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XIV

Von meiner ersten Premiere nach Wien zurückgekehrt, fand ich, daß es Zeit wurde, doch endlich mit der Vorbereitung zur ersten Staatsprüfung Ernst zu machen: sie stand drohend am Ende des vierten Semesters und schon war mein drittes bald um. Ich beschloß mit der Arbeit am nächsten Montag zu beginnen, aber es blieb immer beim nächsten. Wienerisch gelinde Lässigkeit lag mir zu süß in den Gliedern; in keiner anderen Stadt hat Faulheit so viel Anmut, so viel Reiz, ja so viel Geist; sie stimmt auch so rein in den hold einwiegenden Rhythmus der in Weinberge gebetteten Landschaft, daß Arbeit hier fast als eine Störung der öffentlichen Sicherheit empfunden wird, und übrigens stellt die Wiener Art, müßig zu gehen, keine geringen Forderungen an den Geist: wer einen Tag wienerisch gefaulenzt hat, ist abends wirklich todmüd davon. Der Verkehr des Sokrates war schließlich auch im Grunde nur ein idealer Müßiggang und, als ich Student war, glich noch jedes Wiener Café, wenn auch mit etwas verrauchten Zügen, auffällig einer platonischen Akademie. Das ist gar nicht spöttisch gemeint: die Wiener Begabung, in losen Gesprächen den geringsten Anlaß, irgendein hingeworfenes Wort, den Doppelsinn irgendeiner Wendung plauschend zu benützen, um daran unmerklich bis zu den letzten Fragen emporzuklettern, freilich nur, um droben dann dem über Leben und Tod entscheidenden Problem geschwind einen sublimen Nasenstüber zu geben, ist ohne den Hintergrund einer großen Kultur undenkbar, einer Kultur von solcher Tiefe, daß sie sich zuletzt auch ihrer eigenen Fragwürdigkeit bewußt geworden und freilich des unbesonnenen Vertrauens zu frischer Tat nicht mehr fähig ist. Ich fragte mich damals zuweilen morgens erwachend, womit ich denn eigentlich gestern den ganzen lieben langen Tag verbracht. Es war nicht ganz leicht wiederzufinden, aber allmählich ergab sich: ich hatte verschlafen (dies ist für meine ganze Zeit an der Universität charakteristisch geblieben: ich verschlief immer und war täglich aufs neue wieder unglücklich, verschlafen zu haben), ich hatte verschlafen, so daß es nicht mehr dafür stand, vormittags noch etwas anzufangen, ich war also gleich essen gegangen und nach dem Essen gingen wir immer in ein kleines Kaffeehaus auf der Wieden und da spielten die anderen Billard, ich aber nie, sondern ich saß meistens mit Edmund Lang und mit Paul von Portheim, und da waren wir gestern in ein Gespräch von solcher Intensität geraten, daß es schließlich zu spät wurde, noch etwas anderes anzufangen, wir wollten also nur geschwind noch Abendessen und dann, um noch ein paar Stunden zu arbeiten, heimgehen, aber leider hatte sich aus jenem Nachmittagsgespräch nun abends noch ein neues entwickelt, so daß wir sitzen blieben und, nach der Sperrstunde, noch in ein Café in der Goldschmidgasse gingen, um den Gesprächsfaden auszuspinnen, leider so lange, daß ich mich natürlich auch heute wieder verschlafen hatte! So ging's damals Tag um Tag, aber ich muß doch sagen: was ein Gespräch in höchstem Sinne sein kann, hab ich so stark wie in jenen Stunden mit Lang und Portheim nicht mehr oft erlebt und Wesentliches meiner Eigenart ist damals entschieden worden, die Grundzüge meiner inneren Form sind damals erwacht.

Edmund Lang, der Vater des Malers Erwin Lang, und Paul von Portheim, ein genialischer junger Dichter, der sich bald darauf erschoß, gehörten einer Burschenschaft an, der ich nicht beitrat, weil ich meinem Vater versprochen hatte, nicht Couleurstudent zu werden. Ich glaubte diesen Pakt aber nicht zu brechen, wenn ich als Konkneipant, als »Kneipschwanz«, weder auf der Bude, noch auf dem Paukboden, noch auf Mensur fehlte, dem Ehrgeiz, jemals zum Burschen ernannt oder gar Chargierter zu werden, freilich entsagend. Der schlechte Ruf, in dem damals Studentenverbindungen bei Lehrern und Eltern standen, scheint mir unverdient. Sie boten dem Jüngling, gar dem aus der Provinz, der von der Schulbank weg auf einmal mutterseelenallein unbekannt in der großen Stadt stand, bisher auf Schritt und Tritt überwacht, plötzlich sein eigener Herr, immerhin einen gewissen Halt, einen gewissen Schutz, er wurde nach und nach, wenn auch nicht in der sanftesten Art, etwas entblödet, er kam in Form (wofür vorzusorgen ja von der deutschen Erziehung gemeinhin ganz vergessen wird) und wenn sich Mama beim ersten Wiedersehen vor seinen Schmissen entsetzte, so lehrten die ritterlichen Übungen den Schüchternen Mut, den Rauflustigen Zucht. Nichts wird dem Deutschen schwerer, als sich zur gefaßten Erscheinung zu bringen; die schlagenden Verbindungen allein waren damals immerhin der Versuch einer Erziehung dazu. Die Witzblätter haben sich später oft über studentische Formen lustig gemacht, aber ist nicht selbst die schlechteste Form, und werde sie durch Übertreibung noch so lächerlich, doch immer der Formlosigkeit, und gar der auf sich pochenden Formlosigkeit, zu der deutsches Bürgertum neigt, weitaus überlegen?

In jenen unendlichen Gesprächen, die nachmittags auf der Wieden begannen, um schließlich in irgendeinem Nachtcafé bei Morgengrauen noch immer nicht erledigt zu sein, hielten wir Gericht über Gott und die Welt. Mit Gott waren wir bald fertig, die »Wissenschaft« hatte diesen Begriff ja längst widerlegt, die moderne Naturwissenschaft ließ keinen Platz mehr für ihn: sie hatte die Götter durchschaut und ließ uns in Jehovah, Zeus und Christus nichts als Sublimierungen von Vorgefühlen erkennen, worin der Mensch Stufen seiner eigenen künftigen Entwicklung vorwegnimmt, sich von dem, was er selber werden soll, selber werden will, zunächst einmal ein Bild entwerfend, ein Vorbild, dessen Anblick ihm helfen mag, die Kraft zu solcher Selbstverwandlung zu finden. In seinem Gott imaginiert sich der Mensch vollendet, was er mit sich selber vor hat. Götter sind Skizzen, an denen wir uns auf unsere Selbstverwandlungen einüben. Gott ist nicht, ist nie, Gott muß erst werden, kann immer nur werden, um, kaum geworden, wieder neu zu werden, aus jedem von uns kann, aus jedem von uns soll unablässig Gott werden, um, eben indem er wird, schon wieder zu vergehen, in einen neuen zu zergehen. Ganz ähnlich hat Shaw später einmal gesagt, Gott stehe nicht am Anfang der Schöpfung, sondern an ihrem Ende, selber erst ihr Ergebnis, ihr Geschöpf, das höchste Geschöpf der Schöpfung. Wir bliesen uns gewaltig auf im Hochgefühl, alle Mythen demaskiert und im Handumdrehen ihren Wahrheitskern ausgeschält zu haben. Es schien uns nicht einmal mehr der Mühe wert, »antiklerikal« zu sein, wir lächelten der liberalen Angst vor den Priestern. Mochte sich der »Ungebildete« zunächst immerhin noch mit dem Köhlerglauben behelfen, der bei wissenschaftlicher Einsicht schon von selber verlöschen wird! Wir vertrauten der Macht ruhiger Bildung, wir vertrauten der Unwiderstehlichkeit der Naturwissenschaft. Das war eigentlich rührend von uns, gerade von uns, da wir doch sämtlich, wie wir da waren, von Naturwissenschaft keinen blassen Schimmer hatten: wir wußten nur, was davon zuweilen in der »Neuen Freien Presse« stand, und ich stach schon gewaltig hervor, denn ich hatte Büchners »Kraft und Stoff« gelesen.

Wir waren uns übrigens klar, daß, wie die Religion, auch die Kunst zu den schönen Selbsttäuschungen gehörte, für die der wissenschaftliche Mensch nur noch ein zärtliches Lächeln dankbaren Erinnerns an seine Kindheit haben kann. Schon im Gymnasium hatte Professor Eduard Richter, unser Geschichtslehrer, nachmals Geograph an der Grazer Universität, uns durch die Frage verblüfft, warum es eigentlich heutzutage keinem vernünftigen Menschen mehr einfalle, zu dichten. Denn der einzige, den er unter den lebenden Schriftstellern gelten ließ, Gustav Freytag, verkleide doch nur Wissenschaft als Dichtung; die Menschheit sei dem Kinderspiel der Kunst entwachsen. Und jetzt schien das durch Ibsen, den ich mir eben entdeckt und in einem Salzburger Blättchen leidenschaftlich gegen Hugo Wittmann, der die »Nora« behaglich spöttisch zu zausen sich erdreistete, verteidigt hatte, durchaus bestätigt: darum eben fand ich ihn so groß, weil es ihm nicht mehr um den schönen Schein, um ein holdes Spiel, um ein Vergessen des Lebens ging, sondern um den tiefsten Ernst unserer Probleme. Nur als Vorspiel zum Ernst des Daseins, als Anweisung unserer sittlichen Pflichten, als Einübung unserer Kräfte zum Kampf ließen wir die Kunst noch allenfalls gelten. Und wir wollten uns ihrer bedienen, um die alte Menschheit, die vorwissenschaftliche Menschheit, mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Nur im Dienste der Wissenschaft, nur als Hilfe zur Wissenschaft, nur durch ihren Gehalt an den Sinn erweckender oder die Tat erregender, an intellektueller oder emotioneller Kraft allein schien uns die Kunst berechtigt. Nur Ibsen und Wagner blieben uns.

In diese Stimmung fiel die Nachricht von Wagners Tod. Die Wirkung war unbeschreiblich. Seit Schüler hatte die deutsche Jugend keinen mehr so stark als die symbolische Gestalt deutschen Wesens, als Erscheinung unseres geheimsten Willens, empfunden. Bismarck und Wagner waren die Zeichen der deutschen Macht über die Welt. Wir erinnerten uns aus unserer Kindheit, daß Ehen, alte Freundschaften, treue Nachbarschaften zerbrochen waren durch den bloßen Namen Wagners, der den einen als Verheißung aller Seligkeiten, den anderen als Aufruhr aller bösen Geister klang. Und nun hatten wir diesen geächteten, landflüchtigen, gehaßten, verlachten, arm durch die Welt irrenden Mann jeden Widerstand niederringen, alle Niedertracht bezwingen, sein Werk vollenden, seinen Traum erleben und auf grünender Höhe sein Volk um sich zur Andacht versammeln sehen: dies hatte gar nichts mehr von eines einzelnen persönlichem Erlebnis, es schien ein Symbol für das Dasein des Genius auf Erden.

Jeder junge Mensch war damals Wagnerianer. Er war es, bevor er noch einen einzigen Takt seiner Musik gehört hatte. Der junge Max Burckhard hat einmal drei Tage auf dem Westbahnhof zugebracht, bloß weil es hieß, Wagner komme nächstens an. Er wollte nichts von ihm, die Zeit war noch von der Unsitte der Autogramme verschont, er wollte nicht mit ihm sprechen noch ihm die Hand drücken, er wollte sich nur sagen können: Du hast ihn gesehen! Und dadurch schien sein ganzes Leben künftig reicher; und wenn er vielleicht einmal heiraten würde und Kinder hätte, die müßten doch auch viel glücklicher aufwachsen, mit der Empfindung: unser Vater hat den Richard Wagner gesehen! Eine Linzerin, mit der ich als Kind mich spielend gebalgt hatte, sang im ersten »Parsifal« ein Blumenmädchen: ich hatte seitdem kaum mehr den Mut, mit ihr zu sprechen, sie war geweiht. An Wagner haben zum letztenmal Menschen unserer Zeit das natürliche Verhältnis zum Künstler empfinden gelernt.

Es war selbstverständlich, daß die Wiener Studentenschaft das Andenken Wagners durch einen Trauerkommers ehren mußte. Gerade dieses Jahr war die Burschenschaft, mit der ich verkehrte, an der Reihe, Kundgebungen der Studentenschaft zu leiten, und so hatte sie das beneidete Glück, auch den Trauerredner für Wagner stellen zu dürfen. Aber am Abend vor dem Tag, für den der Kommers anberaumt war, fand ich auf unserer Bude gleich beim Eintritt eine tiefe Verstimmung vor, deren lastender Druck sich bis zu den Füchsen hinab, bei denen mein Platz war, fühlen ließ. Der zum Trauerredner auserwählte Couleurbruder war plötzlich erkrankt und lag mit so hohem Fieber daheim, daß der Arzt es für ausgeschlossen erklärte, ihn vor vierzehn Tagen, im besten Fall!, aus dem Bette zu lassen. Das tat auch mir sehr leid, aber die Jammermienen der ganzen Corona waren so kläglich, daß ich lachend losplatzen mußte, zur allgemeinen Empörung der Gestrengen am oberen Ende, die mich fragten, ob ich denn, wenn mir schon jedes Ehrgefühl für die Couleur fehlte, nicht wenigstens die Schmach empfände, die der ganzen Universität drohe, wenn sie zu so hoher Gelegenheit keinen studentischen Redner zu stellen hätte? Ich erwiderte staunend: »Ja, warum stellt sie keinen?« Man brüllte mich an: »Du hörst doch, daß er krank ist, mit neununddreißig Grad Fieber!« »Ja«, sagt ich, »das ist sehr traurig für ihn, er tut mir ja sehr leid, aber dann soll halt ein anderer reden!« Es wurde plötzlich totenstill und sie sahen einander an, ob ich nicht auf einmal wahnsinnig geworden. Aber nach einer Pause hört ich mich von einer schadenfrohen Stimme hochmütig sanft gefragt: »Willst du, lieber Michl (dies war mein Kneipname), nicht vielleicht so freundlich sein und es übernehmen? Du hast ja noch fast einen Tag dazu Zeit!« Ich achtete des schallenden Gelächters nicht, das der Frage folgte, sondern antwortete: »Warum nicht?« Aber während rings um mich der ausgelassene Lärm der höhnenden Füchse noch schwoll, steckten oben die Chargierten die Köpfe zusammen, wir sahen sie sich in leidenschaftlicher Erörterung flüsternd beraten und dann ward »Silentium« gerufen und ich befragt: »Ist das dein Ernst, Michl, daß du dich traust, morgen abends, oder richtiger: heut abends, denn es ist Mitternacht vorbei, die Trauerrede für Wagner zu halten?« Ich antwortete gereizt: »Ich kann sie, wenn ihr wollt, auch gleich halten.« Aber am anderen Morgen wurde mir doch etwas ungemütlich. Ich ging zu Last, in die Leihbibliothek, und holte mir die sämtlichen Wagnerschriften, der hatte ja, zeigte sich, nicht bloß für Musik, sondern noch eine ganze Reihe merkwürdiger Sachen geschrieben, die mir eigentlich noch viel näher gingen, »Die Kunst und die Revolution« hieß eine, doch auch aus der anderen Schrift, über »Das Kunstwerk der Zukunft«, hätt ich mir am liebsten jeden Satz abgeschrieben: da stand doch eigentlich alles, was die Menschheit zur Erneuerung braucht, das war ja nicht bloß ein gewaltiger Künstler, der hier sprach, das war ein Prophet, hier rauschten alle Brunnen des Lebens! Ich glühte, meine Rede war vergessen, wie hätte denn ich Hundsfott mich erdreisten können, am offenen Grabe solcher hohen Geistesmacht mein ungewaschenes Maul aufzutun? Und so las ich heißen Herzens nur immer weiter, Satz um Satz exzerpierend – ich hätte Band um Band abschreiben mögen, um Seite für Seite den Horchenden vorzulesen: Das wäre noch am ehesten eine des Erhabenen würdige Feier gewesen! Aber schon war's höchste Zeit, mich in Wichs zu werfen, die mir zu der festlichen Gelegenheit erlaubt worden war, ich rollte den Stoß von Exzerpten zusammen und schob ihn in die hohen Stiefel. Und erst in der Weite des großen Sophiensaals, beim Glanz der vielen Lichter, ward mir bewußt, daß ich jetzt gleich zu diesem Gedränge von dreitausend Menschen würde reden müssen, ahnungslos, was. Da wurde mir recht schummrig zumut. Und wenn ich nur den ersten Satz, um anzufangen, gewußt hätte! Doch kein erster Satz fiel mir ein, es war in mir auf einmal ganz schwarz.

Als ich dann aber, nach der offiziellen Rede irgendeines gelehrten Fachmanns, nur endlich erst oben stand, den Glanz von so vielen Tausenden frohen gläubigen jungen Augen mir anvertraut fühlend, die tiefe Stille der Erwartung gleichsam hörend, da kam eine himmlische Sicherheit über mich. Ich ließ mich einfach sprechen, es sprach aus mir, ich sagte nur Wort für Wort dem inneren Souffleur nach. Und als ich nach den ersten Sätzen schon ein Rascheln zustimmender Bewegung, bald aber den stürmischen Beifall vernahm, wußte ich, daß es fortan ganz gleich war, was ich sagen würde, sie hätten mir, hätt ich japanisch geredet, ebenso begeistert zugejauchzt.

Was ich damals eigentlich gesagt habe, hat sich nie genau feststellen lassen. Zunächst war's ein Widerhall aus Wagners revolutionären Schriften; die Kraftstellen, die mir beim eiligen Lesen hängen geblieben waren, wurden emphatisch vorgebracht, und immer mit unausgesprochenen, doch von den Hörern gierig ergriffenen Nutzanwendungen auf Österreich, gegen Österreich, immer mit Winken über die schwarzgelben Grenzen hinaus; die Trauerfeier wurde zur deutschnationalen Demonstration und die Begeisterung überschwoll, als ich mich schließlich in meiner billigen Symbolik bis zu dem beschwörenden Wehruf an Deutschland verstieg, es möge sich doch endlich erbarmen und der schwer büßenden Kundry nicht länger vergessen, die jenseits der Grenzen noch immer sehnsüchtig des Erlösers harrt! Da war der ganze Saal ein einziger Aufschrei der Begeisterung, die Schläger klirrten blitzend auf die Tische nieder, man sprang auf die Stühle, Hände klatschten, Tücher winkten, bis der Donnerhall der Wacht am Rhein aus tausend jungen Kehlen alles verschlang. Schon aber stand auch ein kleiner Herr neben mir, der arme Polizeikommissär, im Namen des Gesetzes die Versammlung für aufgelöst erklärend. Ich war der einzige, der ihn in dem ungeheuren Tosen vernehmen konnte. Er schrie sich heiser, die sangen jauchzend weiter, er schrie noch immer, ich stand gelassen neben ihm, nur etwas verwundert und leicht geschmeichelt in das von mir erregte Meer unter mir blickend, da rannte der kleine Polizeikommissär weg und gleich darauf drang Wache herein, den Saal mit Gewalt zu räumen. In diesem Augenblick stieß mich jemand weg, Schönerer war's, einen Schläger schwingend, Widerstand gegen die »Polypen« gebietend, schäumend vor Zorn, elementar in seiner Wildheit: der Anblick seiner entfesselten Wut ist mir unvergeßlich geblieben bis auf den heutigen Tag und wenn ich von gotischen Menschen reden höre, taucht immer wieder dieser Ritter Georg in geballter Flamme vor mir empor.

Das war der berühmte Wagnerkommers, der schuld ist, daß ich heute nicht ein braver alter Notar in Linz an der Donau bin. Denn kaum vierzehn Tage später ward ich vor den akademischen Senat zitiert und in feierlicher Sitzung peinlich verhört. Rektor war damals Friedrich Bernhard Christian Maassen, ein angesehener Kanonist, bei Studenten gleich unbeliebt wie bei seinen Kollegen, als klerikal verrufen, ein starrer Mecklenburger ohne jedes Verhältnis zur österreichischen Eigenart, dessen strenge Rechtlichkeit der zur Schau getragene, sozusagen zum Putz verwendete studentische Hochverrat empören, das seinen liberalen Kollegen beliebende Kokettieren mit straflosen Maulgefährlichkeiten anekeln mußte. Die Gelegenheit, einmal ein Exempel zu statuieren, war ihm sichtlich willkommen. Aber wenn ich zugeben muß, daß er in der Sache recht hatte, so darf ich doch auch nicht verhehlen, daß er sich in der Form vergriff. Er wollte mich überlisten, er wollte mich fangen, er begann ein Spiel der Katze mit der Maus und so ward aus der ernsten Sitzung eine jämmerlich alberne Farce. Wenn er mich gefragt hätte: Sind Sie Patriot?, ich hätte keinen Augenblick mit der ehrlichen Antwort gezögert: Kein österreichischer!, und ich hätte, des Hochverrats bezichtigt, meine Bereitschaft, um der Nation willen mit Freuden den Staat preiszugeben, nicht nur nicht geleugnet, ich hätte sie für meine sittliche Pflicht erklärt, aber ich hätte willig anerkannt, daß kein Staat der Welt sich das bieten lassen wird, ich hätte das Recht, mich zu bestrafen, ihm nicht bestritten. In Erwartung einer solchen Theaterszene, die meinem vergrößernden Jugendsinn von weltgeschichtlicher Bedeutung schien, betrat ich den Saal. Aber der Rektor begann mit der Anklage: Sie werden beschuldigt, auf dem Wagnerkommers eine Kornblume getragen zu haben. »Ich trug eine Kornblume.« Warum? »Weil alle anderen auch Kornblumen trugen.« Warum trugen alle Kornblumen? »Warum die anderen Kornblumen trugen, weiß ich nicht; ich hab keinen gefragt.« Was dachten Sie sich dabei? »Ich dachte mir, daß ja die Kornblume doch die deutsche Treue symbolisiert.« Die liberalen Beisitzer begannen zu schmunzeln. Aber, fuhr der Rektor fort, wenn es Ihnen so wichtig war, Ihre deutsche Treue darzutun, warum haben Sie nicht, um auch Ihr österreichisches Gefühl zu bekunden, daneben auch ein kleines schwarzgelbes Bändchen ins Knopfloch gesteckt? »Weil Euerer Magnifizenz bekannt sein dürfte, daß in Österreich das unbefugte Tragen von Ordensabzeichen gesetzlich verboten ist.« Die Beisitzer unterhielten sich königlich. Wurde die Wacht am Rhein gesungen?, fragte der Rektor hastig. »Ja.« Warum? »Weil sie angestimmt wurde.« Warum? »Weiß ich nicht.« Von wem? »Es werden gegen dreitausend Studenten gewesen sein, die sie anstimmten.« Aber die österreichische Volkshymne wurde nicht gesungen? »Nein.« Warum nicht? »Weil sie nicht angestimmt wurde.« Warum wurde sie nicht angestimmt? »Weil es keinem einfiel.« Sie haben in Ihrer Rede die Revolution verherrlicht? »Mit lauter Zitaten aus Wagners in jeder Buchhandlung erhältlichen Schriften.« Können Sie wörtlich den Satz über die Kundry wiederholen? »Ich sprach frei, der Sinn aber war, daß Kundry sehnsüchtig des Erlösers harrt, was nicht zu leugnen ist.« So ging das alberne Fragen fort, behutsam an jeder grundsätzlichen Erörterung vorbei. Ich hatte zuweilen fast Lust, auf den grünen Tisch zu schlagen und aufzuschreien: »Ja, meine Herren, ich bin ein Hochverräter, wir sind's alle, wir wollen deutsch sein!« Dann aber ward ich entlassen und es dauerte keine Viertelstunde, da ward ich wieder gerufen, um das Urteil zu hören: Für immer von der Universität Wien verwiesen! Die vergnügten Beisitzer, die mir immer so freundlich zugezwinkert hatten, hatten offenbar auch dafür gestimmt.

Ich hätte schon damals ganz gut begriffen, ja für recht erkannt, wenn ich um meiner staatsfeindlichen Gesinnung willen relegiert worden wäre, meinetwegen gleich von allen österreichischen Universitäten. Aber jede Frage nach meiner Gesinnung war im Verhör vermieden worden. Ich wurde relegiert, weil mir nachgewiesen war, daß ich eine Kornblume und kein schwarzgelbes Bändchen im Knopfloch getragen, daß ich die Wacht am Rhein mitgesungen und daß ich die Volkshymne nicht angestimmt hatte. Nicht daß ich, aber unter welchen heuchlerischen Vorwänden ich relegiert wurde, war das Aufreizende. Es gehörte zu den Eigenheiten des liberalen franzisco-josefinischen Österreich, sich selbst, wenn es einmal im Rechte war, durch den Gebrauch, den es davon machte, wieder ins Unrecht zu setzen.

Am anderen Tag war ich der populärste Student Wiens. Bevor ich nach Graz abging, gab mir die Studentenschaft einen Abschiedskommers. Er wurde verboten und als wir ihn dennoch abhielten, von der Polizei gesprengt. Da marschierten wir von der Wieden in ein Gasthaus in der Josefstadt, wo wir fröhlich zechten, bis auch die Polizei der Josefstadt, inzwischen von der Wiedener, deren Befugnis an der Grenze des Bezirks erlosch, verständigt, im Eilschritt angerückt kam und uns wieder vertrieb, was jetzt schon etwas schwieriger ging, weil mit der Bierstimmung auch der widersetzliche Mut gewachsen war; einige wichen so lange nicht, bis sie von Polizeifäusten auf die Gasse getragen worden waren, zum Gaudium der Nachbarschaft: »Jessas, die armen Studenten!« hörte man Frauen in Nachtgewändern an geschwind erleuchteten Fenstern klagen, »das is doch eine Gemeinheit!« Nun zogen wir auf den Alsergrund und bis nun auch hier wieder das Kommissariat verständigt war, schwoll indessen die Fidelität so stark an, daß wir dem Alseraufgebot, als es endlich erschien, offenen Widerstand leisteten, uns zu Boden warfen, an Tischbeine klammerten, mit Sesseln um uns schlugen und uns Mann für Mann gewaltsam hinaustragen ließen. Ich lag schon an der Luft, die Frische der gelinden Märznacht tat mir wohl, als ich auf einmal einen Wachmann, dem in der Bedrängnis die Geduld riß, seine Faust einem meiner Bundesbrüder ins Gesicht stoßen sah. Da fuhr ich rasend auf, sprang hinzu, riß dem Wachmann von hinten den Säbel aus der Scheide und schlug eben in meiner sinnlosen Wut schon drein, als ich mich gepackt, zurückgerissen, mir den Säbel entwunden und mich fortgetragen fühlte von einer mit mir ins Dunkel der Nacht hinein entlaufenden Gestalt, auf deren Kopf ich, weinend vor Zorn, mich um meine Rache betrogen zu sehen, mit den Fäusten einhieb, während sie nur in einemfort du Trottel, du Rindvieh schrie, bis ich an der Stimme Pernerstorfer erkannte, der endlich, in der Nähe der Votivkirche, mich, den immer noch Weinenden, ablud und mir, als er nun, weit vom Schusse, schnaufend im bergenden Dunkel der stillen Nacht neben mir auf der Erde saß, die Jahre Zuchthaus vorrechnete, denen mich sein kräftiger Griff gerade noch entrungen hatte.


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