles voller Wunder. Zudem war die eine todschick und bildhübsch. Die andere war ältlich, wehmütig und angelsächsisch prüde. Die hübsche wollte ein Wildling sein, die häßliche blieb eine Miß; eine eigentliche Magdalena war nicht dabei, wenn man nicht geruhen will, Verene Magelon als solche zu verdächtigen. Am wenigsten Magdalenenhaftes von allen hatte eine Schwedin.

Diese, die zuletzt ging, meist allein und nur von kurzen Antworten, wenn man sich ihr zugesellte, Birgid Halfström, hatte etwas ergreifend Unberührbares. Ihr Blond und das Weiß ihres Antlitzes war wie das von einer saligen Frau aus den sagenhaften Bergen. Die Augen ferne und leise verschleiert in ihrem Blaugrau, die Haltung behutsam, als wollte sie verhindern, daß jemand sie beachte. Ordentlich vorsichtig setzte sie die feinen Fußspitzen vor sich. Sie war bildschön, aber sie flößte eine eigene, liebevolle Scheu ein. Fast jeder Mann empfand bei ihrem Anblicke: Der darf aber wirklich niemand etwas tun!

Dieses Mädchen hielt sich von Herrn Rabesam eher ferne. Er aber richtete oft das Wort an sie; voll ernster Liebe behandelte er sie wie eine, deren: »Ja, Meister!« ihm notwendig war. Wenn er zu ihr besonders sprach, wurde sie sichtlich froh; sonst schien sie kühl und scheu.

Othmar Kantilener fuhr zusammen, als er dieses Mädchen sah, und zum erstenmal grub es schmerzlich in ihm, daß er nicht mehr jung war. Er verträumte sich ganz in diese lichten, holden Farben, in diese zierliche Biegsamkeit und die schlichte Vornehmheit der Fremden. Das Mädchen kam wie aus einer andern Welt; und dabei erinnerten ihn ihre zarten Bewegungen und ihr helles Kolorit an eine, die ebenso blond und vornehm geleuchtet hatte. Nur war jene Nievergessene nicht so klar und still im Wesen.

Er schob sich schüchtern an seinen alten Freund Bohnstock heran, der das Mädchen von München her kennen mußte: »Du,« fragte er leise, »kennst du die?«

Bohnstock nickte lächelnd. Er mußte die Frage öfter vernommen haben.

»Dieses Mädchen ist ja wie ein Wunder«, fuhr Kantilener andächtig fort. »So schlank, so fein, so elegant, so leuchtend! – Du, sind denn die Schwedinnen alle so schön?«

»Na«, sagte Bohnstock mit einer Art von anerkennendem Schmunzeln. »Sie kann auch in ihrer Heimat für ein hübsches Mädchen gelten.«

Das war also Birgid Halfström, die zuletzt und meist allein ging, und das waren die anderen, die in erregter Begeisterung hinter ihrem wiedergewonnenen Meister einher- und zu Berge flammten.

Großartig fühlten sie sich! Denn sie wußten: »Mit uns beginnt ein neues Testament«. Namentlich Frugiatti, Liesegang und Mitrophanow waren von der Wucht ihrer Sendung auf dieser, ohne sie mangelhaften Erde, so durchdrungen, daß jedes Wort, welches sie sprachen, geradezu kirchentonal klang.

Herr Rabesam ging zwischen Bohnstock und Liesegang, vor ihnen die Amerikanerinnen. In den Atempausen, die sie manchmal gewährten, erzählte Bohnstock, der an der Münchener Oper Geiger war, dem alten Herrn und der nebenher gehenden Magelon von Kantilener. Herr Rabesam lächelte aus seinem rührend weißen, kurzen Vollbarte heraus, als er die hübschen und zarten Geschichten über Kantilener hörte, und sah sich freundlich nach ihm um … Dabei sah man, daß sein Lächeln ungleich war, denn der Mund blieb nicht symmetrisch. Ein Mundwinkel zuckte wie durch ein leises Weh etwas nach abwärts und nur der andere ging nach oben. Lachen, freihin lachen hatte übrigens Herrn Lukas Rabesam kein Mensch je gesehen. Alles an ihm war gedämpft, wehmütig; – wie Herbstabendstille.

Er war schlank und nicht groß. Eine Hand hatte er meist auf dem Rücken, die andere oft wie erwägend am Barte. Gekleidet war er als ein einfacher Wanderer und nur der große Hut, mehr aber noch der weite Wetterkragen, den er umhatte, verlieh ihm etwas faltenreich Philosophisches. Er ging vorne übergebeugt, etwas knieweich wie die Gebirgler und eigentümlich nachsinnend. Wirklich: man sah schon dem Gange die ewigen, freundlichen Gedanken an.

Seine Augen waren sehr schön, groß und flammend blau. Sein Antlitz schien recht schmal, aber von sanfter Röte, so daß neben dem weißen Haar das wunderbare Blau des großen, leuchtend gebliebenen Auges etwas Überirdisches ahnen ließ. Der alte Fritz mochte so entrückte Augen gehabt haben; nur war der Blick Rabesams sanfter und liebreicher. Nichts geradezu Anschauendes, Befehlendes war darin, sondern ein gewinnendes Verstehen. Ein Emporheben und Trösten. Von diesen leuchtenden Alteherrnaugen waren namentlich die beiden Amerikanerinnen ganz benommen; denn so ein jenseitiger, weltüberschauender Blick kann in den Vereinigten Staaten kaum entstehen. Er war eine Sensation; John Hatchet übte ihn vor dem Spiegel: – unmöglich!

»Warum kann John Hatchet nicht so entrückt werden wie Er?« fragte die häßliche Amerikanerin herzukommend Herrn Kantilener, dem sie von Hatchets ehrlichen Übungen erzählte, weltfern zu werden.

»Er sieht zuviel Ziele; man darf nur den Weg sehen; das allein beruhigt und beseligt den Blick.«

»Wie das?« fragte die Amerikanerin.

Herr Rabesam, der das Gespräch gehört hatte, wendete sich freundlich um.

»Ich kann Ihnen zwei Beispiele zitieren, die das erhellen. Es sind die Verse zweier Dichter, die jeder gleich benannte. Der eine sagte ›Weg und Ziel‹, der andere ›Ziel und Weg‹.

Der eine also sagte so:

›Es führt mein Weg nach keinem Ziel,
Denn Ziel ist Täuschung nur und Spiel.
Muß ich dem Ziel mich anvertraun,
Versäum' ich, nach dem Weg zu schaun.‹

Der andere aber beginnt:

›Ziel ist Wunsch und Weg ist Wollen!‹

Und er fährt dann fort:

›Jeder Tag sei neu Beginnen,
Kein Bedenken und Besinnen!
Neigt der eine sich zum Sterben,
Jede Nacht schenkt dir den Erben
Aus dem Schoß der Zeit, dem vollen:


Ziel ist Wunsch und Weg ist Wollen.‹

»Und das, meine Kinder,« sagte Herr Rabesam, »enthält den ganzen Wegweiser am Scheidewege des Menschentums. Jeder fühlt augenblicklich an diesen beiden Gedichten, wohin er gehört. Von da ab gibt es kein Zusammen mehr. Wollt Ihr ein Menschenherz prüfen, so legt ihm diese beiden Gedichte vor. Sie sind der Probierstein. Entweder Euer Wille steift sich, immer größere Widerstände zu besiegen oder Ihr werdet die demütig Besiegten von immer Größerem und Tieferem, das Euch erfaßt.«

Zwei Menschen waren von diesen Worten nachdenklich geworden: Verene Magelon und der junge Herr von Karminell. Während Herr Rabesam weiterging und sich wieder von Bohnstock erzählen ließ, wechselten die jungen Leute einen kurzen und etwas verlegenen Blick.

Verene Magelon ließ sich von Liesegang, der die Verse kannte, die ganzen Gedichte vorsagen und dachte dann angestrengt nach.

Hier kümmerte sich niemand um das Mädchen, das in der seichteren Welt umworben war wie ein blühendes Bäumchen von Bienen. Nur John Hatchet erwies ihr den komisch ritterlichen, beinahe geschlechtslosen Respekt, den der Nordamerikaner vor der eleganten und nutzlosen Dame zu haben pflegt. »Die Allerpraktischsten machen das Allerunnützeste zum Idol und das ist hübsch,« hatte Herr Rabesam einmal lächelnd gesagt.

Die kleine Gesellschaft drängte immer näher an den weißen alten Herrn heran und war eifersüchtig auf den jüdischen Geiger, dem der Meister so freundlich zuhörte. Herr Rabesam hörte lieber zu, als er selber redete; gerade das machte aufmerksam auf sein Wort. Denn wenn es ihn ergriff, durch ein Zeichen kundzugeben, nun wolle er etwas sagen, da schwiegen alle sehr gerne. Aber gerade heute schien er nur Lust zum Stillesein zu haben. Einmal lächelte er Kantilener an und sagte: »Sie werden mein Johannes sein; Liesegang aber mein Petrus. Er wird mich mißverstehen und vielleicht damit meine Lehre derbsinnenfällig, aber unsterblich machen.« Das sagte er mit einem eigentümlichen, bescheidenen Humor, dem durch das Herabzucken des einen Mundwinkels etwas Wehmütiges gegeben wurde.

Zur Ehre der Zwölfe muß erwähnt werden, daß sie in immer stillerer Ergriffenheit den wunderreichen Himmelswiesenweg gingen, der die Ries heißt. Sie wußten es von Herrn Rabesam, daß das größte Wort beim Anblick der Natur dieses sei: » Das bist du!« Sie wußten, daß sie selber diese Weite waren und diese Wolken und diese Wälder und diese Schönheit. Anschauend und mit geweiteten Seelen schwiegen sie und das Geheimnis war jedem, nach seiner Art, näher als anderen Menschen.

So liebte sie der alte Herr.

Er versank und vergruftete in sich selber, wenn sie viel laut waren und redeten; aber wenn sie schwiegen, dann gehörte er ihnen.

In Verene Magelon wehrte sich alles. Sie spannte die Sehnen ihrer Seele, um aus diesem Zustande des Abgesetztseins obenauf zu kommen. Der junge Karminell kam ihr heute interessant vor. Er sah aus, als ob er über beide Parteien spöttisch geworden sei. Über diese Nazarener und über die Weltkinder. Als wollte er je nach Belieben von beiden haben; als sollte ihm beides dienen.

Heute ging er freundlich und gänzlich hingegeben nach dem Rezept des Dichters, der gesagt hatte:

›Der Weg ist Tiefe, ist Geschick,
Ist vollgemess'ner Augenblick.
Die Flüchtigen und Vielzuvielen,
Die kranken alle an den Zielen.
Du köstlicher, du treuer Weg,
Du führst mich über Fels und Steg
Vorbei am Meilenstein der Jahre
Ganz ohne Ziel ins Wunderbare!‹

Morgen schmatzte er vielleicht schon mit dem andern am Leichenmahle der ewigen Vergänglichkeit mit:

›Ziel ist Wunsch und Weg ist Wollen.
Nimm die trüben, wie die tollen
Tage, die vorüberfließen,
Wie ein buntes Farbensprießen.‹

Diese Verse gehörten zu den beiden, alles entscheidenden Gedichten, welche ihn und Magelon besinnlich gemacht hatten, und beide schwankten, während sie berieten, welchem sie gerne untertan wären.

Vor ihnen verstellte der große, breite Waldberg den Nordhimmel. Dritthalbtausend Meter hat er; aber hinter den Wandelnden und links von ihnen lagen noch viel fernere, höhere Berge, alle glänzend voll Weiße, schneeeinsam, groß, verschwiegen. Das ist an dieser Landschaft so seelenvoll, daß sie von einem ungeheuren Halbkreise von Ewigkeit umgeben ist, von Weltferne, von hoher Keuschheit, die mit dem Nutzen und seinen Geschäften nichts zu tun haben will. Vielleicht ist es der ewige Anruf dieser blaßblauen, reinsten Schneeferne, der es bewirkt, daß in jener Stadt inmitten solcher Bergkreise immer wieder weltferne Menschen wachsen. Tiefe, tiefe Jungen, die immer einsam gehen.

Dieses Land hat ganz bestimmt seinen eigenen, großen Pan. Er macht unsäglich weit, frei, aber einsam.

Das ist der Blick nach Nord und West.

Der Blick von der Ries nach Süden wieder verführt zur Sehnsucht nach allem, was mittägliche Länder bedeuten: laue Nächte, silberne Tage, Lieder, Wein, Frauen. Ein reiches Land beginnt da gleich hinter der Stadt; es gibt zwei Ernten im Jahre und drei Mahden auf seinen Wiesen. Es beginnt ein Land voll Wein, ein Land der langen, indianisch sommerlichen Herbste und der kurzen Winter; ein Land, das bald Wälder hinter Wäldern hat und dann wieder große Ebenen, durch welche die Flüsse hinsilbern und die gelb und schwer sind von Ernten.

Wie ein stillerer und glücklicherer kleiner Bruder des greisen Waldberges Schöckl im Norden liegt der Wildoner Buchberg langhin vor den Süden gestellt. Wie eine Sphinx.

Wie ein Riegel, der den letzten Zugang zum Sonnenlande lächelnd und nur mehr zur Steigerung der Sehnsucht abwehrt.

Hinter ihm beginnt das Land der alten Römer, der keltischen Hünengräber und des Weines. Hinter ihm schauen die blauen Berge herüber, auf denen schon eine fremde Sprache gesprochen wird; die Berge, in denen die Leute noch an Alben und Vilen glauben, an weise Schicksalsjungfrauen und an den antiken Waldfaun, den Skrat. Noch ist dort urfernes Heidentum nicht gedämpft; wie bunt und reich und kindlich ist in jenen Seelen also erst das Christentum! Die Städte sind dort still wie große Dörfer. Die zartblaue Ferne ist weder geschändet von Fabrikschloten noch von politischen Denkmälern, die sich ein paar Schreier von Bezirksverordneten selber setzten. Keine Reichskanzlertürme!

Gottes stille Hand ruht noch auf jenen Kleinbauernweiten. Heute noch. Und darum kann man dort noch an Gott denken. Das ist unmöglich, wo der Erde das Eingeweide gierig aus dem Leibe gerissen wird, und wo die Politik architektonisch zum Himmel schreit.

Darum, wer zu Gott will, der suche die wenigen Städte, wo man ihm näher ist als in anderen. Dort suche ihn, wer nicht gänzlich in die Berge und Wälder gehen kann. Ein einziger Weg über die Ries führt an der Ahnung und an der Unendlichkeit so nahe vorüber, daß ihr Atem dein Blut reinigt.

Dieses Geheimnis war Kantilenern und dem Liesegang aus jungen Tagen her bekannt. Der junge von Karminell wußte es aus Tradition; denn die damalige Ries, in jenen fernen Tagen noch nicht das Eroberungsziel für zweite und dritte Geschwindigkeiten und blöde vorüberglotzende Rasebolde, war den Zwölfen ein Symbol gewesen: »der Berg des Gottesdienstes«. Die Mutter hatte ihm das gesagt.

»Der Berg des Gottesdienstes. Der Berg des Verschwimmens in sanfte Weiten.«

Sie waren alle schauend und andächtig.

Eine reine Höhenstunde war auf diese Weise vergangen und die zweite war schon angebrochen, als der alte Herr sich ein wenig setzen wollte. Er erkor für diese Rast ein Kapellchen, das bei den Zwölfen »das Heiligtum der Notburga« hieß und von ihnen fortab in andachtsvoller Erinnerung gehalten wurde. Es war eine kleine, offene Nischenkapelle, die mit bunten Malereien der heiligen Dreifaltigkeit geweiht schien und unter vier schönen Linden stand, da, wo die Ries nahe an ihre höchste Höhe ging. Gegen Westen zu aber war ein Ausblick nach der Schneeferne des langen Koralpenzuges und deshalb setzte sich Herr Rabesam unter die Seitennische, in der recht lieblich die heilige Notburga gemalt stand, die gottesfürchtige Bauernmagd und Schutzpatronin der Dienstboten, wie sie eben ausrastend ihre Sichel in die leere Luft gehängt hat. Dort saß der alte Herr auf einem Mantel, den ihm Liesegang und Hatchet ritterlich untergebreitet hatten.

Und es war Abend. Abend auf der Ries, der gottweiten, die seit siebzehn Jahren den Übriggebliebenen von den Zwölfen beinahe als heiliger Berg galt.

Herr Rabesam schien heute wenig verkünderhaft gesinnt; denn er sagte bloß: »Ich bin froh neben so einem lieben und rührenden Denkmal, welches mir sagt, daß doch noch etwas Religion auf Erden ist. Selig ist, wer glaubt. Und verflucht, wer einen Glauben zerstört! Die Religion enthält alles! Selbst Euch Freieren würde kein Gelehrter jene alte Religion töten können, wenn Ihr ihr symbolisch nahtet. Ihr könnt Euch ruhig beugen vor ihr. Ich liebe sie und bin in ihr und mit ihr, soviel die Eiferer zetern mögen.«

»Aber was heißt Religion?« fragte Verene Magelon.

Und das Teufelsmädel blickte den armen alten Herrn so zölest, so magdalenenhaft an, daß er richtig aufsaß und sie für eine Magd der Demut hielt und ihr Antwort gab; erst kleinweise und freundlich zögernd, dann aber in so unaufhaltsamem Strome, daß die nachher berühmte Bergpredigt daraus wurde, jenes Kompendium Rabesamscher Mystik, welche also die Gemeinde Herrn Rabesams dem dunkelblau sehnsüchtigen Blicke des schlechten Mädels Verene Magelon zu verdanken hatte.


»Religion,« hatte Herr Rabesam zuerst geantwortet, »Religion ist von jeher gewesen: Einsamkeit. Vor allem Einsamkeit, um sich selber zu finden und dann sich selber zu verschenken. Sie muß also für nutzlos gelten. Und immer kommt dies tiefste, einsame, nicht auf Nutzen gestellte Menschentum ab, sobald die Massen aufkommen. – An der Zahl, am Nutzen und an der Organisation stirbt sie …«

Die aufhorchenden Menschen drängten um Herrn Rabesam. Malerisch lagerten die Amerikanerinnen sich zu seinen Füßen und auch Verene Magelon stützte den kleinen dunkelblonden Kopf träumerisch auf die Hände und diese auf die Knie; sie war gesonnen, Herrn Rabesams Worte wie Baumrauschen zu genießen; vegetativ, nur so auf Stimmung, Klang und Ton hin. Die anderen waren wie erwartungsvolle Kinder. »Es läuft mir den Rücken ab«, sagte Hatchet in seinem amerikanischen Deutsch und das gleiche Gruseln fühlten daraufhin alle.

Der Abend war golden, weit und segnend. Die Frühlingserde duftete, die Weiden blühten andächtig, die Vögel schluchzten, sanft rauschten die Wälder. Da sagte der alte Herr mit so milder Stimme, als redete Gottvater:

»Sonnenuntergang. Es ist alles Erfüllung …

»Der Sonnenaufgang macht grauen. Denn er bedeutet das Leben. Der Sonnenuntergang erlöst, denn er bedeutet: In Schönheit hinweg. Er ist das letzte Glück des einsam Gewordenen.

»Ihr sollt Abendkinder genannt werden.

»Im Erleben des ewig Einfachen liegt das Gebet.

»Ich sage Euch: Wenn Religion von Gott sein soll, so muß sie von ewig her sein; nicht von diesem Jahre ab oder von jenem. Jede Religion trägt ihren Tod in sich, welche sagt: Ich ward geboren, da und dort. Fing sie jemals an, so hört sie auch auf.

»Es ist nur eine Religion und die war immer bei Gott selber, also in allem. Sie ist im Flügelzittern des besonnten Falters und im überquellenden Vogelgeständnis: Ich liebe! Sie ist in der Todesangst des zerrissenen Tieres bei Nacht. Wenn die Eule den dunklen Mantel ihrer Flügel um eine kleine Maus schlägt: ihr letzter Pfiff ruft den Herrn der Erlösung an, der mit ihr leidet. Denn das Leben ist die Sünde und der Irrtum und der schwere Traum Gottes.

»Nur einen kleinen Ritz hat Euch dieser Traum gelassen, durch den Ihr ins Wahre zu schauen glaubt und wegen dessen Ihr den Umkreis nicht seht, der Ihr selber seid.

»Und Gott ist in Euch, aber Ihr schauet nach außen.

»Alliebe müßt Ihr haben; das ist es. So erlöst Ihr den Gott in Euch.

»Blickt um Euch: Diese Wolken seid Ihr! Diese Weite seid Ihr! Diese Wälder und ihr Rauschen seid Ihr. Bebt Ihr vor Glück?

»Aber auch dieser Raubkäfer, diese Schlupfwespe, die so entsetzliches Leid antut, Ihr seid es. Zuckt Euer Herz vor Weh?

»Wollt Ihr, daß dies Leid ende? Sehnt Ihr Euch nach Gelöstheit? Sehet, das ist Religion. Höret nur den Silesius! Wie sagt er:

»Ungern müßt Ihr diesen Leib tragen; und was er will, das soll Euch grämen. Wollt Ihr zu Gott, so entfernt Euch von dem, was in Euch Kreatur ist. Gott verlor sein Leben im selben Augenblicke, da Ihr sagtet: Ich.

»Gib ihm sein Leben wieder, indem du alles wirst.

»Gott ist wie ein Kind; es sieht ängstlich auf deinen Mund und deine Augen und glaubt dir alles. Verachtest du ihn, verachtet er sich selber. Zertrittst du ihn, er stirbt. Tief kannst du ihn erniedrigen durch dich selber. Er ist feinfühlig wie eine Edelsteinwage. Genau soviel liebt und erfüllt er dich als du ihn.

»Wenn du ihn aber um etwas bittest, das von dieser Welt ist, so stellst du ihn aus dir weg. Dann hast du einen Götzen gemacht.

»Es gibt nur ein Gebet: Dein Wille geschehe; laß mich dein Wille sein.

»Und weiter sage ich Euch: Seid immer er; nichts macht gesünder, schöner und heiterer, als immer an Gott zu denken.

»Bilder seid Ihr bloß und Symbole. Schiebt die Bilder beiseite; hinter ihnen schwebt der ewige Geist.

»Allgefühl, Alliebe, Allweh …

»Ihr sollt aber nicht weichlich versinken in dieses Allgefühl. Ringen müßt Ihr und entbehren, wachen und beten! Gleichwie es Verbrecher gibt aus Kraft und solche aus Schwäche, so gibt es Religion aus Kraft und aus Schwäche.

»Aber, dies eine merket Euch wohl: Wer zu Gott gefunden hat, der ist ein Aussterbender. Was ihn erwählt macht, das ist in den Augen aller ein Fluch. Und aus Mut und Kraft müßt Ihr Aussterbende sein, nicht aus Kleinmut!

»Verachtet werdet Ihr sein von den Gierigen des Lebens um dieses Aussterbens willen. Verachtet sein ist das Tiefste. Es bringt, da alle Euch weigern, heim zu Euch selber und damit zu Gott.

»Einsam sollt Ihr werden …

»Denn höret! Für den nächsten Papst, der da antreten soll, lautet die Prophezeiung des Abtes Malchus: » religio depopulata«.

»Das wird gedeutet: »verödete Religion«. Und wahrlich, sie wird verödet sein für alle Völker. Aber ein anderes wird sie bedeuten für Euch! Denn die Worte heißen: entvölkerte Religion. Und es ist die, welche ich Euch wieder künde, die ewige Religion, die von je die Religion der Einsamen war, und nie jene der Völker. Diese entvölkerte Religion stelle ich wieder hin. Einsame Religion! Sie ist und war und wird allein bestehen.

»Es gibt keine Gottnäherung der Vielen. Die Vielen wollen leben. Ihnen ist Weiterleben, Weiterzeugen der Beweis, Aussterben die Schande. Ihnen ist das Los der Ameisen gegeben, die sie sehr verehren in den Schulen.

»Ihr aber sehet in der Ameise die Warnung und das Symbol Gottes. Durch Übermacht des Staates geht am Menschen das kostbarste verloren: er selber. Vergessen wird, daß der Staat für den Menschen da ist und nicht der Mensch für den Staat. Die Ameisen wollen den Trug ohne Ende. Ihr wollt das Ende ohne Trug. Das ist alles.

»Jene adelt die Arbeit. Euch wäre sie grob, gemein und dumm.

»Jenen muß Müßiggang aller Laster Anfang sein. Euch ist er allen Irrtums Ende. Eure Arbeit sei: Zu Euch selber kommen. Die Massen gehen ins ewig wiederholte Nichts. Die Wenigen gehen in sich.

»Es gibt Menschen und es gibt Einsame. Diese sind anderen Geschlechtes; sie sind der Übergang zu Gott.

»Dies aber über allem!« und Rabesam erhob seine bisher so milde Stimme, sie wurde groß: »Wer von Euch sich nicht jeden Augenblick opfern kann für jede jener Ameisen, der ist verlorener denn sie! Denn Gott ist die Liebe und ist jedes Menschen Kind und die Demut vor ihm. Erfass' es, wem es gegeben ist.«

Und er stand auf. Alle umringten ihn, bloß John Hatchet stenographierte. Der Amerikaner zitterte leicht an den Händen. Er war ergriffen, aber er stenographierte dennoch. Halb Reporter, halb Evangelist, merkte er gar nicht, wie der alte Herr die andern still von sich wies, wie er Verene Magelon über das dunkelblonde Haar strich und ihr tief und gütig in die Augen sah, die sie bald senken mußte, – und wie er dann allein fort in die Wälder ging.

Hatchet füllte da und dort Lücken aus, schrieb die Siglen, die er in der Hast erfunden hatte, voll aus, und als er aufstand, trugen ihn seine Beine kaum, so schwindelte ihn von der erregenden doppelten Arbeit. Aber er war glücklich wie der erste Weintrunkene auf Erden! Ohne Rest oder Lücke hatte er die ganze Bergpredigt des Herrn Rabesam beisammen.

»Wer weiß, wann ihn der Geist wieder erfaßt. Er ist sehr unzuverlässig und launenhaft, der heilige Geist, und ich lobe mir meine Stenographie!«

Jetzt drängten sich die anderen um ihn und wollten das und jenes noch einmal hören. Und bis in die sinkende Nacht las Mister Hatchet dort auf der weiten Höhe mit seinem drolligen Amerikanerdeutsch Herrn Rabesams Geheimnisse vom lieben Gott vor.

Verene Magelon war von dieser fremden Welt nun doch so sehr ergriffen, daß sie bis zum Ende zuhörte und dabei mit ihrer einen Hand die Linke des andächtig lauschenden Kantilener, mit der andern Herrn von Karminells kühle, nervös zuckende Rechte festhielt. Und die widerstrebenden Ströme von Vater und Sohn rollten seltsam durch sie.


In kleinen Gruppen gingen sie nach Hause. Magelon war diesmal bei John Hatchet, der die kostbare Rolle mit den Mystiken hatte, und erfragte noch dies und jenes.

»Finden Sie es nicht hübsch, Miß Mägluun,« fragte Hatchet, »daß wir die Einsamen sind? Es hat, ohne dem Hochmut verfallen zu wollen, etwas Erhebendes. – Nur an das mit dem Aussterben werde ich mich erst nach und nach zu gewöhnen haben.« Er seufzte: »Es ist viel und schwer, was Herr Rabesam da will.«

»Das ist noch nicht alles?« fragte Verene Magelon erstaunt.

»Bemerken Sie nicht, daß er heute nur von Gottvater redete? Er sagte aber auch: Zeiten kommen, wo ganze Völker zu Einsamen werden. Zu Verachteten, Tiefgewordenen, Sterbenssehnsüchtigen. Wenn es einem Volke recht schlecht ergeht, dann ist ihm Gott nahe, sagte er. Dann begehren die Hunderttausende zu ihm, und weil er immer sein muß, was der Mensch aus ihm macht, so wird er dermaßen majorisiert, daß diese Sehnsuchtsströme physisch wirksam werden: Ich weiß, ich sage das sehr nüchtern, aber ich habe nicht den heiligen Geist, der nötig ist, das sensationeller zu sagen. Also, wenn der Ruf eines ganzen Volkes nach Dem groß geworden ist, was nicht mehr zu diesem Leben gehört, dann muß sich Gott aus dem Volke in Menschengestalt loswinden; der große Gebetstrom hat den Erlöser wachgerufen. Natürlich, es arbeitet und bohrt zuvor schon in Hunderten, dieser Wunsch, zu erlösen und zu helfen. Sie alle sind Keime Gottes; denn die Natur wirft ja Keime zu Milliarden aus und tötet sie, bis der stärkste kommt und lebt. Herr Rabesam betrachtet sich auch als so einen minderwertigen Keim, was sehr rührend von ihm ist. Er sagt: Kinder, wartet nur; es kommt noch viel besser. Aber vorher muß es noch viel schlechter kommen mit den Menschen. Gequält müssen sie werden, bis ihnen nichts mehr bleibt als die Sehnsucht und der Tod! Erst dann ist die Harfe der ewigen Harmonie gestimmt. Ja, dieses letztere hübsche Wort ist von ihm. Ich werde immer stenographieren von jetzt ab.« Er ging schweigsam weiter.

Die große, tiefe Nacht sprach über ihnen das entsetzliche Wort Ewigkeit und auch hinter Magelon wurden alle still. Jedesmal, wenn der Tag vorbei ist, da kommt sie »diese grauenvolle Nacht« und sagt: Denkt Ihr immer noch nicht nach? Seht meine Sterne; auch sie sind vergängliches Spielzeug und Sandkorn, so unermeßlich sie sind. Faßt Euch nicht das Gefühl Eurer Kleinheit an?

Dann geht wohl durch manche Menschen ein kurzes Erschauern; dies Erschauern ist etwas von der Religion, von der Rabesam redete. Jetzt war es fast in jeder der kleinen Gruppen, die von jener Bergpredigt heimkehrten. Die Menschenseelen waren geöffnet.

Verene Magelon bangte sehr; sie schwenkte zu Kantilener und nahm dessen Arm.

»Was ist Ihnen?« fragte der.

»Ich möchte am liebsten tot sein,« sagte das Mädel und begann ein ganz wenig zu weinen.

Endlich sprach sie wieder: »Das alles ist ja zuviel für mich! Die gute, alte katholische Kirche verlangt gerade genug und sie ist sehr schön. Herr Rabesam soll seinen Schülern einmal zugerufen haben: Ihr sollt die Sehnsucht über die Erde tragen! Aber das ist ja ein Eiskeller, diese Lehre! Leben möchte ich, leben!«

»Es verführt uns ohnedies immer wieder dazu,« sagte Kantilener leise.

Verene Magelon war gleich wieder obenauf. »Gelt ja?« sagte sie freudig. »Geht's Ihnen doch auch so? Gott sei Dank!«

Kantilener fühlte eine verführende Kraft von dem schönen, jungen Mädchen strömen, das in tiefer Nacht allein und sehr nahe neben ihm ging. Er wahrte seine Ruhe nicht leicht; nur ein kurzer Blick nach Birgid Halfström half ihm.

Verene Magelon ahnte es kaum, daß Kantilener durch sie unruhig wurde. Sie liebte nicht; sie hatte, im Grunde, noch nie geliebt; – nun: unbestimmt erregt war sie doch.

Kantilener sah zu den Sternen; auch sie schienen zu beben; aber es war, als zitterten sie nicht aus Liebe. Sie zitterten vor Frost, dort, weit draußen in der ewigen Nacht, die eine so ungeheuerliche Mehrheit bildet. Eine Ewigkeit schwarzen Samtes, in die das lichte Leben kaum ein paar Mottenlöcher biß.

»Im Grunde genommen,« sagte er, »soll man von sich selber nur verlangen, was die Natur einem gab. Unsereinem sagt sie: Stirb, um zu werden. Ihnen nicht, Magelon. Sie sind zu schön zur Abkehr und zum Leid. Sehnsucht nach dem Aussterben stände Ihnen gar nicht gut; wer weiß, ob es nicht auch eine Barbarei wäre. Schönheit ist Verführung zum Leben; sie muß also konsequent und sich selber treu bleiben.«

Das hörte Verene Magelon sehr gerne. Sie sagte: »Wirklich, es wäre kein Stil darin, wenn ich mir das Gesicht zerschlagen und mich härmen wollte, weil das Leben ein großer Aufsitzer ist. Aber ein goldenes Mittelmaß werde ich versuchen. Und jetzt gute Nacht, mein lieber Freund.«

Sie waren in die liebe und lebendige Stadt gekommen, und diese rasselte anregend und lustig. Es leuchtete und musizierte aus allen offenen Türen und Fenstern und viel frühlingswärmer war es hier unten, als oben auf dem nachtversunkenen Berge, wo jetzt der alte Herr Rabesam gänzlich einsam durch die Wälder und über die weite Höhe ging, ob welcher die frierenden Sterne vor dem Tode zitterten, der auch ihnen bestimmt ist.


 << zurück weiter >>