Ernst Barlach
Fragmente aus früherer Zeit
Ernst Barlach

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Die Stundenhexe

Ticketacke, ticketacke sagt die altehrwürdige Familienuhr, und mit demselben Geflüster hat sie schon Großvaters Stube traulich gemacht. Aber bei ihrem einfältigen Gerede, das so übereins klingt, wenn man nicht scharf aufhorcht oder mitredet in Gedanken, ist doch jede Silbe immer neu und voll immer wieder gewaltigen Sinns, und wollte sie mit richtiger Betonung ihre Sekunden-Rede tun, unbescheiden wie jetzt und früher, sie müßte mit Sturmworten den Zeitengang malen, und die Strahlenströme der großen Weltenuhr müßten über sie rauschen, sie heben und mittragen im heftigen Reißen und Rollen die Zeiten hinunter.

Wenn ich in stiller Mitternachtsnähe ihrem Ticken lausche, stürzen Gedanken zu meinem Innersten, und Wortgewitter rasen, als wären durchs Ohr in Luftströmen und Klangwellen die Töne aus den Schallöchern und dem Läutewerk der ewigen Sonnenuhr eingedrungen, wenn sie die Stunden mißt der Weltall-Tagewerke.

Die wahre Mitternachtsstille, die gierig lauschende Nacht, ergreift die harmlosen Sekundenworte, knackt sie wie Nüsse und läßt den eingeschlossenen Sinn frei seine Fittiche strecken, die schwere Wucht und die Flugkraft seiner Bedeutung sich entfesseln und seine Entsetzlichkeit schäumen und überstürzen.

Dann höre ich das Knarren und den Gang des ungeheuren Weltenräderwerkes langsam vorwärtsstampfen und die Bedingungen immer neues Gebären und immer neues Geschehen entfesseln. Leben und Sekunden rieseln und sprühen durch den Raum, und neue Zeitbläschen und Lebenskeime hängen erlösungssehnsüchtig zwischen allem vollendeten und schon zersetzten Geschehen, die Minuten entstehen aus Strahlengarben in Donnergetöse neu und neu, und unfaßbare Gewalten stürmen und weben zwischen den Wundern der unfehlbaren Weltgesetze.

Ticketacke, ticketacke, immer wieder!

Die Worte zersprengen ihre unscheinbare Buchstabenhülle, und Riesengeister quellen hervor, nehmen uns bei den Ohren und blasen ihre Sturmworte auf die vorm Schlafengehen spiegelglatt daliegende Seele, schnauben Donnerworte erschrecklich auf uns herab und durchleuchten unsere Gedanken mit den Zickzackblitzen ihrer Erkenntnisse. Aus der alten Stundenhexe Munde gehen die Worte uneigen wie einer Besessenen hervor, einer Prophetin, die redet im ungewollten Sekundentakt Teilsprüche der immerraunenden Zeit.

Hexenreise, Holzschnitt, 1922
18,2 X 13,9 cm
Aus der Folge zu Goethes »Walpurgisnacht«, Blatt 6 Verlag Paul Cassirer, Berlin 1923

Wo ist der Dichter, der seinen Arbeitstisch heranrückte, lauschte und schriebe, lauschte und schriebe? Und welche Mitternachtsgedichte mag sie vor fünfzig Jahren dem Urahn gesungen haben, wenn er saß und der böse Geist über ihm war, der das leicht faßliche Ticketacke wie ein Sprachrohr vor den schlauen Mund nahm und den Sinn der Worte fälschte? Seiner Rede die Maske einer Freundesperson lieh, der keiner ein Übeles zutraute?

Wie lange wird sie so fortreden in der einfachen Uhrsprache in immer gleichen Takten und vom mächtigen Gang der Zeit seelenerschütternde Worte zu Mitternachtsgedichten aneinanderreimen?


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