Ernst Barlach
Fragmente aus früherer Zeit
Ernst Barlach

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Dr. Eisenbart

Als ich heute meinen gewohnten Abendheimweg zur Hälfte gewandert war und mir mit Wonne die Frostluft des schneidenden Winters durch Mantel und Hüllen dringen fühlte bis auf die Haut, während ich mit Raschgänger-Atemzügen bis tief zuhinterst die Brust durchspülte, merkte ich grade in der Totenallee, wie ein wahrer Dr. Eisenbart von Hunger in meinem Innersten sein Wesen hatte. Munter verfolgte ich meinen Weg, kam über die Eisenbahnbrücke und tauchte bald in die schattigen Hallen der Baumgruppen vor der Lombardbrücke.

Und wie ich rüstig meine Füße weiterpendeln ließ bergab und schreiten bergauf und Meter nach Meter verschleißen meines Heimwegs, kamen meine Gedanken voll Abendbrotsehnsucht aus dem Magen und nahmen ihre Brüder mit aus Herz oder Schädel, oder wo sonst noch Gedanken nisten in den Anatomiewinkeln meines Ich, und strichen schnellfüßig meinen Erdentritten voraus. Meine Blicke liefen hinterher, und wie ich erst zehn oder zwanzig Schritte gemacht hatte und auf dem Hügel beim Denkstein mitten im Dunkelsten ging – seht doch an, da waren meine Gedanken schon an den Lichtern der Brücke vorbeigerannt, ins jenseitige Dunkel getaucht, und ich sah sie schon spornstreichs längs dem andern Alsterufer dahineilen!

Und da, wahrlich, hatte ich einen Zukunftsschauer, ich sah mich selbst da, wo meine Gedanken weilten, und sah mich mir selbst voraus zu Haus, essen, trinken, lesen, schreiben und schlafen. Ich sah mich im wehenden Mantel am nächsten und übernächsten Abend denselben dunklen Heimweg betreten, ich ging und ging ihn viele hundert Male, nicht nur bei Frost und immer im Mantel, sondern auch bei Frühlingswärme und Sonnenhitze, und aber bei Winter und aber bei Sommer. So war ich mit innerem Augenlugen mir selbst Jahre vorausgeeilt, ehe ich noch aus dem Dunkel der Brückenanlagen heraus war und den ersten Bogen überschritten hatte. Das war schnell gegangen.

Als ich nun auf dem mittleren Bogen der Brücke stand und sah, wie treueifrig und überzeugungsvoll ich mit Meterschritten dreineilte hinter den vorausgedrungenen Gedanken her, da fiel mir schwer aufs Herz, daß ich mich übereilig gebärde, und fragte mich, warum denn so hastig?

Und als ganze Antwort hatte ich nichts Besseres, als was ich als Junge auch tat, wenn meine Seele vor mathematischen oder lateinischen Aufgaben, Formeln und Spekulationen in Ohnmacht verfiel und von den übergewaltig hereinstürmenden Fragen zermalmt und zertrümmert zu werden fürchtete: ich wurde bockig und wollte nun grade nicht, und da ich den letzten Brückenbogen noch nicht überschritten hatte, so stemmte ich das Schreitbein gegen die feste Erde und den Rücken gegen die nachdrängende, vorwärtstreibende Gewohnheit.

Nein, nun wollte ich grade nicht, da ich sah, wie schnell es ging, und ich nicht das Wozugut und das Warumso wußte.

Ich bockte gegen das Voran, rief meine Gedanken barsch zurück, sagte, wir gehen nicht weiter, wir wollen zurück, und ließ trotz Magenknurren und gegen den Gewohnheitsstrom die Gedanken rückwärts traben.

Erst nur in leichtem Trotz durch die dunklen Ulmensäle über die Eisenbahnbrücke und durch die Totenallee zurück; dann gefiel ihnen bald das Rückwärtstreiben sehr, und sie hüpften wie Mädchen im Ringelreihenschritt durch Gestern, Vorgestern und die verflossene Woche und rannten wie spielwütige Buben ein Hindernis jagen über die vergangenen Jahre rückwärts und immer rückwärts. Unds war gar nicht so weit! Man brauchte nur einige kräftige Eilschritte zu machen und trat den verwichenen Jahren in die hintersten Alt- und Neujahrswinkel hinein.

Ich hatte nur den einen Fuß fest auf den Boden gestellt, um es dem müden anderen einen Augenblick bequemer zu machen, da waren meine Erinnerungsgedanken wie rasende Spürhunde auf halbverwischter oder noch warmer Fährte über eines Vierteljahrhunderts durchwanderte Lebenslandschaft gerannt. Aber dann war meine Witterung rückwärts nicht weiter zu erschnuppern, und da die Erinnerungen wie toll in die Irre liefen und durchaus hinter meinem Geburtsjahr Spuren von mir finden wollten, so mußte ich ihnen pfeifen, den armen Gedanken, und als ich den anderen Fuß wieder stramm gestellt und es dem einen bequem gemacht, waren sie wieder bei mir auf der Brücke im Lichte der Laterne gegenwärtig.

Und wieder wie vor ein paar Minuten Füßewechselns-Zeit fand ich mich von dunklen Fragen, von wüsten Kolossen bedroht, ich sah Boxerfäuste geschwungen und Ringkämpferarme gestreckt: alles Bekannte schon meiner ersten Jünglingsjahre, wo ich noch ein unzerbrechliches Rückgrat von Dogmen und als Muskulatur einen Glauben besaß, der mich zu allen Kämpfen stählte, so daß ich selbst die schlimmsten Nachtgesellen zu Fall brachte, und wenn die Riesenzweifel kamen und mit drohend geschwungenen Fragezeichenkeulen, so riß ich nie aus und siegte immer.

Aber seitdem habe ich die philosophische Darre gehabt, und die Sicherheit ist mit der Kraft meiner Seele von mir gewichen. Den Zweifeln vermochte ich nicht mehr zu begegnen, und wenn die Nachtgesellen mit schlimmen Absichten und die dunklen Hünen von Fragen mit brutalem Grinsen kamen, in solch übermächtigen Gesindels Händen war ich windelweich und ein des Trotzens unfähiger Feigling. Vor ihnen riß ich immer aus, und besiegen tat ich sie nimmer.

Und wieder wie vor ein paar Minuten Füßewechselns-Zeit fand ihnen sein – aber solange ich noch mit einem kureifrigen Dr. Eisenbart im Bauche und mit Aussichten auf Abendgesellschaften, wie meine Bücher und die uralte Hexe Einsamkeit und ich einander gaben, an einem frühjahrswitterigen Märzabend auf dem Heimwege vor ihnen entfliehen kann, solange will ich mich meiner Feigheit nicht schämen und meine Flucht vor den finsteren Lebensfragen in den lichten Frieden der heiteren Häuslichkeit hinein als keine unwürdige Gewohnheit meiner Lebensjahre nicht verschweigen.


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