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XXIII

Mein russisches Erlebnis war gewaltig: es bestand aus Kainz und der Duse.

Reicher fuhr nach Petersburg als Teilnehmer an einem Gesamtgastspiel berühmter deutscher Künstler, mit Mitterwurzer voran, im Kaiserlichen Alexandratheater. Dagegen bot der Unternehmer des Nemettitheaters Kainz auf, dem Gustav Kober assistierte. Bei der Zollrevision an der Grenze sagte mir die schöne Jenny Groß, mitleidig auf eine dunkel verhüllte Gestalt und ihre Gefährten zeigend: »Das sind Konkurrenten; Katzelmacher, die auch in Petersburg gastieren. Der armen Person war in der Nacht sehr schlecht. Es ist eine gewisse Duse.« Kein Mensch kannte den Namen, und in dem ungewissen Licht sah sie nicht nach Berühmtheit aus, die Fröstelnde sah sozusagen gar nicht aus. In dem Hotel, wo wir in Petersburg wohnten, trafen wir Kainz an, auf dem damals der Bann Barnays lag: vom Bühnenverein für kontraktbrüchig erklärt, fand er alle Bühnen des Kartells verschlossen, er hat Jahrelang nur am Rande Berlins im Ostendtheater und in Graz auftreten können, unwürdig umgeben, zur Solospielerei verdammt; l'Arronge hat ihm dann durch den Austritt des Deutschen Theaters aus dem Bühnenverein das Leben seiner Kunst gerettet.

Mir war's mit Kainz ergangen wie jedem künstlerisch Sensitiven zunächst: ich hatte mich entschieden gegen ihn gewehrt, wie vor mir Brahm, ja ganz Berlin, als er, 1883, im Deutschen Theater, wie später Wien, als er, 1892, auf der Bühne der Theaterausstellung, und wieder, als er, nach Mitterwurzers Tod von Burckhard geholt, 1896 im Burgtheater erschien. 1892 erklärte die Wiener Kritik diese Sorte von Schauspielerei als Gott sei Dank in Wien ein für alle Mal unmöglich, und noch 1896 schrieb ihr Altmeister Ludwig Speidel: »In seiner ganzen Art befremdend berührte Josef Kainz das Publikum. Was die Wiener auf den ersten Blick an ihm vermißten, war eine sinnlich einleuchtende Erscheinung. Als Ernesto in Galeoto, mit dem er sein Gastspiel eröffnete, hat Herr Kainz, wie gesagt, keinen reinen Eindruck gemacht; der Gestalt fehlte der sinnliche Reiz, auf den man in Wien so schwer verzichtet.« Das liest sich heute kurios, da wir inzwischen erlebten, welche Macht Kainz über Wien gerade durch den sinnlichen Reiz seiner Gestalten gewonnen: gerade der sinnlichen Anmut seines ungeduldigen Achselzuckens, der sinnlichen Lust an seinem stolz federnden Schritt, der sinnlichen Betörung durch den heißen Klang seiner erregenden Stimme war die ganze Stadt untertan. Und doch hatte Speidel im Grunde recht, er drückt nur eine richtige Wahrnehmung unzureichend aus: was jeder bei der ersten künstlerischen Begegnung mit Kainz und vielleicht der Wiener noch ganz besonders entfremdend empfand, war nicht ein Gebrechen an sinnlich einleuchtender Erscheinung, »sondern sein Überschuß an Geisteskraft, vor deren überwältigendem Glanz selbst die glühende Sinnlichkeit, die für drei Dutzend üblicher Romeos gereicht hätte, verblich, ja zunichte ward; mitten in den Sinnenfieberrausch, den er ausstrahlte, fiel, dann immer wieder auf einmal ein eiskalter Guß aus der einsamen Höhe seines Intellekts. Und ich hatte nun noch auch das Pech gehabt, ihn zunächst in der Premiere von Hauptmanns »Friedensfest« und dann in »Sodoms Ende« zu sehen: ohne Kostüm aber war Kainz immer ein König in Unterhosen; er trug Kostüm wie seine Haut, ohne Kostüm schien er geschunden. Ich fand ihn damals so gräßlich, daß ich verschwor, mir derlei jemals im Leben wieder anzutun. Und nun saß ich ihm im Hotel bei Tische gegenüber; wir konnten erst ein instinktives Mißtrauen beide kaum verhehlen, als Schildknappe Reichers kam ich ihm noch besonders komisch vor, und den Dichter der verrufenen »Mutter«, die er nicht gelesen hatte, doch verabscheute, ließ er zunächst das hochmütigste von den abweisenden Gesichtern sehen, deren er sich einen großen Vorrat in allen Nuancen hielt. Aber irgendwie kam das Tischgespräch auf Hamlet. Als er in die Vorstellung mußte, verabredeten wir, nach der Vorstellung das Gespräch über Hamlet fortzusetzen. Wir haben es vier Wochen lang Tag um Tag die ganze Nacht hindurch fortgesetzt. Die liebe junge Lotte Witt, die wir eifersüchtig voreinander behüteten, saß gern dabei, zuweilen auch Reicher. Einmal hatte Reicher, als Mitternacht längst vorüber war, genug, stand auf und ging schlafen, wir merkten es in der Furie des Gesprächs kaum und sprachen noch immer von Hamlet, als Reicher wiederkam, die Hände zusammenschlagend. »Was ist?« rief Kainz, ärgerlich über die Störung. »Zeit zur Probe!« war Reichers Antwort; und lachend zog er die Vorhänge von den Fenstern weg, die liebe Sonne schien in den bleiernen Zigarettendunst herein. »Schad!« sagte Kainz und fuhr zur Probe. Doch nach Tische sprachen wir weiter. Im Gespräch war er unerschöpflich und wovon immer er begann, am Ende wurde stets ein Gespräch über Hamlet daraus. Dabei blieb er sein Leben lang. Zu Pfingsten 1907 gab er in Weimar vor einem Parterre von Goethephilologen den Tasso, der Wiener Zug ging morgens um sechs, es lohnte sich nicht, erst schlafen zu gehen, so saßen wir die ganze Nacht im Elefanten und sprachen dann im Coupé gleich weiter bis Wien; und wenn wir, um Atem zu holen, nicht von Hamlet sprachen, sprachen wir einstweilen von Rossi, wir sprachen auch von der Jüdin von Toledo, doch auch an Rossi und an der Jüdin von Toledo sprachen wir eigentlich immer im Grunde nur von Hamlet, auch nach Jahren auf dem Semmering sprach der Sterbende noch von Hamlet, und seit er fort ist, hängt unser abgerissenes Gespräch über Hamlet in meiner bangen Sehnsucht.

Wenn Hamlet sich schon als Fraß der Würmer fühlt oder wenn dem König vor der Leiche der Jüdin von Toledo graut, an solchen Stellen hörte Kainz sein eigenes tiefstes Lebensgefühl schlagen und dahin drang auch im Gespräch sein grausamer Geist, ein Nihilist, wollüstig, alles in Nichts verdampfen zu lassen, aber selbst diesen Dampf des Nichts dann auch noch wieder zu zerblasen, bis diese Blasen nun aus sich einen neuen Schaum treiben: Ahnung, Verheißung, ja Gewißheit, daß hinter allem äffenden Trug der Erscheinung, hinter dem durchschauten Nichts der Sinnenwelt doch, in uns?, über uns?, irgendwo Wahrheit liegen muß, eine beseligende Wahrheit, und uns erreichbar. Nicht, daß wir sie durch die Kunst erreichen könnten, meinte Kainz, die Kunst war ihm nur eine Gelegenheit, sich selber in Grund und Boden niederzurasen, sich loszuspielen, von sich selber los, sich zu vernichten, bis aus dieser Selbstvernichtung dann einmal sein inneres Geheimnis zum ewigen Leben auferstehen müßte. Dionysos aus Österreich hat ihn Kerr einmal genannt. Sich dionysisch trunken zu reden war die Leidenschaft dieses an der eigenen Kälte seine Wut entzündenden grauenhaft grandiosen Verstandes aus Wieselburg in Ungarn.

Eines Abends spielte Kainz nicht. Er hatte frei. Wohin gehen wir? Er entschied für die gastierenden Italiener: »Italienische Komödianten, noch so schlecht, sind mir lieber als die besten deutschen; auch von italienischen Schmieranten kann man noch immer was lernen.« La femme de Claude wurde gespielt. Hinter uns saß Mitterwurzer. Plötzlich packt mich Kainz am Arm, er klammert sich an und ich höre Mitterwurzer aufstöhnen; und ich selber sagte mir aber nur in einemfort: Du darfst nicht laut aufheulen, du machst dich lächerlich! Unvorbereitet, ganz ungewarnt, gar nicht darauf gefaßt die Duse plötzlich erleben, in Erwartung irgendeiner begabten Komödiantin sich plötzlich vor der Duse finden, zum erstenmal angesichts der Duse – was das ist, geht über alle Kraft des Worts. Dieses Erlebnis der Duse, eine Mondnacht auf der Akropolis und die Begegnung mit der Isolde, die dann meine Frau wurde, sind meine stärksten Erschütterungen gewesen. Sie ließen mich zu mir finden.

Ich schrieb dann in der Frankfurter Zeitung etwas wirr über die Duse. Darauf fragte ein eifriger Wiener Theateragent behutsam bei mir an, ob das nur ein Feuilleton oder aber eine so begabte Schauspielerin vielleicht tatsächlich vorhanden und es rätlich wäre, sie nach Wien zu bringen. Auf meine Beteuerung ihrer Tatsächlichkeit und dieser Rätlichkeit ließ der brave Täncer sie nach Wien kommen: am ersten Abend spielte sie vor leerem Hause, den nächsten Tag war sie weltberühmt.

Sonst sind mir von Petersburg nur die Leonardos der Eremitage und unsere nächtlichen Fahrten in Erinnerung, durch die mit so königlicher Raumverschwendung in Plätzen schwelgende Stadt, am liebsten im Dunst blau von der Newa dampfender Schatten auf dem Petersplatz immer wieder um den auf selber schon sich gleichsam aufbäumendem Granit über Schlangenleib hin himmelan sprengenden Reiter herum. Unweit von der Kasanschen Kathedrale mit der berühmten Muttergottes ist am Stadthaus, neben dem Gostinny-Dwor, dem lärmenden Bazar, eine kleine bunt bebilderte, von Kerzenglanz flirrende Kapelle. Da hält fast jeder Wagen, der Iswostschik springt ab, auch der Insasse steigt aus und während die Wildkatze von Pferdchen verschnauft, knien die beiden hin, werfen sich nieder, heftig an ihre Brust schlagend, und beten; wenn sie sich erheben, glänzen Tränen in ihren beseligten Augen. Da stand ich oft voll Neid und wünschte mir, wieder beten zu können. Und es lehrte mich auch die nationale Kraft Rußlands begreifen: gemeinsames Gebet eint Herren und Knechte, Prasser und Bettler zur Nation.

Das Gesamtgastspiel war aus, die Freunde kehrten heim. Ich hatte gar keine Lust, den Sommer in Berlin zu verbringen. Mir lag ein Roman im Sinn. Ein Roman beginnt in mir niemals mit einem Einfall, sondern immer als ein Schweben, eigentlich ein Erklingen von Farben. Die »gute Schule« war aus einer inneren Verfolgung von Rot entstanden. Jetzt lockte mich ein feines mildes sanftes Taubengrau von Stimmung; mir war bang, es in Berlin zu verlieren. Mein bißchen Geld reichte wohl noch, um nach Wien zu kommen; dort würde schon Rat und Vorschuß werden. Aber in Warschau ward mir bewußt, daß es gerade noch bis Krakau kaum reichte. Dahin erbat ich mir telegraphisch Hilfe von Berliner Freunden. Sie blieb aus und die drei Tage im Grand Hotel zu Krakau (ohne Geld kann man nur in einem allerersten Hotel zu wohnen wagen) mit der täglich längeren Miene des Portiers, wenn ich ihm wieder ein neues Pumptelegramm zur Besorgung übergab, das er natürlich für mich bezahlen mußte, ließen in meiner Erinnerung die weiße Küste Tangers auftauchen.

Ich kam vermeintlich nur auf ein paar Wochen nach Wien, schrieb zunächst ein in barreskem Spiel mit Sensationen schwelgendes, eher törichtes Büchl, von dem niemand weiß, warum es eigentlich »Russische Reise« heißt, und entwarf jenen Roman in Taubengrau, der dann »Neben der Liebe« benannt wurde; wenig von meinen Werken ist mir bis zum heutigen Tag so wert geblieben. Dann ging ich auf eine Zeit nach Linz, um mich bei den Eltern ein bißchen ausfüttern zu lassen. Ich erschrak, als ich dort eines Tags unversehens gewahr ward, daß mich das Gefühl überkam, eigentlich nach Wien zu gehören.

Ich hatte jetzt Wien auf einmal ganz anders gesehen, mit Augen, die Spanien fürs Barock erweckt hatte. Das alte Wien, das mir bisher durch das gepriesene Ringstraßenwien verdeckt geblieben war, das Wien der großen Habsburger, die gebaut hatten, was dann dem jungen Mozart aus Stein erklang, erschien mir, den Sinn dämmernder Erinnerungen aus meiner Salzburger Kindheit deutend. Meiner inneren Heimat lebende Gestalt stand da.

Noch in Paris war mir aus Brünn gemeldet worden, auch die Jugend Österreichs erhebe sich jetzt. E. M. Kafka hieß ihr Prophet, Rohrer der Verleger der »Modernen Dichtung«, die das erste Zeichen erwachender Zuversicht gab. Inzwischen war sie nach Wien übersiedelt, ein Dr. Joachim redigierte sie. Neulich in den vergilbten alten Heften blätternd, fand ich sie von einer Freiheit, einer künstlerischen Sachlichkeit, einer Höhe der Intention, dergleichen ich heute doch eigentlich nirgends spüren kann; ein Wille schlug, wenn auch des Wegs noch kaum bewußt, überall durch. Sie brachte Strindbergs Gläubiger und Samum, Peter Hille, Dehmel und Liliencron zogen auf, Schnitzlers Anatol debütierte hier, und unter ihren Stammgästen: Bertha v. Suttner, delle Grazie, Sophie von Khuenberg, Edith Salburg, Marie Herzfeld, Irma von Troll-Borostyani, J. J. David, Dörmann, Ebermann, Rudolf Lothar, Robert Plöhn, Saiten, Specht, Wallpach fehlt kaum ein Name von allen, die dann das nächste Jahrzehnt der österreichischen Literatur beherrschten. Ja daß es überhaupt, was Grillparzer, Feuchtersieben und Stifter noch ganz unmittelbar wußten, der Allerwegsundallerseitsundallerweltsliberalismus aber allmählich verschmiert und verwischt hatte, daß es österreichische Kunst gibt, nicht bloß als Anhang in irgendeinem Winkel der deutschen, sondern sui juris, eigenwüchsig, eigenmächtig, eigensüchtig, eigentümlich und eigenherrlich aus Urväterzeiten her, das ließ sich hier schon überall empfinden: es laut zu verkünden, dazu gehörte freilich dann noch erst mein Mut, meine Frechheit, meine Lust an Paradoxen, besonders solchen, die nur das Überkleid einer Binsenwahrheit sind.

Als ich ankam, hatte dieses junge Wien eben die Feuertaufe bestanden. Es galt dann Spöttern Jahrelang als eine meiner Erfindungen; der »Herr aus Linz«, der sich zum »Herrn von Wien« aufgeworfen, diese Wendung verlockte Feuilletonisten. Sie tut mir zu viel Ehre: nicht ich war es, der »Jungösterreich«, »Jungwien« Pate stand, sondern Henrik Ibsen. Ihn hatte der neue Direktor des Burgtheaters, Burckhard, im April 1891 zur Aufführung der »Kronprätendenten« geladen und das Bankett, das nachher seine Verehrer um ihn versammelte, gaben ihm Kafka, Dr. Joachim und Dr. Julius Kulka, die Leiter der »Modernen Dichtung«. Der Alte saß zwischen Burckhard und Richard Voß; Reimers sprach ein Gedicht Dörmanns, die Pospischill eins von Specht, Jakob Minor die Festrede, Pernerstorfer einen Toast auf den Politiker Ibsen. »Ein Glück« nannte der wortkarge Ibsen diesen Abend, »als etwas Schönes, Helles, Freudiges« empfand er ihn. Damit war Jungösterreich öffentlich erschienen. Aus den Händen Ibsens übernahm ich es.

Noch bevor ich nach Wien kam, war mir in der »Modernen Dichtung« ein Aufsatz über mein Schauspiel »Die Mutter« durch die Reife des Inhalts wie des Ausdrucks aufgefallen. Sein Verfasser nannte sich Loris, und auch was er über Barrès, über die Memoiren von Laurence und Alice Oliphant, über Amiel schrieb, ließ eher einen von vielen Erfahrungen, vielleicht auch Enttäuschungen gesättigt ausruhenden, mit einem müden Lächeln zurückblickenden, alles verstehenden, alles verzeihenden, allen Unwert dieser trügerischen Welt erkennenden Geist vermuten, der sich zum Spaß unter der tollen Jugend herumtrieb. Auch seine Verse schienen das zu bestätigen, solche Verse:

Mensch!
Verlornes Licht im Raum,
Traum in einem tollen Traum,
Losgerissen und doch gekettet,
Vielleicht verdammt, vielleicht gerettet,
Vielleicht des Weltenwillens Ziel,
Vielleicht der Weltenlaune Spiel,
Vielleicht unvergänglich, vielleicht ein Spott,
Vielleicht ein Tier, vielleicht ein Gott.

Wer ist Loris? war nach meiner Ankunft die erste Frage. Kafka lächelte sonderbar. Aber am nächsten Tag trat im Griensteidl ein schmaler Knabe, seine Verlegenheit in theresianistisch näselnder Dreistigkeit verbergend, pagenhaft auf mich zu, mir lässig die weiche Hand hinhaltend: Hugo von Hofmannsthal, der damals zwischen den Decknamen Loris und Theophil Morren abwechselte, weil zu jener Zeit Gymnasiasten noch verboten war, öffentlich zu dichten. Er war von einer leichten, huldvoll zur Schau getragenen, bezaubernden Anmut, Freiheit und Würde des Geistes, die mir unvergeßlich ist, so sehr, daß ich später oft ungeduldig, ja zuweilen in dunklen Stunden ungerecht gegen ihn wurde, weil ich ihn immer noch am Glanz seiner Jugend und jedes Werk immer wieder an seinen ersten Versen maß, den schönsten deutschen Versen meiner Zeit. In solcher häßlichen Stunde gab ich einst, verdüsterter Laune, befragt, was ich denn eigentlich auf einmal gegen meinen geliebten Hugo hätte, zur Antwort, selber vor ihr sogleich erschreckend und sie bereuend: »Ich kann ihm nur nicht verzeihen, daß er nicht mit zwanzig Jahren starb; er wäre dann die schönste Gestalt der Weltliteratur.« Aber in allen wachen Augenblicken bin ich doch meinem Glück sehr dankbar, daß er uns die schönste Gestalt der Weltliteratur schuldig blieb. Und noch heute, wenn ich im Plato lese, schimmern mir unwillkürlich aus dem Antlitz dieser Jünglinge die reinen Züge des Knaben Hofmannsthal hervor.

Er ist auch schuld, nur Hofmannsthal ganz allein war zunächst schuld, daß ich in Wien blieb. Ich wollte gar nicht, ich floh nach Linz, und als ich im Herbst wiederkam, gab ich mir noch immer vor, es sei bloß über den Winter, und im Frühling war ich entschlossen, mir nun bloß noch die Theaterausstellung anzusehen, dann aber eiligst »nach Europa« zurückzukehren. In dieser Ausstellung ward ich mit ihrem Direktor bekannt, Dr. Emil Auspitzer, dem Sekretär des Gewerbevereins, der Gefallen an mir fand und, als er im Herbst die Deutsche Zeitung übernahm, mir da die Theaterkritik und das Feuilleton anbot, für dreihundert Gulden monatlich, was damals nach meinen Begriffen eine »Riesengage« war. Damit begann im Herbst 1892 meine Wiener Tätigkeit. Sie kann den Wienern nicht viel bedeutet haben, denn als ich nach zwanzig Jahren, 1912, das liebe Haus, das mir Olbrich auf der stillen Höhe von Ober Sankt Veit, 1900, erbaut hatte, verließ, um künftig in Salzburg zu leben, hat niemand, gar niemand in Wien mich zu halten versucht. Und genau zehn Jahre später, fast genau auf den Tag, bin ich, Mai 1922, aus meinem Salzburg nach München übersiedelt.

Daß ich damals von Wien nicht mehr los, nicht mehr »zurück nach Europa« konnte, daran ist nur Hofmannsthal schuld. Der seltsame, zuweilen fast preziöse, dann wieder gern kindisch dalkende, sich hochmütig anschmiegende, drohend überreife Knabe, bei fliegender Hitze zerebraler Erregung doch immer herzenskühl, spielerisch gesellig vereinsamt, so furchtbar traurig in seiner verfrühten Lebenskunst, wurde mir zur Vision Österreichs. Mir ist gegeben, oft an einem Wort den vollen Satz, an einer Szene das Stück, an einer Tat den ganzen Menschen inne zu werden. So ließ mir der Anblick des jungen Hofmannsthal zum erstenmal mein vergessenes Vaterland erscheinen. Er war mir ein Revenant unserer Vergangenheit, von dem aus ich, etwas voreilig, auf unsere Zukunft schloß.

Österreich war aus, als Maria Theresia Schlesien preisgab; es verlor damit sein westöstliches Gesicht. Dann kam die Reihe von Habsburgern, die schon immer mehr doch eigentlich nur noch Lothringer waren. Der erhabene Stil Habsburgs war mit Karl VI. erloschen. Nun wurde guter Ton, unsere Größe zu vergessen. Schon Kaiser Franz zog Österreich aus der Weltstellung zurück; es fing zu privatisieren an. Und Kaiser Franz Joseph nannte sich einen deutschen Fürsten; für einen Abkommen Habsburgs war das sehr genügsam. Der Adel folgte dem hohen Beispiel, gab seinen geschichtlichen Beruf auf, überließ ihn den Bureaukraten und spielte lieber an der Börse mit. Da lag nun Österreich nur noch in der Luft und diese Luftgestalt von Grillparzer, Feuchtersleben und Stifter, von Bauernfeld, Schubert und Schwind, von Danhauser und Waldmüller, deren ich mich erst an der Erscheinung des jungen Hofmannsthal entsann, war noch im Verglühen so berückend schön, daß ich den verdämmernden Abendsonnennachglanz zwanzig Jahre lang für ein Morgenrot, daß ich das lächelnde Sterben Österreichs für einen heiligen Frühling hielt. Mein österreichisches Denken und Dichten in diesen zwanzig Jahren, es stimmt alles, wenn man nur das Vorzeichen wechselt, man muß ein Kreuz darunter setzen.

In der englischen »Nation« besprach neulich J. Middleton Murry meine »Sendung des Künstlers«, eine Sammlung von Aufsätzen über Horaz, Bach, Goethe, Feuchtersleben, Grillparzer, Stifter, Whitman, Rimbaud, Dostojewski, die hier aber alle nicht in der üblichen Art biographisch, sondern künstlerisch betrachtet werden. Da dies unseren Kritikern meistens entgeht, war ich der britischen Zustimmung besonders dankbar. Aber die größte Freude fand ich doch an der Überschrift: »Alt Österreich« nannte Middleton Murry seinen Aufsatz: er hat mir offenbar angehört, daß, wovon immer ich sprechen mag, doch die Rede stets eigentlich von Alt Österreich ist. Wenn nach meinem Tod jemand den Einfall hat, einmal meine »sämtlichen Werke« herauszugeben, soll er sie nur auch getrost Alt Österreich nennen; es kommt im Grund nichts anderes darin vor. Aber das Lustige daran ist, daß, als ich sie begann, als ich in Wien zu wirken, auf Wien einzuwirken begann, daß ich da meinem Unternehmen den Namen Jung Österreich gab. Was verloren war und nur in der Erinnerung unseres Bluts noch schlug, spiegelte sich uns als Zukunft vor.

In Hofmannsthals ersten Versen, Leopold Andrians »Garten der Erkenntnis«, Klimts Landschaften, Hugo Wolfs und Gustav Mahlers Liedern nahm Österreich Abschied. Ganz rein war der Kreis damit geschlossen. In der richtigen Entfernung wird man einst gewahren, daß von wenigen Kulturen ein so leuchtendes Bild stehen blieb.

In einer 1892 im Theater der Josef Stadt mit Ferry Bératon, einem hoch, nur für viel zu vieles begabten Maler, improvisierten Aufführung von Maeterlincks L'Intruse (wir hatten, als wir Schauspieler warben und das Haus mieteten, beide zusammen nicht zehn Gulden bar) trat ich zum erstenmal vor die Wiener, die so wenig von mir als was eine »Conférence«, was denn um Gotteswillen das eigentlich sein mag, wußten. Meinen alten Freunden aus meiner ersten Wiener Zeit, Richard Ulbing und Otto Stauffer, ward ich fast unheimlich; unter den neuen, die mir mein Ungestüm gewann, wurde mir Adalbert von Goldschmidt, der Komponist der »sieben Todsünden«, der Dichter der »Gaea«, der liebste. Der reichen Begabung Schnitzlers bin ich zögernd nach Jahren erst ganz gerecht geworden, Richard Beer-Hofmann war meinem Herzen gleich auf den ersten Blick so wert, als er mir diese ganzen dreißig Jahre blieb, und Salten mußt ich schon damals immer gegen alle Welt verteidigen, wie heute noch. Und schon kündigte sich mit Willi Handl und Artur Kahane eine noch jüngere Jugend an. In der großen Kritik aber war der erste, der mich in Huld und Schutz nahm, der kleine Julius Bauer, der die Verwegenheit so weit trieb, unserem Tisch im Griensteidl zu präsidieren, im sicheren Vorgefühl, daß mit uns ein »Extrablatt« der Literatur begann.

Neugierig spann sich, zunächst halb spöttisch, ein Verhältnis zu Max Burckhard an: wir traten jeder dem anderen gegenüber wie der Rappelkopf seinem Ebenbild; beide gleich verstockt in unsere Marotten bei völliger innerer Freiheit von ihnen, eifersüchtig nur das Recht auf unsere Narretei wahrend, auf die wir übrigens, sobald einmal dieses Recht anerkannt war, gern zu verzichten bereit waren, denn gar nicht um die Narretei, sondern um das Recht auf sie ging es uns und wir hielten uns überhaupt unsere Narretei bloß zur Erprobung dieses Rechts. »Justament!« war sein Grundwort; und: »wem's nicht paßt, der kann mich kreuzweise!« Hinter dem Stacheldraht eines nach Klarheit ergrimmten Verstandes, einer zynischen Aufrichtigkeit, auch gegen sich selbst, einer unversöhnlichen Erbitterung über das liebe Wiener Plantschen im Laubad des alles Verstehens und alles Verzeihens lag das reinste, sich unerwidert verzehrende Gemüt. Und nichts grausiger Entsetzliches aber hab ich erlebt als, zwanzig Jahre später, sein qualvolles Hinsiechen, sein langsames Absterben, Abfaulen, diese fressende Selbstzerstörung des durchaus dämonischen Mannes (es ist ein Wiener Irrtum, der »Stößer« sichere gegen Dämonen). Das war zugleich sein letzter Liebesdienst an mir, denn nun blieb mir kein Ausweg vor der Gnade mehr.


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