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XVIII

Ibsen hat einmal, seine Flucht aus der Heimat erklärend, gesagt: »Ich mußte heraus aus der Schweinerei da oben, um einigermaßen sauber zu werden.« Genau dasselbe Gefühl, das ihn nach dem Süden trieb, hatte mich in den Norden geführt. In der Nähe sieht Jugend so scharf, daß sie daheim rings nur Schweinerei erblickt, darum sehnt sich überall der Jüngling, um sauber zu werden, nach der blauen Ferne. Mein Instinkt hatte mich gut gelenkt: Berlin gab mich mir selber zurück, der Taumel wich, daheim wär ich an mir erstickt, Berlin half mir aus Dampf und Dumpf ins Helle, Berlin erzog mich zur Arbeit und so schlug meine innere Form ihre verschlafenen Augen wieder auf. Ich bin eigentlich ein geborener Benediktiner, der seinen Beruf und seine Zeit verfehlt hat: ein Kloster des sechzehnten Jahrhunderts; und so blieb mir nun nichts übrig als sozusagen ein Benediktiner auf eigene Faust zu werden und in mir selbst mein Kloster zu finden, was wohl nicht ganz das Richtige sein wird. Ich empfinde nichts so stark in mir als das Bedürfnis, dienen zu können; dienen zu müssen, irgendwie dienen, Menschen oder Sachen; daß man auch Gott dienen kann, hatt ich damals vergessen; daß man im Grunde nur Gott dienen kann, lernt ich erst spät. So war auch das Ergebnis meiner Berliner Jahre schließlich wieder bloß, daß ich ein großes Wissen aufgehäuft hatte, doch mit ihm nichts anzufangen wußte, noch weniger aber mit mir selbst. Und der einzigen Sicherheit, die mir noch zuverlässig schien, war ich jetzt auch ungewiß geworden: des Glaubens an Bismarck. Er selber erschien freilich in der Nähe nur noch gewaltiger als aus der Ferne, er hatte das Heldenmaß seines Werks. Wer aber sonst? Wer wird dereinst diese Rüstung tragen können, der nur er allein gewachsen war? Daran schien er nicht zu denken, danach nicht zu fragen. Die deutsche Macht ruhte ganz auf seiner persönlichen Gegenwart allein, auf dem weltdurchdringenden Blick seiner Augen allein. Das Gefühl der dämonischen Hybris, das Leben der Nation, ja das Schicksal Europas in die Faust des eigenen Ingeniums zu legen, ließ mich schaudern vor dem siebzigjährigen Mann, der vergaß, sterblich zu sein. Aus solchem Schauder vor Bismarcks Deutschland ohne Bismarck war ja Wolfgang Heines und mein »nationalsozialer« Plan erwachsen: da wir in diesem ideenlosen, gewissenlosen, lieblosen, gewinngierigen und genußsüchtigen Bürgertum nirgends eine Kraft gewahrten, das ganz auf Entsagung, Pflicht und Hingebung gestellte Deutschland Bismarcks zu tragen, schien es uns nur möglich, wenn eine junge, noch unverdorbene, noch opferfreudige Schicht, in der die Tugenden unseres Volks, Ehrfurcht, Verzicht und Treue, noch unversehrt waren, ihr Träger würde: wenn die Hohenzollern Arbeiterkaiser würden, war uns nicht bang, daß sie dereinst an der Arbeiterschaft einen Ersatz für Bismarck hätten! Adolf Wagner, um mich besorgt, als er von meinem verdächtigen Umgang mit Sozialdemokraten erfuhr, hielt mir einmal eine Standpauke, mahnte mich an meine Zukunft und fragte zuletzt spöttisch: Oder genügt's Ihrem Ehrgeiz, ein Agitator zu werden? Als ich ihn merken ließ, daß mir zur Zeit Agitatoren eigentlich wichtiger schienen als Professoren, unter denen ich nur diejenigen schätzte, die selber eigentlich schon auch nichts als Agitatoren wären, wenn auch gut maskierte, gab er lachend den Versuch auf, mich zur Vernunft zu bringen. Mir war's mit dem »Agitator« ganz ernst: in meiner Verzweiflung am Bürgertum schien mir für seine Jugend kein Ausweg, als ihm offen aufzusagen und das Erbe deutscher Bildung, das sich beim Bürgertum so schlecht verzinste, fruchtbringend in der Arbeiterschaft anzulegen. Die Wahl, ein geistiger Anwalt von Arbeitern zu werden oder verkaterten Studenten Jahr für Jahr dasselbe Kolleg gelangweilt zu diktieren, schien mir nicht schwer.

Schuld war übrigens auch ein Mann, dem ich damals wahrscheinlich Unrecht tat. Ich hatte als leidenschaftlicher Adolf-Wagnerianer von vornherein ein Mißtrauen gegen Schmoller, das er mir auf den ersten Blick erwiderte. Sein Seminar gar fand ich unerträglich langweilig; ich wußte nicht, daß hier gesät wurde, was zehn Jahre später an allen deutschen Universitäten zur Vorherrschaft gedieh: bei Schmoller kündigte sich damals schon der Einzug des »Betriebs« in die Wissenschaft an, der Ersatz des Gelehrten durch den Zettelkatalog. Das konnte bei Schmoller ganz unbemerkt geschehen, weil er selber ja noch durchaus eine Gelehrtennatur alten Schlags war, eine zwar stille, doch starke, wenn auch auf Schwabenart versteckte, dafür aber durch einen geheimen Ehrgeiz ganz hohen Stils unablässig geheizte Persönlichkeit. Wagner verschwendete sich mit beiden Händen, Schmoller sammelte noch die Brosamen ein, er war erfinderisch im Sparen und so verdanken wir seiner still gemächlichen Betriebsamkeit einen ganz neuen Begriff wissenschaftlicher Organisation, die dadurch allmählich sachte demokratisiert und auch den Unbegabten zugänglich geworden ist; Talent wird eher als Störung empfunden. Mir war nun dieses zögernde, nichts geradezu bejahende noch geradezu verneinende, an Krücken von Einerseits und Anderseits kriechende Sitzfleisch von Gelehrsamkeit, gar wenn ich an den glänzenden, unaufhörlich blitzenden und in all seiner Pedanterie doch sozusagen ritterlichen Wagner dachte, ganz unleidlich und es mußten Jahre vergehen, bis ich allmählich ahnen lernte, wieviel Reife des Urteils, welche Weite nicht bloß, sondern schon auch wahre Größe des Überblicks, ja wieviel ruhig formende Geisteskraft doch im Grunde seiner behutsamen, ja zuweilen komisch ängstlichen Mäßigung verborgen lag, und daß alles Listige, fast Arglistige, Bauernschlaue, das, wie wir's damals nannten: schwäbisch Faustdicke hinter den Ohren vielleicht nur sozusagen ein Stacheldraht war, hinter dem er es erst wagte, für sich in Sicherheit ein freier Geist zu sein. Daß er Feudalen wie Radikalen als Kompromißmensch gleich verdächtig war, nahm er mit seinem gewohnten boshaft lauernden Schmunzeln hin, aber gerade diese mir so verhaßte Neigung zum Vermitteln, Verwischen, ja Verschmieren von Gegensätzen kam im Grunde vielleicht aus einer Erkenntnis, für die jene Zeit noch nicht reif, mit der er uns allen überlegen und der Entwicklung voran war, der Erkenntnis nämlich, daß die Frage, deren Entscheidung es galt, gar nicht wie wir alle meinten, Individualismus oder Sozialismus hieß, sondern höher lag, hoch über beiden und für beide gleich wesentlich, von beiden aber noch ungelöst, ja noch in ihrer Bedeutung unerkannt, daß es vielmehr die Frage war, wie sich die Menschheit, sie sei sozialistischer oder individualistischer Form, sei monarchisch oder demokratisch geführt, sei nationalstaatlich oder völkerbündisch gruppiert, dann noch erst auch über den Ständen und Klassen und Parteien eine den ruhigen Gang des gemeinsamen Lebens hütende, dem Tagesstreit entrückte, durch alles, was man Politik zu nennen pflegt, ungestörte Macht sichern kann. Er war in Zeitfragen vielleicht darum so geneigt, sich zu seinem Vorteil abfinden zu lassen, weil sie ihm nicht sehr wichtig schienen, weil er, weit über sie weg, seinen geschichtlichen Blick auf Sorgen gerichtet hielt, die damals noch wie blauer Dunst am Rand des Horizonts verschwammen. Auch für die Zwischentöne seines Stils fand mein Ohr erst später die Geduld: auch sein Stil ist ein Leisetreter, er liebt Zwielicht, er hat weder Treitschkes schnaubendes Pathos noch Adolf Wagners aggressive Sachlichkeit noch Rankes inkognito reisende Hoheit, aber dafür, was damals schon selten war und seither fast ausgestorben scheint: Diskretion. Aber ich war noch in meinen Urteilen über Menschen viel zu rasch, um in ihren Winkelzügen zu verweilen, und, ahnungslos, zu welcher inneren Höhe, Freiheit und Fernsicht sich dieser mit so vielen heimlichen Tücken und kleinen Eitelkeiten durchspickte Duckmäuser doch allmählich emporgeschlichen hatte, ließ ich es an dem Weihrauch fehlen, den er von seinen Schülern gewohnt war, unser gegenseitiges Unbehagen und Mißtrauen wuchs und schließlich fand sich auch noch ein wohlwollender Zwischenträger, der mir warnend zu verstehen gab, Schmoller habe vorsichtig den Verdacht angedeutet, ich hätte vielleicht gar kein Abiturientenexamen und sei sogar, Österreichern ist alles zuzutrauen, ursprünglich, man denke!, Kaufmann gewesen! Es gelang mir, mich von dieser entehrenden Verleumdung glänzend zu reinigen, ich bewies schwarz auf weiß meine Würde, das in solchen Fällen übliche »Mißverständnis« wurde herzlichst bedauert, aber dieser Vorgeschmack vertrieb mir den letzten Rest von Lust zur akademischen Karriere.

Also doch Agitator? Nach Freiburg gehen und, wie mir Pernerstorfers Briefe dringend rieten, dort bei seinem Freund Philippovich den Doktor machen, der mir in Berlin durch die gespannten Beziehungen zu Schmoller ziemlich ungewiß geworden, und dann zunächst Sekretär irgendeiner Handelskammer, bis ich Dreißig würde, was man damals sein mußte, um ins österreichische Abgeordnetenhaus gewählt zu werden? Aber wenn ich dann wieder mit Arno Holz im Café Bauer saß, schien's mir doch eigentlich weit schöner, in irgendeiner Dachkammer zu hocken und auch »meine Muse wallen« zu lassen »auf andren Wegen –

Ins Waldversteck verirrt sie sich nur selten,
Die blaue Blume ist ihr längst verblüht,
Doch zieht die Ahnung neugeborner Welten
Ihr süßer als ein Märchen durchs Gemüt.
Zur Armut tritt sie hin und zählt die Groschen,
Ihr rotes Banner pflanzt sie in den Streit,
An ihr Herz schlägt das große Herz der Zeit
Und aller Weltschmerz scheint ihr abgedroschen!«

War ich denn aber ein Dichter? Ich wußte nicht einmal, ob ich mir's wünschte, einer zu sein! Die Begeisterung und das Entsetzen, durch mein erstes Drama: »Die neuen Menschen« erregt, schienen es zu verheißen, ja selber schon der Beweis zu sein, zu meiner eigenen Verwunderung: denn mir, dem es, eigentlich von klein auf, für ausgemacht galt, zu Großem bestimmt zu sein, blieb immer noch ungewiß, wo denn eigentlich mein Schicksal den Lorbeer für mich wand. Doch das war seine Sorge, ich hielt meine Stirne für den Kranz bereit, auf ein paar Jahre früher oder später kam's mir auch dabei gar nicht an. Ich weiß nicht woher, aber ich hatte das ganz sichere Gefühl, auf allen Wegen von einer schützenden Hand geleitet zu sein. Immer, wenn ich mich wieder in eine Dummheit, ja sogar wenn ich mich in Unrecht verstrickt sah, war ich im Grunde nur neugierig, was damit eigentlich gemeint wäre, welchen Sinn es für mich hätte, denn ich zweifelte niemals, daß, was immer auch mit mir geschah, zu meinem Besten war, ja daß ich auch auf Irrwegen sogar von meinem lieben Führer mit himmlischer Geduld ganz sicher zur Wahrheit gesteuert wurde. Ja zuweilen ließ ich mich in Abenteuer und Gefahr eigentlich bloß aus Schadenfreude sozusagen ein, neugierig, was da mein geplagter Schutzgeist jetzt wohl wieder erfinden müßte, mir heraus zu helfen. Ein undankbarer Übermut hat mich oft sündigen lassen auf die Geduld des immer gleich heiteren Helfers, dessen Huld ich zuweilen fast sinnlich zu fühlen glaube. Man hat an mir meine Sicherheit in Bedrängnissen, aequam in rebus arduis mentem, meine Gelassenheit in Aufregungen bewundern wollen, das ist ein Irrtum: ich weiß nur den zuverlässigen Gefährten immer bei mir, immer über mir.

So dacht ich auch damals: es wird sich schon zeigen, was mir eigentlich zugedacht ist; es wird schon richtig entschieden werden. Zunächst blieb mir ja keine Wahl: ich hatte mein Freiwilligenjahr immer wieder verschoben, jetzt lief die Frist ab. Und so stand ich am 1.Oktober 1887 im Hof der Alserkaserne zu Wien, bereit, bei den Vierundachtzigern den Dienst eines Einjährigen vom Linzer Hausregiment anzutreten. Festlich war mir gerade nicht zumute. Eben Vierundzwanzig geworden, sah ich mich von Kameraden angestaunt, die vor zwei Monaten erst maturiert hatten. Noch weniger angenehm war, daß am selben Tag dem Obersten des Regiments ein Schreiben des Kriegsministeriums zukam, das mich seiner besonderen Obhut empfahl: vor Jahren schon von der Wiener Universität wegen Hochverrats relegiert, dann an den Universitäten von Graz und Czernowitz mein unpatriotisches Wirken fortsetzend, Überbringer einer hochverräterischen Huldigung der österreichischen Burschenschaften an Bismarck, hätte ich mich überdies durch sozialdemokratische Umtriebe sogar in Preußen mißliebig gemacht und an dem Obersten wäre es nun, mich vom Anfang an scharf im Auge zu behalten, die Kameraden vor geistiger Ansteckung durch mich zu sichern und zur Kenntnis zu nehmen, daß ich unwürdig sei, Leutnant zu werden. An demselben Tage, da dem Obersten dieser Geheimakt zuging, erfuhr auch ich den Wortlaut. Jemand im Ministerium, der ihn in die Hand bekam, spielte Nachmittag mit Pernerstorfer und Viktor Adler Tarock, erzählte davon und fragte sie, ob sie Näheres über den kuriosen Freiwilligen wüßten. Am Abend erzählten sie's mir und warnten mich. Das war mein Glück. Denn es reizte mich, zu versuchen, wer stärker sein würde: der Auftrag, mich zu mißhandeln, oder mein Entschluß, das Muster eines Freiwilligen zu sein. Ich biß die Zähne zusammen und bin das ganze Jahr hindurch kein einziges Mal bestraft worden, hab niemals nachexerzieren müssen, keinen Stubenarrest, nicht den geringsten Verweis bekommen, ward unter den ersten zum Korporal ernannt und bestand die theoretische wie die praktische Offiziersprüfung »vorzüglich«. Das war eine Leistung: nicht von mir, sondern meiner Offiziere, die mir dann, in ihrer Versammlung am Ende des Jahres befragt, einstimmig auch die Würdigkeit zum Offizier zusprachen. Ich vermute, wenn ich, vom preußischen Ministerium gleich gut empfohlen, in einem preußischen Regiment zu dienen gehabt hätte, daß wahrscheinlich nach ein paar Wochen eine Kugel aus dem eigenen Revolver mein Schluß gewesen wäre. Unser Kriegsministerium freilich war preußischer als das Offizierskorps meines Regiments. Von den Offizieren für fähig und würdig zum Leutnant erkannt, ward ich dennoch vom Ministerium nicht zum Leutnant ernannt, ja nicht einmal den Feldwebel gönnten sie mir, ich blieb Korporal und als Korporal der Reserve hab ich meine Waffenübungen abgedient, die lustigste als Redakteur der von S. Fischer gegründeten, von Otto Brahm geleiteten »Freien Bühne«, aus der später die neue Rundschau wurde, in Eger, wo Karl Iro, nachmals ein berühmter deutschradikaler Abgeordneter, mein Feldwebel war. Mich, dem Ehrgeiz überhaupt fremd ist, hat's nie verdrossen, daß mir die militärischen Ehren versagt blieben; es war eigentlich auch viel bequemer. Doch mein armer Vater härmte sich sehr; er empfand's als eine persönliche Kränkung, unser Name schien ihm befleckt und er bot seinen ganzen politischen Einfluß auf, mir mein »Recht« zu schaffen. Ich fand nach seinem Tod einen »Akt« mit allen Verhandlungen vor, die von befreundeten Ministern und Abgeordneten mit dem Kriegsministerium geführt worden waren. Besonders heiter ist darin die feierliche Zusicherung des Kriegsministers, daß es zwar leider untunlich sei, einen Mann, der aus seiner unpatriotischen Gesinnung niemals ein Hehl gemacht, sondern sie stets öffentlich zur Schau getragen, ja sich ihrer geradezu gerühmt hätte, mit dem Portepee zu schmücken, daß ich aber in Anerkennung meiner militärischen Fähigkeiten im Ernstfall, wenn ein Krieg ausbräche, dennoch »natürlich« sogleich zum Offizier befördert werden würde. Daß man einen Mann seiner hochverräterischen Gesinnung wegen für zu gefährlich hält, um ihm in tiefem Frieden auf dem Exerzierfeld oder bei Manövern die Führung eines Zugs überlassen zu können, aber im Krieg, wenn's ernst wird, wenn ihm Gelegenheit zum Verrat geboten ist, auf einmal Zutrauen zu diesem Hochverräter faßt, diese Logik leuchtete mir nicht recht ein. Dankbar aber bin ich heute noch dem Schicksal, daß es mich durch jenen Tarockpartner Pernerstorfers und Adlers vorher warnen ließ; das Jahr hätte mir sonst manches Ungemach bringen können. Wie denn das Tarock überhaupt im alten Österreich zu den Staatsnotwendigkeiten gehörte: die Brücke zwischen den sonst so streng voneinander geschiedenen Ständen und Klassen wurde durch das Tarock geschlagen, der Ausgleich der Gegensätze hergestellt, eine seelische Gemeinschaft, die ja sonst unter Franz Joseph ganz fehlte, geschaffen und was in westlichen Ländern durch die Demokratie bewirkt wird, durch die Demokratie der Sitten, ward im alten Österreich durch das Tarock ersetzt. Ich habe schon deswegen im alten Österreich auf jede geistige Wirkung verzichten müssen, weil ich unfähig blieb, jemals die Tarocks zählen zu lernen; sonst hätte man mir schon auch den Hochverrat verziehen, wie viele meiner Jugendfreunde sind damit Exzellenzen geworden, mit Hochverrat und Tarock! Es war ein lustiges Land, so lustig, daß es unglücklich enden mußte. Denn lustig war doch auch, daß ich als Einjähriger Woche für Woche, bis wir dann ins Brucker Lager kamen, jeden Donnerstag nach dem Befehl in die Berggasse zu Viktor Adler kam, um ihm bei der Redaktion seiner »Gleichheit« zu helfen, in der ich als Freiwilliger eine Reihe der boshaftesten »Glossen« schrieb.

Ich kannte Viktor Adler schon von Berlin her. Durch die Dreistigkeit meiner Schrift gegen Schäffle war er aufmerksam auf mich geworden. Wir kamen auch ungefähr aus derselben inneren Gegend: auch er hatte zunächst als Burschenschafter großdeutsch geschwärmt, auch er war über Bismarck zu Marx gelangt, vom Deutschen Schulverein, den er gründen half, zur Internationale. Als er, eine sozialdemokratische Wochenschrift planend, nach Berlin ging, um Mitarbeiter zu werben, fanden wir uns und aus der politischen Übereinstimmung erwuchs rasch ein persönliches Verhältnis, das alle politischen Entfremdungen überdauert hat; ich bin ihm bis zum heutigen Tag dankbar treu geblieben. Unvergeßlich ist mir mein erster Abend mit ihm, damals in Berlin, bei Siechen, in der Stammkneipe Albert Niemanns, wo wir in der Beratung und Betrachtung unserer weit in die Zukunft schweifenden Pläne immer wieder aufgeschreckt wurden, so oft irgendeiner dieser märkischen Hünen eintrat, über deren Grenadiermaß der niemals hochgewachsene Viktor in eine mit Grauen versetzte Bewunderung geriet: das Physische dieser Preußen, ihre Wucht, ihr Riesenschritt bezauberten ihn und daß solche Prachtstücke der Menschheit nun aber dabei doch die gehorsamsten Untertanen sein konnten, darüber hat er, der immer das innere Volumen für Wagnermusik hatte, doch selber äußerlich dürftig geraten war, sich damals den ganzen Abend nicht beruhigen können, er war untröstlich über den Bierphilister in Heldengestalt. Er suchte mich dann, ein paar Wochen bevor ich als Freiwilliger einrückte, in dem kleinen Moorbad bei Salzburg auf, wo mein alter Vater sich von der Gicht und mich von meinen Narrheiten zu heilen hoffte. Die Situation war für mich keine ganz leichte, zwischen dem josefinisch aufgewachsenen, altliberal gesinnten Notar, für den die soziale Frage noch immer bei Bodenbach aufhörte, und dem ersten leibhaftigen Sozialisten, den er im Leben mit eigenen Augen sah, noch halb ungläubig, daß es also derlei wirklich gab, ja dem Anschein nach sogar ganz überraschend zivilisiert und mit dem richtigen Gebrauch von Messer und Gabel erstaunlich vertraut; und ich hatte zum erstenmal Gelegenheit, Viktors unbeschreiblichen Takt, seine Klugheit in der Behandlung von Menschen und das Talent sachlicher Selbstbehauptung bei persönlicher Zuvorkommenheit zu bewundern. Der alte Herr erklärte nachher, ja solche Sozialisten wie diesen könne sich jeder rechtlich denkende Mann gefallen lassen, aber offenbar sei Viktor doch gar kein richtiger Sozialist! Goethes Forderung, »scheinbar so leicht, doch fast unmöglich zu erfüllen«, die Forderung von »Nachgiebigkeit bei großem Willen« hab ich kaum von irgendeinem anderen mit so viel Anmut, Geschmeidigkeit und Selbstbeherrschung erfüllt gesehen wie von Viktor. Er hatte dazu vor allem zwei ganz außerordentlich seltene Gaben: die, den anderen reden, ja sogar ausreden zu lassen, und die noch seltenere, dem anderen zuzuhören und ihn dabei sogar wirklich anzuhören; dafür sind alle Menschen unendlich dankbar, denn das erleben sie ja fast nie. Sie haben dann das Gefühl, endlich einmal verstanden zu werden, was sie so beglückt, daß sie sich dafür dann sogar einen Widerspruch gefallen lassen. So fanden sich die Leute mit den, wie sie's nannten, etwas überspannten Ideen Adlers willig ab, bloß weil er ihnen mit solcher Geduld zugehört hatte, weil er, wie sie meinten, ein Mann war, mit dem sich reden und der sich belehren ließ. An dieser bewundernswerten Geduld war aber das wunderlichste, daß sie nachließ in dem Grad, als man ihm näher kam, daß sie sich immer mehr verlor, je mehr er einen lieb gewann. Gar mit sich selbst hat er gar keine gehabt, ich kann mich kaum irgendeines anderen Manns von solcher Unerbittlichkeit, ja Grausamkeit gegen sich selbst entsinnen, und vor allem aber von solcher Kraft, sich den Verstand von Einmischungen des Gemüts, der Laune, des Affekts ganz rein zu halten. Goethe bemerkt einmal, in dem Aufsatz über den Kammerberg, daß wir uns in unseren Urteilen meistens weniger von Gründen als durch Impulse leiten lassen; bevor wir noch urteilen, hat immer irgendeine Willkür in uns, ein geheimer Wunsch, eine Laune schon ein Vorurteil gefällt, dem der Verstand, ohne das selber zu merken, willig gehorcht. Das wußte Viktor und er war von einer zuweilen fast komischen Angst, seinen Verstand nur ja nicht von irgendwelchen Wallungen äffen zu lassen. Sentimentalität gar, die Wiener Grippe, diese Melange von Verstand und Gemüt, durch die Kopf wie Herz verfälscht und der ganze Mensch schweißig wird, diese (hier kann man das Wort kaum vermeiden) »jüdische Sentimentalität«, die den Jammer über das Weltelend selbst noch bis ins Schachspielen hinein abfärben lassen möchte, war seinem Wesen ganz fremd. Er mußte sich eher hüten, nicht seine ganze Natur vom Verstande tyrannisieren, ja terrorisieren zu lassen; dem entging er nicht immer. Aber da half ihm wieder eine Gegenkraft: Musik. Noch in der Mahlerzeit hat er, der atemlos Vielbeschäftigte, fast niemals an den großen Abenden gefehlt; er gehörte zu den paar Wienern, für die Mahler gelebt hat, auch schon vor seinem Tod. Musik glich ihn immer wieder aus, Musik stellte das Gleichgewicht, wenn es von der Übermacht seines leidenschaftlichen Verstandes (denn seiner hatte Pathos, so wenig er sich das merken lassen wollte) bedroht war, immer wieder her.

Auch damals schon, in der Berggasse, hing das Haus voll Musik. Da wurde nicht, wie man heutzutage sagt, mit einer Wendung, die so häßlich ist wie die Sache selbst, »Musik gemacht«, sie lag in der Luft und wenn plötzlich bei der Tür Schubert mit Schwind und Bauernfeld hereingekommen wäre, sie hätten sehr gut hereingepaßt. Es kam aber statt ihrer meistens der Pernerstorfer mit seiner lieben stillen Frau herein und im Grunde war's aber menschlich gar kein so großer Unterschied; der begann erst in der Mentalität. Wer fähig ist, den Leuten die Haut ihrer Mentalität abzuziehen, wird oft unerwartete Verwandtschaften gewahr. Irgendwie spann Altwiener-Luft ihre Silberfäden in die heftige, gereizte, ja rabiate Geistigkeit des Hauses. Ich schrieb damals einen Einakter, der schon den künftigen Autor des »Konzerts« ankündigte durch einen Spott, der, wie ich später einmal von allen meinen Lustspielen sagte, die Menschheit nicht auslachen, sondern anlachen will. Ich glaubte mir allerhand Übermut mit Pernerstorfer darin erlauben zu dürfen, weil ich ja mich selber noch viel weniger schonte. Das Stück war Frau Emma Adler gewidmet. Es hieß auch nach ihr: »La marquesa d'Amaëgui«; Mussets, für den ich damals schwärmte, Andalusierin, pâle comme un beau soir d'automne, schien mir in der verehrten Frau wiedergeboren. Als ich dann aber im Herbst von ihr Abschied nahm, gab sie mir nach Paris ein Andenken mit: Stifters Nachsommer. Es war, als hätte sie mir ihr eigenes Bild mitgegeben. Sie glich selber zeitlebens einer Gestalt aus dem Nachsommer. Ein Stifterglanz lag auf ihrer schweren ernsten stillen Erscheinung. In Stifterluft wuchsen ihre Kinder auf, Fritz und Karl.


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