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XVII

Durch die Forderung von ein paar Tropfen sozialen Öls für das Staatsrezept hatte Bismarck den satten Bürger aufgeschreckt, in derselben Sitzung an das drohende Wort Friedrichs des Großen erinnernd: je serai le roi des gueux. Damit war dem Tatendrang der deutschen Jugend ein Ziel gewiesen und mein Wolfgang Heine, von klein auf national erzogen, als Sohn des Brandenburger Domherrn zum preußischen Offizier oder Beamten vorbestimmt, an der Universität bald Vertrauensmann und Wortführer der damals im »Verein deutscher Studenten« gescharten unbedingten Bismärcker, Redakteur ihrer Zeitschrift »Kyffhäuser«, prägte der neuen Gesinnung das Merkwort: nationalsozial. Gemeint war, Deutschland auch den Arbeitern zum Vaterland, die Hohenzollern zu sozialen Kaisern zu machen. Hätte Lassalle noch gelebt, wer weiß? Der Bürger schien damals sozialen Stimmungen nicht abgeneigt, sein Gewissen war erwacht, er hätte seinen Reichtum, und wenn auch vielleicht nur um ihn behaglicher genießen zu können, gern von den ärgsten Blutspuren rein gesehen. Schon Engels hatte mit seiner »Lage der arbeitenden Klassen in England« weithin gewirkt, da beschwor Rodbertus das Gespenst neuer Barbaren herauf, deren Sturm unsere ganze Gesittung hinwegzufegen drohe. Scham und Furcht wirkten zusammen, Menschlichkeit und Eigennutz stimmten überein, dem Herzen nickte der Kopf zu. Bismarck hatte die schönste Gelegenheit, den verhaßten »Freisinn« um den letzten Rest seiner nur noch an Achtundvierziger Erinnerungen aufgewärmten Popularität zu bringen und einem Preußen, das zum sozialen Staat wurde, hätten es auch die Arbeiter an Staatstreue nicht fehlen lassen können. Ich kann diese Gedanken auch heute noch beim besten Willen nicht so utopistisch finden, als man der kleinen Schrift vorwarf, in der ich sie damals aussprach. Der alte Schäffle, den ich schon, weil er sich dazu hergegeben hatte, Minister in Österreich zu werden, nicht leiden konnte, so viel ich selber seinem »Bau und Leben des sozialen Körpers« verdankte, war ihr äußerer Anlaß, mit seinem wirklich nicht sehr klugen Buch über die »Aussichtslosigkeit der Sozialdemokratie«, dem ich mit der »Einsichtslosigkeit des Herrn Schäffle« (bei dem braven alten Schabelitz in Zürich erschienen, der damals allem, was in Deutschland für unmöglich galt, Schutz bot) witzig, aber freilich unverschämt antwortete. Sie hatte zunächst nur auf den böhmischen Hochadel eine gewisse Wirkung, wo damals die jungen Herren gezwungen wurden, sich seufzend von Schäffle sozialpolitisch unterrichten zu lassen: sie rächten sich dafür, indem er unter ihnen fortan nur noch »Der Einsichtslose« hieß. In Berlin aber galt ich seither für »verdächtig«, zu meiner größten Verwunderung, denn ich hätte mir eher erwartet, auf jene Schrift hin zu Bismarck berufen und sein vortragender Rat für Hohenzollernsozialismus zu werden. Aber es war inzwischen ruchbar geworden, daß ich mir den Zürcher »Sozialdemokraten« hielt, den unseres geliebten Bismarck unduldsame Polizei ja so strenge verboten hatte, daß jede Nummer über die Schweizer Grenze jedesmal nach einer anderen deutschen Stadt eingeschmuggelt werden mußte, von der aus sie dann den Abonnenten in durch Wechsel an Farbe, Schrift und Format unverdächtigen Kuverts zuging; es war eine gute Vorübung in Organisation, wöchentlich wuchsen neue Vertrauensmänner zu. Doch nicht bloß als Abonnent des verhaßten Blatts war ich bei der Polizei »notiert«, sondern auch geheimen Verkehrs mit Bebel, Liebknecht und Vollmar ward ich bezichtigt: er bestand darin, daß ich wirklich zuweilen im Weihenstephan an ihrem Tisch meinen Schoppen trinken durfte, mir oft dabei heimlich wünschend, Bismarck möchte doch auch einmal an einer solchen verbotenen Zusammenkunft teilnehmen, er hätte sich in Vollmar, dieses Prachtstück bajuvarischen Vollbluts, verlieben müssen. »Man muß seinem Vaterlande nach den Umständen dienen, nicht nach seinen Meinungen«: wäre Bismarck noch jung genug gewesen, diesen Grundsatz auch auf sein Verhältnis zu den Sozialdemokraten anzuwenden, wir Nationalsozialisten hätten uns nicht immer mehr von ihm abgedrängt gesehen. Wir empfanden das eigentlich gar nicht als Untreue gegen ihn, wir meinten eher, er selbst sei daran, sich untreu zu werden, wir glaubten ihn besser zu verstehen, als er sich selbst verstand. In unserer Ehrfurcht vor ihm ließen wir nicht nach, nur mischte sich eine leise Wehmut ein, wir hätten mit Othello sagen können:

Cassio, O love thee,
But never more be officer of mine.

Im Vertrauen auf die kaiserliche Botschaft von 1881 hatten wir uns vom alten Preußen die Kraft zur sozialen Erneuerung der Welt erhofft. Aber in unserer Ungeduld über das allzu langsame Tröpfeln sozialen Öls konnten wir uns bald einer leisen Enttäuschung nicht erwehren und, einmal kritisch geworden, fragten wir uns, ob unser Glaube nicht auf einer Überschätzung Preußens stand. War es denn überhaupt noch das alte Preußen? Unser Berlin, das wir im Herzen trugen, das Berlin Schadows, Schinkels und der Rahel, das Berlin, wo sich, wenn er am Brandenburger Tor die Wache kommandierte, der Leutnant Chamisso die Zeit mit griechischer Grammatik vertrieb und E. T. A. Hoffmann mit Ludwig Devrient die Nacht bei Lutter und Wegener durchschwärmte, das Berlin Zelters, das Berlin Lessings, gab es denn das noch? An gewissen, märkisch wehenden Märztagen glaubten wir es noch über den Bäumen des Tiergartens in der Luft zu spüren. Und wo jetzt die Kammerspiele sind, war damals ein unpassendes Lokal, das Emberg hieß, aber Stemmberg genannt wurde, dort tanzten nachts Mädchen von einer ungeschlachten bäurischen Schönheit oder auch einer langhalsig hektischen, sie hatten etwas Dumpfes, Blödes, ja Tierisches, tierisch in ihrer willenlos trägen Ergebung, tierisch aber auch in ihrer dann plötzlich ausschlagenden unbändigen Wildheit, die nur doch zuletzt immer wieder in denselben unwillkürlichen strengen, gleichsam kasernierten Rhythmus fiel: der Hohenfriedbergermarsch fuhr ihnen, wenn sie heiß wurden, in die Hüften und man hätte meinen können, auf einem Exerzierfeld von Mänaden zu sein. Diese Habtachtstellung auch der Schamlosigkeit noch, diese Mischung von Unzucht und Drill war schon noch sehr Berlin, altes, echtes, wenn auch ein wenig karikiertes Berlin, in das nun aber etwas Neues, etwas Fremdes drang, ein häßlicher Geruch nach wesenloser Großstadt, ein Qualm von Elend und Laster, ein Dunst nicht der Armut, sondern frech bewußter, höhnisch zur Schau getragener Schande: die Roheit wurde zur Gemeinheit und aus dieser Gemeinheit ein Geschäft, sie machte sich bezahlt, denn sie fing nun an, zur öffentlichen Belustigung zu dienen, an der sich anständige Leute von ihrer anstrengenden Tagesehrbarkeit erholten. Das erste Zeichen, daß ein Bürgertum zur Bourgeoisie wird, ist ja stets der Wunsch nach Befriedigung der nostalgie de la boue. Das deutsche Bürgertum, das Gustav Freytag an der Arbeit aufgesucht hat, das für Spielhagen schon problematisch wurde, begann zu merken, daß es ihm nicht mehr genügte, sich von seinen Frauen und Töchtern an Feiertagen aus Geibel, Roquette und Baumbach vorschwärmen zu lassen. Es wäre sehr beleidigt gewesen, sein geheimes Verlangen beim rechten Namen genannt zu hören. Es wollte sich nicht enkanaillieren, aber warum soll man sich denn derlei nicht bei Gelegenheit einmal in der Nähe besehen, der Wissenschaft wegen? Wo ein Wille ist, ist immer auch ein Weg und bald entstand eine neue Industrie zur Bedienung solcher gegen sich selbst noch unaufrichtigen Gelüste. Typisch dafür war das kleine Café Chantant des Berliner Nordens, das damals in Mode kam, mit bekränzten Büsten des alten Kaisers, Bismarcks und Moltkes in grellem roten und grünen Lampenlicht, mit Heil dir im Siegerkranz, Hurra und verlogenen Schmachtfetzen aus lustverseucht heiseren Kehlen, mit Lorelei, Zoten und Suff, ein patriotisch sentimentaler Bordellersatz, zur Abendandacht für Studenten, Referendare und Offiziere, für die Blüte der Nation, so daß der schüchterne junge Kaufmann in den hinteren Reihen sein Gewissen durch einen Blick auf diese vorbildliche Gesellschaft beruhigen konnte. Das war sozusagen die andere Seite der Butzenscheibenlyrik, ihre Nachtseite.

In der Studentenschaft gab es nicht viele geborene Berliner. Die meisten kamen aus kleinen Familien kleiner Städte; Großvater war noch Bauer oder Handwerker gewesen, Vater hatte sich am Rande des Mittelstandes emporgehungert, in ein kleines Geschäft oder ein kleines Amt hinein. Das einzige, was solchen Existenzen immerhin einen Schein von Zuversicht gibt, ist das Gefühl ihrer Rechtschaffenheit. Es ist auch das einzige, was sie den Kindern zu bieten haben. Gerade weil die Kinder sonst nichts von daheim mitbekommen, wird auf ihre sittliche Bildung so gedrungen, mit einem allerdings etwas summarischen Verfahren: man fingiert, von Geburt sei der Mensch gut und wünsche sich von Anfang an recht zu tun, er merke das nur selber nicht gleich, alles Laster beruhe auf einem Mißverständnis; und ferner fingiert man dem Kinde, Tugend rentiere sich auch viel besser, und zwar nicht etwa bloß drüben dereinst, sondern gleich hier auf Erden schon, ihr Weg sei der zu Wohlstand und Ansehen, so decke sich die sittliche Pflicht mit dem Gebot des eigenen Vorteils; die kleinbürgerliche Moral jener Zeit argumentierte ganz kalvinistisch. Wundert man sich, daß ein in solchen Fiktionen aufgepäppelter Bub, wenn er nun das Vaterhaus, nochmals mit tausend Mahnungen und Warnungen gesegnet, verließ, um nach Berlin studieren zu gehen, hier, sobald ihm die Augen aufgingen und übergingen, das Gefühl hatte, ja bisher sein ganzes Leben lang von Eltern und Lehrern nur immer infam belogen worden zu sein? Man mußte den ehrenwerten Bürger nur erst einmal im Chantant gesehen haben: da zeigte die gepriesene »Sittlichkeit« erst ihr wahres Gesicht, nichts als Lug und Trug zur Äffung der Dummen, um sie zu geduldigen Kulis des Kapitals zu züchten, war sie! Beim unerwarteten Anblick der Großstadt fuhr in diese Jugend, die zunächst bei der Milch der frommen Erzählungen des Augsburger Domherrn Christoph von Schmid oder an den Gewässern des Dresdner Kinderfreunds Franz Hoffmann aufgezogen war, ein solcher Magenschreck, daß man ihr das Bedürfnis nach einem Vomitiv nicht verdenken kann. Zola bot es; das war eine Roßkur, aber immerhin genas man durch sie von Paul Heyse. Schon 1868 hatte Zola den Bau seiner Rougon-Macquarts begonnen, aber erst der siebente Roman der Reihe, L'Assommoir, 1877, schlug durch und der neunte, Nana, 1880, trug in Hunderttausenden von Exemplaren seinen Ruhm durch die Welt. Und in meine Berliner Zeit fiel krachend Germinal. Hier hatten wir in Gestalt, was dumpf in uns gor. Hier schien Weltgericht gehalten. Hier hatten wir eine Literatur, die nicht bloß Papier war, die das Leben selber war. Und schon hörten wir, daß sich Jünger um ihn scharten, es gab eine Schule Zolas, die Soirées de Médan erschienen mit jener unvergeßlichen kleinen Erzählung Boule de Suif, die den jungen Maupassant eines Morgens weltberühmt erwachen ließ. Wir hatten die Väter so viel über die neue Zeit mit ihren verruchten technischen Erfindungen, die doch »alle Poesie zerstören« müßten, jammern hören, daß wir das am Ende selber glaubten, nur es umdeutend, als ob Poesie bloß dem Kindesalter der Menschheit gehöre, dem entwachsen zu sein gerade doch unser höchster Stolz sei, nun aber ward uns klar, daß wir ihr nur aus den abgetretenen Kinderschuhen helfen mußten und sie stand wieder auf, sie konnte wieder schreiten! Und wie horchten wir freudig auf, als sich nun gar auch noch unser eigener Zola fand, ein Berliner Zola: Max Kretzer, in dessen »Betrogenen« und »Verkommenen« unser tiefes menschliches Erbarmen mit den Enterbten ebenso auf seine Rechnung kam wie der schadenfrohe Hohn, einmal recht nach Lust in menschlicher Gemeinheit wühlen zu können; denn es gehört ja zu den Eigenheiten der Tugend, auch einer reinen, ja vielleicht gerade dieser noch ganz besonders, daß ihr der Anblick der Schändlichkeit, ja der Ruchlosigkeit in der Welt eine gewisse Befriedigung zu bieten scheint. So sanken wir allmählich immer tiefer in Nihilismus ein, und in den gefährlichsten von allen, einen salonfähigen mit den besten Manieren, den Ibsens, der mit der höflichen Anfrage: »Ist es wirklich groß, das Große?« so lange leise, freundlich, ja fast zärtlich an jedem Ding klopft, bis es hohl klingt. Für Ibsen, nicht den damals ihm selber noch verborgenen mystischen, sondern den in Handschuhen sozialkritischen Ibsen mit dem unanstößigen Skeptizismus, zu dem man Orden tragen kann, schlug jetzt bei der deutschen Jugend die große Stunde. Mir war er längst vertraut: gleich mein erster Aufsatz, den der Abiturient für ein Salzburger Blättchen schrieb, mein Debüt als Journalist im Jahr 1881, war eine Verteidigung der von Hugo Wittmann in der »Neuen Freien Presse« spöttisch zerzausten Nora gewesen. Nun erschienen 1886 die Gespenster, zum erstenmal in Augsburg, dann in Meiningen, jetzt endlich auch in Berlin, freilich auch hier wieder nur als »Separatvorstellung« vor geladenem Publikum, da jeder öffentlichen unerbittlich die Zustimmung der Behörde versagt blieb, in Anton Annos Residenztheater; dies war im Januar 1887, im März folgte der Volksfeind im Ostendtheater draußen, und im Mai, wieder bei Anno, Rosmersholm mit Charlotte Frohn und Emanuel Reicher: es war das erstemal, daß ich mich entschloß, in ein Berliner Theater zu gehen. Und gewaltig blies ich dann in Pernerstorfers »Deutschen Worten« Alarm für Ibsen, ja mit so vollen Backen, daß ich ihn dabei fast schon wieder wegblies: es ist charakteristisch nicht bloß für mich, sondern für das Tempo der ganzen Jugend damals, daß ihn mein Aufsatz »einen literarischen Johannes« nennt, »der die Abkehr predigt von der Gegenwart und den Pfad weist, den der Erlöser der Zukunft wandeln wird«, und daß ich seine Bedeutung »in der Geschichte der Weltliteratur« darin zu sehen meinte, »die literarische Gegenwart gründlich abgetan, das Gefühl ihrer Unerträglichkeit zur äußersten Leidenschaft gesteigert und ihm das Mittel ihrer Überwindung gereicht zu haben: bringen wird diese Überwindung erst ein Größerer!« So rabiat eilig hatten wir's damals in der schnaubenden Ungeduld unseres herrlichen Glaubens an uns selbst, trunken vor Erwartung, so gewaltig war uns bewußt, zu Großem berufen zu sein in dieser Wende der Zeiten, so hoch gingen die Wogen unserer Zuversicht, zur Erneuerung des Menschengeschlechts bestimmt und das Morgenrot des dritten Reichs zu sein, dessen Anbruch spätestens um das Jahr Neunzig uns feststand. Keiner unter uns dünkte sich selber viel, aber unser Hochmut auf die Zeit, als deren Werkzeug wir uns fühlten, war grenzenlos. Welches Glück, in ihr, für sie geboren zu sein!

1884 erschien Raskolnikow deutsch, in einer so schlechten Übersetzung, daß ich mir den ungeheuren Eindruck eines solchen »Kolportageromans«, gegen den sich mein Formgefühl empörte, kaum einzugestehen wagte, wütend, dennoch von ihm Wochen lang nicht loskommen zu können. Dazu verhalf mir erst ein Bändchen mit Versen, »Buch der Zeit« war es genannt, und mit Recht: denn wirklich unsere ganze Jugend stand darin, ihr Leid, ihr Zorn, ihr Hohn, ihr Trotz, ihr Gram, ihr Grimm, ihre wilde Schönheit, ihre scheußliche Schmach, ihr wildes Bangen, aber auch ihr ungestümes Pochen auf sich selbst – hurra, jetzt hatten wir unseren Dichter! Merkwürdig war dieser neue Klang der alten Leier, denn das konnten wir uns ja nicht verhehlen, daß hier die wilde verwegene Jagd nach Revolution noch den bravsten Geibeltrab ritt. Unser eigenes Pathos vernahmen wir hier zum erstenmal, aber freilich, als ob es die Stimme verstellte.

»Schon seh ich fern am Horizont
Des neuen Tages neuen Schein,
O laßt in seiner Frühe mich
Der ersten Lerchen eine sein.«

Wir waren bereit mitzuschmettern, aber die Lerche schien uns eigentlich doch ein schon recht verbrauchtes lyrisches Requisit. Doch wie herrlich war's nach all den ewigen Klagen stillen Heimwehs um das Posthorn, daß sich endlich einer mutig zur Schönheit von Eisenbahnen, Fabriksschlöten und der verleumdeten Großstadt bekannte, wenn er freilich ihren Ruhm doch auch wieder sozusagen auf dem Posthorn blies!

Denn süß klingt mir die Melodie
Aus diesen zukunftsschwangern Tönen;
Die Hämmer senken sich und dröhnen:
Schau her, auch dies ist Poesie!

Uns schlug das Herz, denn hier war etwas ganz Neues, hier wurde das Unpoetische für die Poesie entdeckt, nun blieb sie nicht mehr in stillen Winkeln hocken, nun zog sie laut auf den breiten Straßen des Lebens einher! Daß dieser junge Wein freilich aus alten Schläuchen floß, was lag daran? Arno Holz hat später einmal lustig erzählt, für ihn sei damals das Höchste, das »Entzückendste« eine Zeile gewesen, »die wie eine Kuhglocke läutete«. Nun, im »Buch der Zeit« läuteten noch alle Kuhglocken der alten Lyrik um die Wette mit, nur läuteten sie jetzt Sturm, sie läuteten eine neue Jugend ein, solcher Glocken wollten wir gern die Kühe sein! Mit der unerbittlichen Selbstkritik, die dem grandiosen Selbstgefühl dieses Ostpreußen beigemischt ist, hat er bald darauf seine »ganze damalige Lyrik keinen Pfifferling wert« erklärt. Er kann sich's erlauben, so freigebig zu sein, weil er ja, sobald er einer Revolution der Kunst ihr Stichwort gebracht hat, sich immer gleich nicht mehr weiter um sie kümmert, sondern schon wieder zur nächsten wendet. Er hat 1885 mit dem »Buch der Zeit« den Aufstand des »jüngsten« Deutschland eröffnet, er schuf 1888 mit Johannes Schlaf in »Papa Hamlet« und der »Familie Selicke« (eine »Tierlautkomödie, für das Affentheater zu schlecht« nannte sie damals ein »führender« Kritiker) die Sprache des jungen Gerhart Hauptmann, ja die Sprache oder die Mundart des deutschen Theaters für die nächsten fünfzehn Jahre und er hat dann 1899, als wir anderen schon allmählich daran dachten, uns in Würden zur Ruhe zu setzen, da hat er mit unverbrauchter Jugendkraft noch ein drittes Mal Entsetzen erregt durch seine »Revolution der Lyrik«, über den »freien« Rhythmus hinweg zum »notwendigen« Rhythmus empor; diese Revolution ist noch immer nicht aus und es könnte sein, daß sie, die ja eine Gegenrevolution ist, damit enden wird, die Königsmacht der alten strengen Form wieder aufzurichten und so den Kreis zu schließen. Bis dahin hockt er einstweilen selber immer noch in der gewohnten Dachbude. Darin ist er nämlich ganz unmodern geblieben, er hält es mit dem Poeten alten Stils: er kennt den Ehrgeiz nach der Grunewaldvilla nicht. Er ist die reinste Gestalt seiner Generation, die letzte, an der noch die Tugenden zu sehen sind, durch die Preußen einst groß war.

Wir saßen damals manche Sommernacht auf dem Balkon des Café Bauer oben mit ihm, hell klingt mir heute noch sein schnoddriger Enthusiasmus nach, der Schmiß seiner ungehemmten Entschiedenheit, die keinen Einwand, kein Bedenken, keinen Zweifel zuließ, der Imperativ seiner Urteile, gegen den es keinen Widerspruch gab, denn sobald für ihn etwas »klar« war, »logisch« war und nun dafür auch noch die »richtige Formel« gefunden war, worauf er sich ja mit Passion verstand, galt es ihm für erledigt; und neben ihm nun aber mein sinnender Wolfgang Heine, dem, obwohl er Jurist war, keine »Formel« genügte, der sich heiser redete vor Gier nach Worten für das Unsägliche – mir war oft, als wenn ich an den beiden den ganzen Deutschen hätte! Zur Winterszeit aber wanderten Wolf und ich dann einmal im knisternden Schnee durch die Heide nach Niederschönhausen hinaus, in das »Idyll«, wo Holz mit Johannes Schlaf hauste. Sie hatten nämlich einen Mäzen gefunden, der ihnen, um den Hausmeister zu ersparen, für den Winter seine Sommerwohnung überließ. Da saßen die beiden ungleichen Gefährten in dicke rote Decken bis an die Nasen vermummt vor den beißenden Eiswinden und heizten sich mit braunen Wolken aus ihren qualmenden Pfeifen ein, und mit ihrem »simsonstarken« Glauben an die Sendung unserer Generation.

An unserem Mittagstisch in der Luisenstraße saß auch ein Referendar aus Bremen, klug, spöttisch, sich uns an Weltkenntnis und innerer Form überlegen fühlend, aber viel zu gut erzogen, uns merken zu lassen, daß er unser Treiben nicht ganz ernst nahm; er mag sich heute, wenn er überhaupt daran noch denkt, unser mit dem Lächeln erinnern, das man mit grauen Haaren für Jugendsünden hat. Bei ihm traf ich eines Tags einen hochgewachsenen Sechziger so leuchtenden Wesens, daß mir beim bloßen Anblick wunderlich wohl ward; etwas Bezauberndes ging von ihm aus. Es war Hermann Allmers. Wer diesen Namen hörte, sagte damals automatisch: der Dichter der Marschenlieder. Er war von der gewissen Berühmtheit, die darin besteht, daß sie jedermann anerkennt, aber niemand lesend nachprüft. Ich kannte keine Zeile von ihm, aber nie wieder hat ein Dichter persönlich auf mich so dichterisch gewirkt. Er war selber ein Gedicht, und eins der höchsten Art, durch dessen bloße Gegenwart man eines höheren Daseins gewiß, ja fast schon selber teilhaft wird. Ich kann mich kaum eines anderen Mannes von solcher Arglosigkeit, Herzenseinfalt und Innigkeit entsinnen. Friese, geboren und gewachsen auf uraltem Hof, der den Seinen seit einem halben Jahrtausend gehörte, hatte der baumstarke Recke das Gemüt eines Kinds und rührend war nun, zugleich aber höchst lächerlich, gar in der großen Stadt hier, sein Unvermögen, sich vorzustellen, es könnte jemand auch anders sein als er. Damals waren in der »Pall Mall Gazette« großstädtische Laster enthüllt worden, deren Schändlichkeit ihn so furchtbar erregte, daß er in die wildesten Verwünschungen Englands ausbrach, bis ich schließlich berlinisch blasiert bemerkte: Mein Gott, derlei kommt überall vor! Da fuhr er auf: »Aber doch um Gottes willen in Deutschland nicht?« Und als ich achselzuckend schwieg und für seinen entsetzt flehenden Blick auch der Referendar nur ein spöttisches Lächeln hatte, wurden Beweise von uns verlangt oder wir wären infame Verleumder! Da faßten wir einen teuflischen Plan, und als wir Sonntags in den Zelten mit ihm saßen, gaben wir die behaglichen Kleinbürger, die da mit ihren Kindern Kaffee tranken, für Wüstlinge mit ihren Opfern aus. Wir hatten alle Mühe, seine Wut zu bändigen und ihn, fast mit Gewalt, aus der Lasterhöhle wieder fortzubringen, bevor er alles kurz und klein schlug. Es war eine Niedertracht von uns, ich schämte mich vor mir selbst und konnte sie doch nicht bereuen, denn der Anblick seines heiligen Zorns war von einer solchen überwältigenden Schönheit, daß ich Ehrfurcht für ihn empfand, und tiefen Ekel vor mir. Mein Stolz, alles verstehen zu können, schien mir erbärmlich und ich war dem ungelenken Friesen neidisch um seine Kraft, die sich nicht erst lange besann, sondern der Gemeinheit an die Gurgel fuhr. Er hat niemals erfahren, wie tückisch wir ihm mitgespielt hatten. Die daheim mögen Augen gemacht haben, wenn er von Berlin erzählte. Auf mich aber wirkte das Erlebnis seiner reinen Gestalt so stark nach, daß ich mich zu fragen begann, ob wir nicht gegen die Generation vor uns ungerecht waren. Geibel, Heyse, Roquette, auch Scheffel, außer auf der Kneipe, gar aber Lingg, Greif, Hamerling ödeten uns so gräßlich an, daß wir uns mit der Erklärung aushalfen, vielleicht sei dieses Zeitalter überhaupt schon der Dichtung entwachsen. Daran nun aber durch Zola, Ibsen und Holz doch wieder irre geworden und der Dichtung wieder freundlicher gestimmt, kam ich beim Anblick des herrlichen Allmers, der in Person ein viel größerer Dichter war, als seine Gedichte vermuten ließen, auf den Gedanken, ob der Irrtum der Generation vor uns nicht vielleicht darin lag, daß ihre Künstler ihre Schaffenskraft unmittelbar ins Leben verströmen ließen, statt sie ganz fürs Werk aufzusparen, wie wenn, wer malerisch lebt, damit auch schon ein Maler wäre. So dämmerte mir damals ein zu jener Zeit dem Deutschen fast verlorener Begriff auf, der Begriff des ringenden, sich für sein Werk aufopfernden, auf sein Leben verzichtenden mönchischen Künstlers, dem die Kunst zur Zwangsarbeit, zur verzehrenden Qual, ja zu wahrer Besessenheit wird, ein Begriff, der mir freilich erst in Paris am erhabenen Beispiel Flauberts aus blasser Ahnung zu verpflichtender Gewißheit werden sollte.

Ich war von klein auf ein starker Leser und bald auch mit der Kunst des rapiden Lesens vertraut, an jedem Buch die Stellen witternd, wo das Entscheidende steht, so daß ich mir an guten Tagen schon an zweitausend Seiten leisten konnte, doch was ich in jenen Berliner Jahren alles verschlang, dieser Rekord ist kaum je wieder von mir erreicht worden. Wenn mir nun schließlich im trüben Lampenlicht die Stube zu flirren begann, ging ich gegen Abend gern in jener gelinden Trunkenheit, in die das überreizte Gehirn dann ausschwillt, über die Weidendammerbrücke, mich von den Wogen der Friedrichstraße dahin tragen und treiben lassend, bis ich bei Kranzler in die Passage bog. Hier klang der Lärm der Stadt gedämpft, der Schritt lockerte sich, das Leben floß in dieser Liebesbucht gelinder und im gemächlichen Auf und Ab geriet ich in einen seltsamen inneren Singsang, es fing in mir geheimnisvoll zu klingen an, mir fiel immer wieder was ein und wenn ich mich auch schon nach einer Viertelstunde stets des Einfalls, der mich eben noch so bezaubert hatte, durchaus nicht mehr entsinnen konnte, das Gefühl dieser bewegten Fülle war sehr schön. Eines Abends aber steigerte sich dieses innere Rauschen bis zur deutlichen Rede, es nahm das Wort, ich vernahm ein Gespräch in mir, und mit solcher Entschiedenheit, daß ich, eilends heim getrieben, die Nacht an meinem Schreibtisch saß, das Diktat aufzeichnend. Nach kaum einer Woche lag ein Schauspiel vor mir, »Die neuen Menschen«, an dem ich ganz unschuldig, für das ich selber gar nicht verantwortlich war. Es geschah mir zum erstenmal, so durchaus nichts als der Sekretär der Eingebung zu sein. Es ist mir später mitten in der Arbeit zuweilen wieder geschehen, aber immer nur streckenweise, sich erst allmählich einstellend und plötzlich wieder entweichend. Damals entstand in ein paar Nächten ein Werk, das ich gar nicht gewollt hatte, das eigentlich gar nicht mein Eigentum war, ja von dem ich kaum hätte sagen können, ob es mir gefiel. Es erschien auch wieder bei dem guten Schabelitz in Zürich. Ich war verblüfft über die Wirkung. Josef Viktor Widmann schrieb im Berner Bund: »Das außerordentliche Talent, welches sich in diesem merkwürdigen Stücke kundgibt, nötigt uns zu höchster Achtung vor dem Verfasser … Der zweite Akt hat eine Szene von erotischem Paroxismus, die wohl auf keiner modernen Bühne dürfte gespielt werden und wahrscheinlich in der ganzen dramatischen Literatur, trotz Richard Wagners heimlich schwülen Liebesszenen, nicht ihresgleichen hat … So ungefähr dürfte es unseren Urgroßvätern zumute gewesen sein, als sie die besseren Produkte der überschäumenden Sturm - und Drangperiode der deutschen Literatur in die Hände bekamen. Man mag an den Hofmeister, an die Soldaten von Lenz denken, teilweise an Schillers Räuber und – da nun leitet eine gewisse Ähnlichkeit des Stoffes auf den Vergleich – an die extravagante Stella von Goethe … Der Hauptwert des Stückes liegt nicht in den Geschehnissen, sondern im geistigen Gehalt und auch in der sprachlichen Schönheit des Dialogs. Wir haben so gute Prosa in neueren dramatischen Werken nur bei Meistern wie Heyse angetroffen. Auch an die herrlichen schwellenden Perioden in Goethes Clavigo fühlt man sich erinnert.« Und wenn Widmann darin »das Werk eines wirklichen Dichters« und »etwas durchaus Geniales und Originelles« erkennen wollte, so war es für John Henry Mackay »eines der bedeutendsten Dramen der Gegenwart«, dessen »Schluß erhaben wirkt«, und für Adam Müller-Guttenbrunn »eine der tiefsinnigsten modernen Tragödien, die in den letzten Jahren geschrieben worden sind«. Ich war mit einem Schlage berühmt; schon die Wut, mit der die berufenen Hüter der Banalität über mich herfielen, sorgte dafür. Mußte dies alles nicht einem jungen Burschen zu Kopfe steigen? Aber es machte mich eher verlegen. Ich wußte gar nicht, wie ich dazu kam. War ich denn ein Dichter? Ich hatte jene beiden heiteren Einakter verfaßt und in den Wochen am Steinkogl unter dem Eindruck von Richard Voßens »Scherben« fragmentarisch über die Niedertracht, Sinnlosigkeit und Albernheit des Daseins weltverachtend monologisiert, selber so wenig daran glaubend, daß ich den Entwurf bald liegen ließ. Nun hatte mich, während ich äugelnd in der Passage flanierte, der Schall dieses Dramas, das mir selber doch eigentlich gar keins schien, überfallen. War ich also vielleicht wirklich ein Dichter? Ich konnte mir das nicht gut denken. Aber hatte nicht ich selber oft genug beteuert, der neue Dichter, der Dichter unserer Sehnsucht, der vollendete Dichter der Zukunft würde ganz anders aussehen müssen als die gewohnten Dichter bisher, ja ganz anders als irgendeiner von uns auch nur sich vorstellen zu können fähig wäre? War ich also etwa schon dieser ungewohnte Dichter oder doch ein Stück davon und nur selber in Person noch unfähig, mir und dieser neuen Dichterart in mir gerecht zu werden? Worauf ich schließlich immer wieder ein Kichern in mir fragen hörte: Sonst hast du keine Sorgen? Denn ich hatte mir in allen Verstiegenheiten meinen Humor bewahrt. Dadurch unterschied ich mich von den heutigen Hermann Bahren.


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