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Der Katholik.

Etwas verlegen hinterbrachten die Jünger Herrn Lukas die Kunde, daß nun auch der kleine Sellier vor seinem Ende, das er nahe fühlte, nach dem alten Meister verlangte. Und das, nachdem er sich zu allen Sakramenten des Katholizismus bekannt hatte! Wigram hatte für den armen Franzosen ein beinahe hartes Wort. Er sagte: »Dieses Volk hat sich vom germanischen Blute entfernt und damit von der germanisch tiefen Mystik. Deren Wege allein konnte die Religion gehen, wenn sie alle Zeiten überdauern wollte. Die Franzosen sind zur Sinnenfälligkeit, ja zur Sinnlichkeit der romanischen Dogmenreligion übergegangen. Laßt den kleinen Kerl im Genuß dieser Handgreiflichkeiten sterben, Meister Lukas. Schonen Sie sich. Sie sehen gar nicht mehr gut aus!«

Aber Lukas Rabesam ging auch in dies zweite Spital, auf dessen Dach man den schwerverwundeten Franzosen, nach seinem Wunsche, getragen hatte.

Der kleine Sellier hatte sich für seine französische Erde mit jenem Mute geschlagen, den dieser Krieg gerade bei den zarten und sanften Naturen enthüllt hat. Er war auf der Lorettehöhe den ihm vertrauteren Bayern gegenübergestanden und konnte von der beherrschenden Höhe, welche die Franzosen dort innehatten, das lehmgelbe, trostlose Borkenkäfergewinde der Schützengräben sehen, wo sich der heiterste, lebenskräftigste und umgänglichste der deutschen Stämme unter hoffnungslosen taktischen Verhältnissen und in einer Hölle von Lehm, Ziegeln, Ruß und Ödnis in eine elende Erde festgebissen hatte, von der es sich auch nicht das geringste Stücklein entwinden ließ. Er sah in Jammer all das Leid und all die Größe hüben und drüben. Menschen dort wie hier! Opfermut dort wie hier, gegenseitige Achtung in jeder ritterlich empfindenden Seele: Es war, als sei nur Eines verboten: die Liebe!

Wenn er dann wieder in die vorderste Linie kam, Handgranaten warf und stürmen mußte, schlug er sich wie rasend. Aber in seinen stillsten Stunden betete er um einen raschen und sanften Tod.

Dann war er vor Verdun gekommen, hatte eines der Außenwerke mitverteidigt und einen monatelangen Hagel von Eisen und Feuer ertragen. Zuletzt hieb ihm ein Granatsplitter längelings durch den ganzen Leib, mit einer so ausgesuchten Geschicklichkeit im Wehetun, daß er noch lange leben mußte, bis sein eigener Leib einem Dasein absagte, dem seine stille Seele längst das Ade gegeben hatte. Als Gefangener lag er lange Zeit in einem deutschen Feldlazarette, wo er weder leben noch sterben konnte. Dann kam er als interessanter Fall nach München. Dort wurde für ihn, wie man sagt, »alles getan«. Man zog sein Leben dünn, wie Blätterteig, aber man zog es hinaus. Und in der tiefen Schwäche dieses halben Hoffens und halben Wartens auf das Ende griff das Menschenkind nach einem zweitausendjährigen Symbol um Trost. Er erbat sich einen Priester jener Kirche, die aus der ganzen Erde einen einzigen Staat Gottes machen wollte; einer Kirche, der selbst in der Zeit ihrer tiefsten Verderbnis, während Luther Lärmen schlug, immer noch ein Michelangelo, ein Correggio und ein Rafael in Glaube und Demut dienten! Er verlangte wie ein krankes Kind heim zu Muttern.

An Herrn Rabesam hatte er aber eine zögernde, kleine Anfrage diktiert, bevor er »zu Kreuze kroch«, wie Liesegang sich ausgedrückt hätte. »Soll ich? Ich sehne mich nach Kindesglauben.« Und Herr Rabesam ließ ihm durch die Halfström sagen: »Kehr ein, mein Kind. Wäre es erlaubt, mit der reservatio mentalis sich zu beugen: ›alles ist Symbol‹, so täte auch ich es. Das Jenseits macht den Menschen; das Diesseits erniedrigt ihn. Es ist gleich, welches Fernglas du nimmst.«

Der kleine Sellier war nun so hilfsbedürftig, daß ihm die Unterschiede zwischen Symbol und Dogma lächerlich gering erschienen. Und so rief er den Priester. Ein großes Glück wies ihm einen alten, weisen Weltpriester zu, dessen Herz in der Schule des Lebens weit und groß geworden war. Nachdenklich, aber voll Liebe sprach er bei Selliers Beichte seine Bedenken und seine Trostgründe in das heimatlose Herz und gab ihm die Flügel, die die Kirche immer noch aus der Kraft der Mehrheitsströme zu verleihen hat. Der Sterbende wurde friedlich und leicht; auf seine Frage, ob er den ehemaligen Lehrer noch sehen dürfe, wiegte der alte Priester sein Haupt, sah ihm nochmals in die Augen und sagte dann: »Tun Sie nur alles mit Gott.«

So trat Herr Lukas zu dem Abschiednehmenden, der auf dem flachen Dache seines Spitals saß und ganz München sehen konnte, zusamt den fernen Alpen und dem Hochmoos. »O, da sind Sie, mein Meister! Diese Einsamkeit! Wie hab ich mich nach Ihnen gesehnt!« Er lächelte schwach, dann sagte er: »Ah, ich war viel in Gesellschaft. Zu viel und zu nahe!«

Keines von beiden redete über Religion; die hatten beide im Herzen.

Sellier sah um sich und sagte: »Mir ist, als hätte ich diese ganze Zeit immer hierher gewollt. Hier ist eine Stadt, in der haben König Ludwig und Richard Wagner die Menschen versammelt. Die Handelsleute haben sie wieder geschieden. Hier war eine Hauptstadt der Herzen, eine Hauptstadt der ganzen Erde, weil die Künste erstrahlten. Die Korporale dieser Erde haben das verboten. Ach Gott. Es ist eine fürchterliche Zeit, in der die Zweckmäßigen die Einsamen in ihre Gewalt bekommen! … Warum, da es doch Naturschutzparke gibt, kann man solch eine Friedensstadt, eine Stätte der Vertiefung wie diese, nicht zum Asyl erklären und zum Reservat einsamer Menschen? Im rohesten Mittelalter hatten die Mörder ihr Asylrecht. Die Menschen haben einen Tag, einen einzigen Tag im Jahre, mitten im grausamsten Winter, und der gehört Christo. Er ist der einzige, leidlich reine Tag der beschmutzten Menschenherzen geworden. Kann denn nicht jeder große Staat die Noblesse aufbringen, eine einzige seiner vielen Städte zur Stadt Christi zu erklären? Zur Zuflucht derer, die den Frieden suchen? Meister Rabesam, o: Ihre Hand! Bei Ihnen ist allein ein Stück Heimat!« Eine Weile sah er lächelnd umher; dann fuhr er fort:

»O du glückliches München! O du heiteres Paris! O du träumendes Rom! Du Zürich, zwischen blauem Berghimmel und Seetiefe! Ihr seid Schwestern: ihr einigt die Menschen! Werdet ihr niemals Freie und Hansastädte der Seelen werden? Erdunmittelbar, wie jene reichsunmittelbar waren? Wann wird der Einsame endlich sich selber gehören dürfen, um die Vielen reicher zu machen?«

Diese Rede, die immer angestrengter und stockender wurde, brachte der verwundete Franzose in seiner Muttersprache heraus, flackernden Auges. Aber die Augensterne erweiterten sich mehr, als bloße Begeisterung dies vermag. Etwas wie Entsetzen trat in den Ausdruck der sanften, braunen Augen, als er sich vergeblich bemühte, weiter zu reden. Er sank zusammen. Herr Lukas legte ihm die Hand auf Stirne und Haar. Lange saß der Verwundete gänzlich vorgesunken und schien bereits hinübergeträumt zu haben. Die späte Augustsonne kam aus den Wolken und legte sich über ihn, ebenso mahnend und ruhespendend, wie Herrn Rabesams gute Hand. Da blickte er einmal noch auf, ward inne, daß er erhoben war und ringsum nur Himmel und Wolken erschaute und wußte nicht, wie ihm war. Staunend griffen seine Augen in jene des alten Meisters. Der lächelte. »Wir sind noch hier«, sagte er und deutete abwärts nach der Stadt. Das hatte der kleine Franzose gänzlich vergessen; dies Nach-abwärtsschauen. Er hob ganz ein klein wenig den Kopf.

Da kamen die Frauentürme ein wenig in seinen Gesichtskreis: die Frauentürme, die doch ein jeder liebhaben muß, Heide, Jude, Zyniker, – vielleicht nur der Erwerbsgeblendete nicht. Er grüßte sie mit den Augen: » Notre dame: voici, voilà,« sagte er mit schwachem Lächeln. Dann neigte er sich weiter vor und richtete sich auf. »Diese Stadt ist schön; sie ist eine Heimat. Hier kann man gerne begraben sein, wenn man nicht …« Weiter kam er nicht mehr. Ganz sanft sank er vornüber, versuchte noch, den Kopf zu heben, schwach zu atmen, … dann gings nicht mehr weiter.

Während die Spitalsgehilfen Anstalt trafen, die Leiche des kleinen Sellier hinabzuholen, schickte Herr Lukas die einzige Zeugin dieser entrückten Szene hinunter, nach Sir Hatchet, der mit endloser Geduld unten auf der Straße ab und auf gegangen war wie der Portier am Tore der Ewigkeit. Hatchet kam in einer, seinem Wesen sonst unziemlichen Eile herauf, denn er dachte, dem Meister sei etwas zugestoßen.

Er kam mit den Gehilfen, die das arme zusammengesunkene Häuflein Mensch hinuntertragen wollten, das weder Franzose mehr war, noch sonst ein Programm. Herr Rabesam gab den Trägern einen leisen Wink; sie standen stille. Dann zeigte er auf den Toten.

»Mein einziger, gänzlich erfüllter Schüler«, sagte er leise.

Dann durften die Träger das arme, erkaltende Ding mitnehmen, das eben noch sprechen hatte können.

Eine Zeit schwieg Herr Rabesam. Dann sagte er, indem er sich ganz besonders an Hatchet wandte.

»Sie wollen meine Religion stenographieren? Hier ist nicht im kleinsten von Religion gesprochen worden. Setzen Sie sich aber dorthin, wo dieser Verstorbene gelegen hat. So. Sie sind an heiliger Stätte. Und jetzt stenographieren Sie!«

Und mit einem Gedächtnis, das selbst der sachten Halfström weite und erstaunte Augen verursachte, diktierte der alte Herr beinahe wörtlich die letzten Reden des armen Franzosen in Hatchets amerikanisch zuverlässigen Tintenstift hinein. Er wischte sich dabei mehrere Male die Augen, aber sein Gedächtnis blieb klar.

»So«, sagte er dann und stand auf. »Und was der kleine Sellier gesagt hat, das habe ich gesagt, Mister Hatchet.«

Er ging hinab, und während er sich entfernte, stand Mister Hatchet so feierlich stramm auf dem Dache über München, als würde der Yankee-doodle gespielt, die Nationalhymne seines Vaterlandes.


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