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XV

So war ich aus Wien verbannt. Meine Burschenschaft gab mir noch bis Liesing das Geleit, wir saßen, des Abendzugs nach Graz gewärtig, zechend auf der Höhe des Felsenkellers, während drüben das sanfte Tal mit dem Petersdorfer Turm im gelinden Dunst des Märzabends allmählich erblassend verschwamm. Und aus hellen Kehlen klang mir der Abschied in die Nacht hinein noch lange nach, als ich schon auf der harten Bank im Zug mit meinen guten Vorsätzen allein lag, im stillen das Gelöbnis erneuernd, fortan die drei Monate bis zur ersten Staatsprüfung tagein tagaus nichts als zu büffeln, bis es mir ein Spaß sein müßte, selbst den böswilligsten Examinator zu beschämen.

Doch war das leichter gedacht als getan. Ich hatte nicht mit meinem jungen Ruhm gerechnet. Von der Studentenschaft jubelnd, von den akademischen Behörden ärgerlich verlegen, von der Polizei mißmutig empfangen, war ich nach zwei Tagen auch hier das Stadtgespräch und fühlte, wenn ich durch die Herrengasse schritt, alle Blicke voll Erwartung auf mir ruhen. So viel ehrendes Vertrauen enttäuschen zu müssen, fiel meiner Eitelkeit schwer. Immerhin blieb ich zunächst fest, lehnte die geplanten Huldigungen ab und beteuerte meinen Entschluß, bis nach der Staatsprüfung durchaus inaktiv zu bleiben und höchstens einmal Samstags zur Kneipe zu kommen oder wohl auch an schönen Sonntagen zuweilen mit den Kartellbrüdern zu wandern. Und wirklich saß ich anfangs Tag um Tag in der Schießstattgasse draußen auf meiner stillen Bude seufzend über den Pandekten und konnte nach einigen Wochen, an die versprochene Wanderung gemahnt, also guten Gewissens zusagen. Mit großem Gefolge bunter Mützen zog ich denn an einem Maiensonntag los, rechts der Mur hin an der Burg Gösting vorbei nach Thal. Wir waren kaum angelangt, als der Ärger, das kleine Wirtshaus von höchst unnötigen »Philistern« überfüllt zu finden, ihre Weigerung, einen eigenen Tisch für uns allein zu räumen, das Zögern der atemlosen Kellnerin, der Ungeduld unserer durstigen Kehlen schnell genug zu gehorchen, zusammen mit unserer Gewohnheit, sich ja keine Gelegenheit zum Stänkern entgehen zu lassen, sogleich eine drohend gereizte Stimmung ergab, die tätlich ausbrach, als nun gar noch am Tische nebenan ein italienisches Lied angestimmt wurde. Der Haß zwischen italienischen und deutschen Studenten war damals Grazer Tradition, meine Kameraden sprangen auf, schon schwang ein Italiener einen Stuhl, Weiber kreischten, Kinder fingen zu heulen an, die Philister flüchteten, die Kellnerin schrie, der Wirt tobte mit geballter Faust, als ich plötzlich auf dem Tisch stand und ganz ruhig zu sprechen begann: »Seid's ihr denn verrückt?« rief ich meinen Freunden zu. »Wir wollen doch im Grund genau dasselbe wie diese da! Und wir wie sie haben denselben Feind! Wir Deutschen in Österreich sind bereit, unser Leben einzusetzen für unsere Vereinigung mit dem großen deutschen Vaterland. Wollt ihr's also den italienischen Kommilitonen verdenken, daß auch sie geradeso nicht ruhen werden, bis alles italienische Land dem großen italienischen Vaterland wiedergegeben sein wird?« Hier stürmte der Enthusiasmus der anfangs nur erstaunt und als ob sie den eigenen Ohren nicht trauen könnten, aufhorchenden Italiener so gewaltig los, daß auch meine zunächst vor Verblüffung sprachlosen Gefährten mitgerissen wurden, jauchzend einzustimmen, als ich zum Schluß mein Glas auf die Verbrüderung der beiden Irredenten, der deutschen und der italienischen, erhob; da war der alte Haß vergessen, Italiener und Deutsche lagen einander in Armen. Die städtischen Gäste waren gleich anfangs vor der drohenden Keilerei geflüchtet. Nur ein alter Herr in weißen Haaren hielt mit den Seinen aus, bis auch diese mitten in meiner Rede plötzlich, auf ein Zeichen seines Sohns, eines Offiziers, der meine Worte nicht länger anhören konnte, sich eilig entfernten. Aber der Alte blieb, mir lauschend, und trat, als ich nun lachend vom Tisch sprang, zu mir, umarmte mich und wiederholte, mich unter Tränen betrachtend, nur immer wieder: Robert Blum, Robert Blum! Ich kannte diesen Namen obenhin als eines Führers der Wiener Revolution von 48 und sah den bewegten Alten fragend an, der sich erst allmählich so weit erholte, mir beteuern zu können, er hätte seit Robert Blum keinen Redner von solcher Gewalt mehr gehört. »Aber, unglücklicher Jüngling!« fuhr er, von neuem in Tränen ausbrechend, fort, »bedenken Sie das Ende, sein blutiges Ende!« Und die Hände hebend, mit einer halb bittenden, halb segnenden Gebärde schied der alte Herr von mir, den Seinen folgend.

Ich stand verlegen. Was meinte der alte Mann nur? Warum so feierlich? Was war denn eigentlich Großes geschehen? Die waren daran gewesen, einander in die Haare zu fahren und ich hatte sie beruhigt; ich wußte selber kaum mehr recht, wie. Mir sprangen zu jener Zeit beim Reden die Worte nur so von den Lippen, es war eher, als sprängen sie mir auf die Lippen, aus der Mitte meiner Zuhörer her, von unten zu mir empor, fast als spräche gar nicht ich, sondern sagte bloß mechanisch nach, aber sie, die Hörer, sagten es mir ein! Ich ahnte meistens, wenn ich begann, von meiner Rede nichts, war aber immer ganz sicher, daß sie mir diktiert werden würde: sie lag gleichsam in der Luft meiner Hörer und ich hatte bloß hineinzugreifen, um mir Wort für Wort, was sie hören wollten, aus ihnen zu holen. Ich las meine Reden gleichsam den Hörern an ihren Augen ab; ich war's gar nicht, der sprach; ich war nur ihr Sprachrohr, es hat mich noch Jahre gekostet, bis ich selber sprechen, mich aussprechen lernte, und seit ich es kann, bin ich eigentlich kein Redner mehr. Auch dort in Thal war mir das Stichwort aus dem Gedränge zugeflogen. Einer von uns rief in der ersten Wut aus: Verfluchte Katzelmacher, lauter Irredentisten! Da fiel mir ein: Ja, sind denn wir selber nicht auch Irredentisten? Und schon stand ich auf dem Tisch und meine Rede war mir eingegeben. Ich mußte heimlich lachen über ihre Wirkung.

Am anderen Tag sprach ganz Graz davon; mein Ruhm war nun auch hier legitimiert. Und alle Welt fragte sich, was denn nun mit mir geschehen würde. Ein Staat, der sich von unreifen Jungen derlei bieten läßt, hat überhaupt schon abgedankt, hieß es. Aber zugleich versicherten dieselben Leute: Natürlich, wenn ihr einen so begabten jungen Menschen, weil sich sein Most etwas absurd gebärdet, gleich zum Märtyrer macht, zwingt ihr ja die ganze Jugend zur Staatsfeindlichkeit! Die Behörden standen also vor dem Problem, das höchste Maß von Energie gegen mich aufzuwenden und mich das Gesetz in seiner ganzen unerbittlichen Strenge fühlen zu lassen, ohne mich doch im geringsten zu beschädigen oder in der Ausübung meiner oratorischen Gaben zu stören, wofern ich nur einverstanden wäre, mir gefälligst einen anderen Ort dafür auszusuchen. Gerade der Widerspruch zwischen dem Abscheu vor meiner hochverräterischen Gesinnung, den man mir öffentlich, wenn auch zwinkernd, zu bezeigen jede Gelegenheit wahrnahm, und der Bewunderung, deren man mich unter vier Augen überschwenglich versicherte, war's, was mich toll machte. Denn wirklich in eine Art Tollheit geriet ich nun, diese ganze Welt schien mir aus den Fugen und eigentlich war's aber doch nur ein eingeborener tiefer Sinn für Ordnung gerade, der mich zum Verächter der patriotisch geschminkten Anarchie werden ließ. Da war niemand, der mir den großen geschichtlichen Beruf dieses alten Reichs enthüllt, der mich zurechtgewiesen, der mir auch nur widersprochen hätte, jedermann gab mir vielmehr unter vier Augen sein geheimes Einverständnis mit meinem Hochverrat zu verstehen und riet mir nur allenfalls, klug zu sein und so lange zu schweigen, bis ich einst in Amt und Würden wäre, die mir doch auch erst die Sicherheit bieten würden, ungehindert »im nationalen Geiste« zu wirken. Diese Zumutung, mich in ein Staatswesen hineinzustehlen, um es dann von innen her ausweiden zu können, schien mir so widerlich, daß ich eben darum dieses Staatswesen, das die Fäulnis solcher Gedanken überhaupt aufkommen ließ, nur noch um so grimmiger haßte. Sein eigenes Bürgertum hatte diesen Staat längst aufgegeben, es glaubte nicht mehr an ihn und man lächelte still über den guten Jungen, der pathetisch verkündete, worüber doch alle längst insgeheim einig waren. Ich fühlte das und es erbitterte, es erboste mich so, daß ich auf den kindischen Einfall kam, gewissermaßen auf eigene Faust diesem von mir nicht mehr anerkannten Staat den Gehorsam aufzukündigen und Krieg anzusagen. Daß Studenten nachts feuchtfröhlich in Händel mit der Polizei geraten, ist alter Brauch, ich aber betrieb das jetzt sozusagen prinzipiell, ich randalierte symbolisch, ich griff in jedem Polizisten die Vorhut der mir feindlichen Macht an und bald verging kaum eine Nacht, in der wir nicht vor dem Standbild des Erzherzogs Johann solchen Lärm geschlagen hätten, daß wir alsbald in die Raubergasse eskortiert werden mußten, wo mich der Kommissär, der die merkwürdige Gewohnheit hatte, sich, wenn er in Zorn geriet, zur Abkühlung in einemfort die Hände zu waschen, immer schon mit einem »Natürlich, der Herr Bahr wieder!« empfing; sein Verbrauch an Handtüchern nahm gewaltig zu. Mich empörte dabei vor allem die Gewißheit, daß es mir nicht gelingen würde, bestraft zu werden. Schneidergesellen hätte man ins Loch gesteckt, aber wir waren Studenten! Und auch die bedauernswerten Polizisten wußten doch im voraus, daß wir, welche Schindluder immer wir auch mit ihnen trieben, eigentlich sakrosankt waren. Auch das hochnotpeinliche Verhör so vieler Zeugen über jene Verbrüderung der italienischen Irredenta mit der deutschen zu Thal ergab ja schließlich nur meine polizeiliche Verurteilung zu einer Geldstrafe von fünfzig Gulden, nach der damals mit Recht so beliebten kaiserlichen Verordnung vom Jahre 1850. Um dieselbe Zeit mußten Arbeiter den bloßen Verdacht einer sozialistischen Gesinnung mit schwerem Kerker büßen. Ich hatte damals oft große Lust, Straßenräuber zu werden; und ich muß heute noch sagen: eigentlich aus den anständigsten Motiven.

Mein Vater war unter der Hand höflich von meinen Abenteuern verständigt worden und las zwischen den Zeilen, daß meine Gegenwart in Graz unerwünscht zu sein begann. Er kränkte sich darüber so, daß er mich gar nicht sehen wollte, sondern mir ein Zimmer in Steinkogl anwies, einem damals noch recht stillen Wirtshaus an der Traun, zwischen Ischl und Ebensee. Er hoffe zu Gott, schrieb er mir, ich würde dort in der Waldeinsamkeit aus meinen wüsten Träumen erwachen und mich wieder auf mein besseres Selbst besinnen lernen. Er konnte nicht wissen, daß kaum eine Stunde davon, in Rinbach am Traunsee drüben, mein lieber Couleurbruder Edmund Lang hauste, bei seinem Schwager Köchert über Sommer zu Gast. Drei kleine Mädchen, wie Märchen schön, tollten ums Haus, ein mächtiger, gelassener Bernhardiner war gleich mein Freund, abseits aber stand, blaß und schmal, in sich verloren, schweigsam, ein unscheinbarer junger Mensch. Erst allmählich verriet er, daß er auch reden konnte. Wir redeten dann zuweilen die halbe Nacht durch, bis uns der Hausherr auseinander trieb. Es war Hugo Wolf.

Wir kannten einander dem Namen nach; und Wagnerianer bildeten ja damals sozusagen eine Nation. Mit seiner Entlassung, seiner Verweisung aus dem Konservatorium war mir der Beweis seiner Künstlerschaft erbracht, war für mich seine Begabung entschieden, ihm aber wieder verbürgte schon meine Wut auf Brahms, es an mir mit einem anständigen Kerl zu tun zu haben; Jugend sieht das Leben in so herrlichen Vereinfachungen! Dazu kam noch: er war gestrandet, ich war es auch, er outcast wie ich, so blieb uns beiden gegen das Urteil der Welt nur die Berufung auf den eigenen Stolz, auf das sichere Gefühl des inneren Werts in unserer Brust und jeder von uns war darum auch dem anderen gegenüber von vornherein bereit, eigentlich schon den bloßen Mut zu solcher Berufung allein für ein vollgültiges Zeugnis dieses Werts zu nehmen. Auch hatten wir den Ton einer hochmütig absprechenden, nichts verschonenden, weltverachtenden Ironie gemein, die sich bei mir in zynischen Bummelwitzen entlud, während er dann zu meinem größten Spaß, wenn ich ihm das Hölzl warf, über die Gemeinheit des bürgerlichen Daseins in ein solches Rasen geraten konnte, daß die Schiffer auf dem See draußen unruhig wurden, so gräßlich klang sein Toben durch die blaue Stille hin. Nur ganz reine Menschen sind einer solchen unpersönlichen Wut fähig, einer Wut sozusagen in abstracto, die gar nicht irgendeinem besonderen Falle gilt, sondern von ihm aus immer gleich zur Empörung gegen das Dasein des Bösen, Falschen, Häßlichen überhaupt, dagegen daß es Böses, Falsches, Häßliches überhaupt geben kann, im Grunde gegen den Sündenfall selber wird. Auch verlosch für sein Gefühl jeder Unterschied des Sittlichen vom Künstlerischen: über einen falschen Ton war er moralisch entrüstet, ein schlechtes Buch galt ihm als eine böse Tat und einen schiefen Vergleich, gar einen leeren Vers empfand er als persönliche Beleidigung. Wir lagen oft, an solchen Tagen, wo der Sommer mit seiner Liebesüberfülle den bangen Menschen fast erdrückt, lebensschwül im Gras, ich ganz nur der Seligkeit, auf der Welt zu sein, der Seligkeit des Sonnenscheins, der Seligkeit des Seewinds hingegeben, er, immer ein heißhungriger Leser, in irgendeinem Buch blätternd, das aber dann plötzlich in einem grimmigen Bogen durch die Luft flog, während er in Verwünschungen ausbrach: »Hund, vermaledeiter Schuft, geborener Ziegelschupf er, aber nein! Dichten muß der Mistfink, diiichten!« Und wehe, wenn er derlei Verse nun gar zu rezitieren begann, der Hohn seiner meckernden Stimme war dann von einer vernichtenden Infamie, man hörte, daß er um Rache schrie, Rache für einen blutigen Schimpf, Rache für die Schändung seiner inneren Welt! Er schien dichterisch fast noch empfindlicher als in seiner eigenen Kunst, und ich frage mich heute noch zuweilen, ob sein Urerlebnis, sein Urverhältnis zum Dasein nicht eigentlich das des Dichters war. Daher auch sein Sinn für Kleist, bei dem ja wieder umgekehrt das Wort aus Musik aufzutauchen scheint, ja zuweilen selber noch von überwogender Musik schäumt. Ich hörte damals die Penthesilea zum erstenmal, Wolf trug sie stets bei sich, sie war sein Brevier, er las uns immer wieder daraus vor, oft mitten in irgendein Gespräch hinein, in einer plötzlichen Aufwallung von Freude, tiefer Dankbarkeit und Andacht oder auch um uns etwas Liebes zu erweisen, wie Kinderhand stolz ist, Blumen bringen zu dürfen. Vom Abglanz reinsten inneren Glückes begann, indem er las, sein durchscheinendes Antlitz zu leuchten, seine Hände zitterten und im Übermaß der Erregung sprang er dann auf einmal davon, sich Luft machend in Lauten einer seltsamen Mischung von Knirschen, Zischeln und Wiehern. Einen Augenblick später kam er verwandelt zurück, auf der reinen Stirne den bangen Ernst eines zum erstenmal von Ahnungen erschauernden Knaben, arglos zuhörend oder zutraulich erzählend, so froh, sich geborgen zu fühlen. Mir fiel damals schon auf, wie geheimnisvoll er oft dem Kapellmeister Kreisler glich, wirklich Zug um Zug. In jenem »Todessprung von einem Extrem zum andern« war auch er ein Virtuos, auch er kannte diese »verdammte Sorte von Humor, die einem den Atem versetzt«, dem »schalkisch scheinenden Humor, von dem mancher sich oft verwundet fühlt und der doch aus dem treuesten herrlichsten Gemüt kommt«, auch er hatte die »höhnende Verachtung aller konventionellen Verhältnisse, den Trotz gegen alle üblichen Formen, die Auflehnung gegen alles, was durch die ›richtige‹ Ansicht des wirklichen Lebens bedingt und als unsere Zufriedenheit begründend anerkannt wird«. Eben in der erbitterten Verachtung aller dieser vom Bürgertum beschlossenen »richtigen Ansichten« fanden wir uns, wir wollten ja gar nicht »unsere Zufriedenheit begründen«, wir wiesen sie zurück, aus eben dem Motiv Kreislers, das seine Prinzessin ausspricht: »Nur in dem Zwiespalt der verschiedensten Empfindungen, der feindlichsten Gefühle geht das höhere Leben auf!« In dieser quälenden Sehnsucht nach einem »höheren Leben«, das zu berühren wir erst aus der öden Enge satter Zufriedenheit ausbrechen zu müssen meinten, wurzelt auch Hugo Wolfs ungestümer Formwille, seine höchste Kraft. Nach Jahren, mitten in der Arbeit am »Corregidor«, schrieb er einmal: »Alles drängt mächtig nach außen und verlangt nach Bildung und Gestaltung.« Dämonisch überflutend, blieb er dennoch immer seiner ordnenden, bindenden, formenden Macht gewiß. Ein Heldenleben war's in seinem rastlosen Ringen, die dunklen Gewalten ins Licht, ungestalt Nächtiges an den Tag, Dunst und Flucht und Spuk zur klaren, in gesicherten Grenzen ruhenden Erscheinung zu bringen. »Nah ist und schwer zu fassen der Gott«, in diesen Worten Hölderlins steht das Schicksal des deutschen Künstlers. In unserer Zeit hat keiner Gottes unfaßliche Nähe dennoch zu fassen, einzufassen in Gestalt, mit so glühender Inbrunst ersehnt, keiner das Geheimnis der Form andächtiger umworben, kein deutscher Künstler nach einem Blick ins Auge Gottes so flehentlich gelechzt wie Hugo Wolf.

Meines Vaters gerechter Zorn hatte sich indessen allmählich beschwichtigen lassen, es sollte noch ein letzter Versuch mit mir gewagt werden, ich wurde nach Czernowitz geschickt, recht, als ob es darauf abgesehen gewesen wäre, mich mit allen Untiefen meines Wesens, allen darin lauernden Gefahren, allem Bösen, Ruchlosen und Tückischen in mir bekannt zu machen, damit ich, wie Nestroys Holofernes, mit mir selber raufend, ermessen lernte, wer stärker wäre, ich oder ich! Es war eine Roßkur; wie durch ein Wunder fand ich zuletzt, vor mir selber zurückschaudernd, doch noch wieder heraus. Seitdem kann ich über keinen Menschen mehr, wohin er auch sinken mag, aburteilen; ich bin aus eigener Erfahrung zu genau mit den unbegrenzten Möglichkeiten zum Niederträchtigen in uns vertraut.

Das Absurde dieses echt liberalen Schwindels, Orient mit einer deutschen Universität beglücken zu müssen, ging mir gleich bei der Ankunft in Czernowitz auf, als mich das Gespenst eines eher einer verhungernden grauen Katze gleichenden Pferds, unter den Hieben und Schreien des ringellockigen Kutschers im Kaftan zickzack den steilen Berg hinanstolpernd, aus einer Ecke des ächzenden Wagens in die andere schmiß. Und hier fing nun wirklich ein neues Leben für mich an, endlich einmal ein Leben jenseits von Gut und Böse! Wer zugriff, dem gehörten die Weiber, wer zuschlug, dem gehorchten die Männer, gar, wenn das Zugreifen, das Zuschlagen mit offener Hand geschah, die sich nicht lumpen ließ. Und welch ein Märchen stak in diesem Dreck! Er war von einer Wunderpracht des heiligen Ostens vergoldet. Ein seltsamer Hauch lag überall, Patriarchenluft war hier zu kosten, freilich mit einem Beigeruch, stark nach österreichischer Verwaltung muffend. Aber gar Montags, wenn Markt war, wie glühte der lehmige Ringplatz von Farben! Da kamen dann auch noch die rumänischen Popen kutschiert, Römerprofile reinsten Schnitts, blaubärtig eingerahmt, in den Schatten irgendeiner wesenlosen müden Bangigkeit gedrückt, zur Seite die Frauen mit den großen, traumumflorten, nach Glück fragenden Augen, »auf liebliche Weise fügsam«, wie's im Diwan heißt; erst Sevilla bot mir nach Jahren wieder solchen Augenschmaus, aber hinter Gittern, während hier in Czernowitz auch dafür sogleich jenes hilfreiche Wesen zur Stelle war, in dem der Genius dieser Stadt leibhaftig erscheint: der Faktor. Dies ist, wie das Wort schon sagt, einer der's macht, der alles macht, der in allen Fällen weiß, was da zu machen ist und wie, der einem, indem man so vor sich hingeht, auf einmal den Wunsch, den man sich noch selber kaum eingesteht, ins Ohr flüstert und auch schon den Weg zur Erfüllung zeigt. Shakespeare muß einmal in Czernowitz gewesen sein, denn er kennt ihn schon: Tubal, Shylocks Freund, ist auf dem Rialto, was der Faktor für Galizien und die Bukowina. Wie Tubal, hat jeder Faktor die geheimnisvolle Kraft, immer plötzlich da zu sein, wenn man ihn braucht: er tritt nicht auf, er scheint aus der Versenkung emporgestiegen, aus unserer eigenen tiefsten Verschwiegenheit, und bevor wir selber noch recht verstehen, was unser Herz begehrt, bietet er es uns schon an: ein Zimmer, einen neuen Anzug auf Pump oder einen alten zu verkaufen, einen Liebesbrief zuzustecken, bares Geld, ein blondes Mädchen oder ein braunes. Er ist Wohlwollen, Einsicht, Nachsicht, Menschenkenntnis, Sachkenntnis, Auskunft, Hilfe, Rat, Takt, List, Verschwiegenheit und Allgegenwart in Person, er ist immer da, sobald man ihn braucht, er geht auf einmal neben einem, aber ohne daß es von den anderen bemerkt wird, sie meinen, er gehe nur eben an einem vorüber; und er ist, wenn man von Bekannten gegrüßt wird, auf einmal schon wieder weg, in die Luft zerronnen, von der Erde verschlungen, man weiß es nicht. Mir war er mehr als Tubal, mir ward er gleich auch noch zum Ariel, er half mir zaubern und gab mir den Mut zu dem phantastischen Spaß, mich zum Straßendiktator der Stadt zu machen.

Es lag immer schon ein geheimer Drang in mir, nach Superlativen des Lebens zu verlangen; mittlere Zustände sind mir unerträglich, ich will mich exaltieren. Daher meine Redelust: im Gefühl der Macht über Menschen schlug mir das Herz höher. Daher ebenso meine Händelsucht: in Gefahr, Bedrängnis und Tumult schwoll mir der Kamm. Daher aber auch der unbeschreibliche Reiz, den Debatten für mich hatten, solche Debatten über Gott, die Welt, Kunst, Staat, Tod oder was immer es war, wenn es nur Gelegenheit gab, sich daran Nächte lang von Widerspruch zu Widerspruch, durch Trumpf und Gegentrumpf, immer von neuem wieder den Partner noch überbietend, so zu steigern, daß schließlich alles rings verlosch und von der ganzen Schöpfung am Ende nichts übrig blieb als die reine Selbstbewegung des Geistes, ein immer rascheres Rotieren, eine Art sublimen Ringelspiels zu völliger Narkose. Derlei war aber in der Bukowina nicht Landesbrauch, ich mußte da zum Ersatz nach derberen Mitteln der Berauschung greifen, der herrliche junge Wein bot sich an: ich ward zum Säufer, der, spät am Mittag erst aus wüsten Träumen auffahrend, sogleich wieder, den Jammer wegzuspülen, zechend in der Schenke saß. Mein Leben war ein einziges Gelage, ich tat's bald den wildesten Bojaren gleich und wie sie war auch ich immer dabei von einem heulenden Kortege toller Spaßmacher und unbändiger Spießgesellen umgeben. Unser Lärm scholl durch die Stadt, die wir als ein persönliches Eigentum unserer Launen behandelten; wen wir aufgriffen, der mußte mit; wessen Nase mir nicht gefiel, der wurde verwarnt, sich ja nicht mehr vor mir blicken zu lassen, bei Prügelstrafe. Da war ein Café Cohn, das sich sonst um der schönen Laura am Büfett willen meiner besonderen Gunst erfreute, doch eines Tages fragte jemand: »Müssen eigentlich die Juden Domino spielen?« Ich entschied: »Sie müssen nicht und wir wollen ihnen das einmal beweisen!« Und sogleich brachen wir auf und zogen, es war um Mitternacht, ins Café Cohn, ich trat in den mittleren der vielen engen Räume, sprang auf einen Tisch und gebot: »Juden hören hiemit auf, Domino zu spielen!« Und da man zögerte, mir zu gehorchen, ward ich handgreiflich, stieß aber auf beherzten Widerstand, ward in einen Winkel gedrängt und konnte mich des Hagels von Sesseln, Stöcken und Geschirr, die mir an den Kopf flogen, schon kaum mehr erwehren, als eben noch zur rechten Zeit ungarische Husaren mir zu Hilfe kamen, mich befreiten und nun mit mir auf die Makkabäer eindrangen. Wie durch ein Wunder war ich, dem die Hand mit dem zur Abwehr geschwungenen Sessel schon erlahmte, gerettet, dank einem Gefährten, der, von den Stürmenden schon hinausgedrängt, nebenan in einem Hinterraum die Husaren beim verbotenen Hasard angetroffen und, selber Jude, doch zu meinem Heil an ihren Antisemitismus appelliert hatte; unter Eljenrufen auf Istoczy (so hieß, wenn ich mich recht erinnere, ein damals durch den Prozeß von Tisza-Eßlar berühmt gewordener ungarischer Antisemit) ward ich befreit und konnte das Schlachtfeld als Sieger behaupten. Übrigens kannte mein Übermut durchaus keine konfessionellen Schranken und die Sonne meines Zorns schien Christen, Juden und Ketzern. Ja, der einzige, dem es damals gelang, mich zu bändigen, ja mir fast etwas wie Respekt abzunötigen, war ein Rabbi. Irgendwie kam das Gespräch einmal auf den Wunderrabbi von Sadagora. Was kann der? fragte ich. Sein Vater sei schon Wunderrabbi gewesen und der Großvater auch; in Sadagora hätten sie stets einen Wunderrabbi. So was muß man doch gesehen haben, aber wehe dem Kerl, wenn er an mir kein Wunder tut! Und für den nächsten Tag ward ein Wagen bestellt und wir fuhren, reichlich mit Weinflaschen verproviantiert, in dicke Pelze vermummt, johlend durch die grimmige Kälte. Ich hatte versprochen, mit dem Kerl um die Wette zu zaubern; wir wollten schon sehen, wer von uns beiden der größere Zaubermann wäre! Wir kamen an, man war ängstlich, die Johlenden vorzulassen, wir erzwangen uns den Eintritt. In dunkler Stube saß ein alter Mann. Seine Stimme fragte, was die Herren Studenten wünschten. »Den Wunderrabbi sehen!« gab ich zur Antwort. Er erwiderte: »Bitte!« Leise wurde das in einem singenden Ton gesagt. Und dann schwieg er still. Auch meine Gefährten schwiegen. Und ich wunderte mich über mich selbst, aber ich schwieg auch. Von solcher Stille sagt bei uns der Volksmund, daß man einen Engel durchs Zimmer gehen hört; und irgend etwas in mir verbot mir, wenn es auch nur ein Engel des Alten Testaments war, ihn zu stören. Auch fiel mir auf, daß ich auf einmal nicht mehr betrunken war. Ich dankte dem Alten, wir legten jeder ein Geldstück hin, hörten seine dunkle Stimme etwas feierlich Klingendes murmeln und wurden mit einer Gebärde von solcher Würde, solchem Adel entlassen, daß ich ihm am liebsten die Hand geküßt hätte. Heimfahrend saßen wir kleinlaut, bis ich, es abzuschütteln, erklärte: »Ein Komödiant, der sich wenigstens auf sein Geschäft versteht; das muß man ihm ja lassen.« Aber ich fühlte selbst, der Spott klang nicht ganz echt. Ich war an meiner empfindlichsten Stelle getroffen, der Wundermann hatte meinen Lebensnerv berührt: mein Gefühl für große Form. Wie die wilde Jagd tobten wir diese Nacht durch alle Spelunken, um mein Gewissen niederzusaufen.

Der Bubenstreiche war kein Ende. Zu meinen besten Gaben gehört, daß ich mich vergessen kann, es ist mir immer wieder geglückt, ganze Seiten aus meinem Leben zu streichen. Aber als ich vor einigen Jahren wieder nach Czernowitz kam, wärmten mir Gefährten von damals, nun längst in Amt und Würden, meine sämtlichen Schandtaten auf. Ich will hoffen, daß von dieser Legende kaum ein Drittel wahr ist; es genügt, mich heute noch schamrot werden zu lassen. Ich muß das auch schon damals zuweilen empfunden haben. Denn einer der Gefährten erzählte mir, ihnen hätte nichts an mir damals mehr imponiert, als wenn ich mich dann zuweilen, mitten im ärgsten Rausch, mit einem »Kusch, ihr Schweine!« wankend erhob, um mich platt auf den Boden zu werfen, einen zerlesenen Homer, den ich stets bei mir getragen haben soll, aus der Tasche zu ziehen und laut vor mich hin im schönsten Griechisch zu schwelgen. Ich kann mich daran durchaus nicht erinnern, er aber will es beschwören können, denn gerade dadurch wäre schon damals ihr geheimer Verdacht bestärkt worden, ich hätte mir nur gewissermaßen, um mein Inkognito vor ihnen zu wahren, eine Maske der Verkommenheit vorgesteckt. So, wie der Gefährte meint, war es nun auf keinen Fall. An der Echtheit, ich möchte fast sagen: an der Unschuld meiner Verlotterung kann ich leider nicht zweifeln. Aber das Gefühl meiner Gefährten trog nicht: sie war in der Tat etwas Unnatürliches, sie kam aus einer Perversion meiner besten Empfindung. An innerer Entwicklung meinen Jahren weit voraus, war ich durch mein Rednerglück, durch meinen Verkehr mit bedeutenden Menschen innere Steigerungen, Erregungen, Emotionen des Geistes gewohnt geworden, die mir weder durch einsames Büffeln der Pandekten noch durch die Kathederweisheit der Czernowitzer Professoren erstattet wurden. Von diesen nahmen sich nur zwei meiner an, Singer, der Lehrer des Kirchenrechts, und der hochbegabte, bald darauf jung verstorbene Grawein. Jener, in sich gekehrt, nach innen lebend, schrak vor dem Tumult meines Wesens zurück, dieser hinwieder hatte selbst mit seinem eigenen Tumult genug zu tun: der eine war zu still, der andere mir innerlich zu nahe verwandt, um mich führen zu können. So zur tiefsten Einsamkeit verdammt, die von mir als ein schweres Unrecht empfunden wurde, weil ich instinktiv erkannte, daß ich mir nicht selber helfen konnte, daß, was mir fehlte, der Rat und Beistand einer reifen Erfahrung war, fand ich in der Qual meiner Verlassenheit, meiner Öde, meiner Verzweiflung an mir selbst, im Drange der Gewißheit, nachdem ich nun einmal von den Erregungen einer erhöhten inneren Existenz gekostet, ihren Reiz durchaus nicht mehr entbehren zu können, und unter dem Drucke meines jungen »Ruhms«, der unverdient, ein Zufall, lächerlich, aber dessen süßes Gift ich einmal gewohnt war, keinen Ausweg als nun jenen inneren Aufruhr, den ich zur Entfaltung meiner Kräfte, wie mein Wesen nun einmal war, offenbar brauchte, diesen Antrieb, Auftrieb meines Inneren, wenn ihn mir der Geist schuldig blieb, von den Sinnen zu fordern, ein Irrtum, verzeihlich an einem Jüngling, der, von der täuschenden Ähnlichkeit sinnlicher Ausschweifungen mit geistig anspannender Kraft verlockt, erst an sich selber den Trug sinnlicher Erregungen und in welcher Entseelung, Erschöpfung und Verstörung ihr ohnmächtiges Opfer leer, hohl und null zurückbleibt, erfahren mußte.

Kein Passant war vor mir auf der Gasse sicher. Wer mir mißfiel, wurde barsch verwarnt, sich ja nie wieder vor mir blicken zu lassen. Man war es gewohnt auf Schritt und Tritt bei hellem Tag von mir angerempelt zu werden. Dem »verrückten Studenten aus Wien« schien alles erlaubt. Es langweilte mich schon fast, ich machte nur noch Stichproben, um mich der Anerkennung meines Vorrechts zu versichern. Einmal sah ich einer Billardpartie zu; nebenan las jemand Zeitungen, das paßte mir nicht, ich herrschte den Herrn an: »Marsch! Suchen Sie sich ein anderes Café!« Aber ich kam an den Unrechten; er widersetzte sich, schlug Lärm und rief, als ich auf ihn eindrang, die Wache herbei, die sich von einem unerwarteten Eifer zeigte: denn es war der Staatsanwalt. Er klagte mich auf Ehrenbeleidigung, ich wurde zu Gericht geladen, erschien aber nicht, sondern schickte nur einen Dienstmann mit der Nachricht, ich hätte die Gewohnheit, bis gegen eins zu schlafen, sie sollten an einem Nachmittag verhandeln. Wir einigten uns schließlich dahin, daß ein Detektiv den Auftrag bekam, mich an einem der nächsten Tage zu wecken, ein beleibter freundlicher Herr, dem es sichtlich schmeichelte, Arm in Arm mit mir durch die Stadt zu promenieren. Zwei Tage verhandelten wir, es war eine meiner schönsten Premièren, das Haus ausverkauft, ich bei glänzender Laune, hinreißend frech, mich an der stürmischen Heiterkeit der Hörer immer von neuem entzündend, und hätte den Kläger nicht die Furcht vor seiner amtlichen Stellung beschützt, er wäre geprügelt worden. Sein Kollege war es ihm immerhin schuldig, mich zu verurteilen, zu fünfundzwanzig Gulden. Seitdem bin ich kein unbescholtener Mann mehr. Während das in Graz nur eine Polizeistrafe gewesen war, blieb ich fortan »gerichtlich vorbestraft«.

Die Frage war nun, wie sich der akademische Senat zu meiner Verurteilung stellen würde, bei dem überdies seit Wochen schon ein anderer bedenklicherer Fall Bahr hing, eine Anzeige nämlich, daß ich, zum Lutherbankett der evangelischen Gemeinde geladen, beim Hoch auf den Kaiser sitzen geblieben war und auf die Mahnung eines Teilnehmers, ob ich denn nicht gehört hätte, wem der Toast gelte, versichert hatte: gerade weil ich es gehört hatte, sitzen bleiben zu müssen. Der Senat hatte bisher mit der Entscheidung gezögert. Jetzt aber trat eines Tages Professor Grawein an mein Bett und ließ mich, während ich mir verwundert den Schlaf aus den Augen rieb, wählen, was mir lieber wäre: die Professoren wären bereit, mir jetzt schon, zwei Monate vor Semesterschluß, meine sämtlichen Vorlesungen zu testieren, so daß mir also das Semester zählen würde, dies aber nur gegen mein Ehrenwort, die Stadt binnen acht Tagen zu verlassen; gab ich es nicht, so war der Senat zu meiner Relegation entschlossen. Dies sei natürlich kein förmlicher »Beschluß«, sondern nur eine »Stimmung«, er aber, Grawein, verbürge sich mir dafür.

Ich saß kaum im Zug, da lag dies alles weit hinter mir, zergangen. Was war nur eigentlich mit mir gewesen? Ich konnte mich nicht entsinnen. War das denn ich gewesen? Hatte mich ein Wahnbild meiner selbst äffend genarrt, zugleich aber, Verborgenes aufdeckend, vor mir selber gewarnt, daß ich mich vor mir hüten und über mich wachen lernte? Nach Jahren las ich im Herakles des Euripides das furchtbare Wort: δ δ᾿ οὐκέϑ᾿ αὐτὸς ἢν, da stand jene Czernowitzer Zeit höhnisch wieder vor mir auf: erinner dich nur, auch du! Hera schickt den Wahn auf ihn herab und Herakles hört auf, Herakles zu sein. Und bebend fragen die Gefährten: παίξει πρὸς ἡμὰς δεσπότης ἢ μαίνεται? War's Spaß, was ich in Czernowitz trieb, Spaß mit mir selber, Spaß mit den anderen, oder war ich wirklich verrückt? Kann ein Mensch sich abhanden kommen, weggeweht über Nacht? Ist, was wir sind, nicht stärker als Eis im Tauwind? Und wann immer ich später gelegentlich Lust zum Hochmut empfand, sprach die leise Stimme wieder: erinner dich an Czernowitz, auch du –!

Ich sah mir Lemberg an, kam vom Krakau des Veit Stoß kaum los und ward in Wien wieder bei meinem Edmund Lang untergebracht, im Trattnerhof, drei Stöcke hoch, Tür an Tür mit dem damals auch vazierenden Hugo Wolf. Die Stadt, von einem verfrühten Vorfrühling aufgeküßt, hing mir voller Geigen, der Wind blies heller, die Freunde waren fröhlicher, die Mädchen im Volksgarten blühten üppiger als je, Lächeln, jenes linde Lächeln, das alles versteht, alles vergißt, alles verzeiht, ein Lethelächeln in Lust und Leid, lag auf allen Lippen, der ganze Zauber Wiens spann mich ein, ich dachte nicht mehr zurück, nicht an meine dunkle Zukunft voraus, nicht an meinen vergrämt erzürnten Vater daheim, ich ließ mich nur so dahinleben, denn Heut ist Heut und morgen ist auch noch ein Tag und wenn einem Heute gelind in Morgen hinüber so durch die Finger rinnt, was Schöneres kann's doch wirklich auf Erden nicht geben! Mit Anmut und Laune, ja mit Hingebung und einer edlen Feierlichkeit nichts zu tun, aufopfernd nichts zu tun und dieses Nichtstun aber bewußt zu tun, mit dem Aufgebot aller angespannten Kraft, so daß es sich zur Ausübung einer ererbten, innig gehegten Kunst verklärte, dieser Ehrgeiz des Wieners steckte mich an, auch mir mein ganzes Dasein unmittelbar zu Musik werden zu lassen. Die paar Wochen in jenem fast mailichen März hatten einen Glanz wunschloser Seligkeit, der heute noch in meiner Erinnerung nicht verblaßt ist. Und kamen wir dann bei Morgengrauen in einer gelinden Trunkenheit von Lust, Leben und Licht, der nur dann Wein noch etwas nachhalf, in unsere Bude heim, dann erschien, vom Lärm, mit dem wir Kleider und Stiefel auf den Boden feuerten, geweckt, in der Türe Hugo Wolf, in einem langen, langen, phantastisch langen weißen Hemd, eine flackernde Kerze in der Hand, sehr bleich und mit seinen höhnenden Augen in dem grauen, ungewissen, schon von der Nähe des Tags zitternden Licht gespenstisch anzusehen. Nach einer Strafpredigt saß er gern noch an meinem Bett und begann mir vorzulesen, meistens wieder aus der Penthesilea, zuweilen aber auch aus Grabbes Scherz, Ironie, Satire und Ernst, mit einem unbeschreiblichen Behagen, indem er diese paradoxen Späße gleichsam allmählich erst auf der Zunge zergehen ließ, von einem leisen zischenden Lachen geschüttelt, das eher dem Pfeifen einer Schlange glich; und dabei spielten seine merkwürdig weißen, von Ausdruck zuckenden Hände so beredsam mit, daß sie meinen schon einduselnden Sinnen oft fast wie zu Zungen seiner Worte wurden. Er lachte dann plötzlich schrill auf, warf mir noch irgendein Schimpfwort zu, schüttelte sich und war auf einmal in sein Verließ verschwunden, wo wir ihn oft noch lange mit uns schelten, vor sich hin meckern oder wohl auch einmal mit kosender Hand, wie nur um sich geschwind des Klangs der Ewigkeit wieder zu vergewissern, über die Tasten gleiten hörten.

Mein Vater ließ sich bestimmen, dem verlorenen Sohn noch einmal zu verzeihen. Er gab meiner Bitte nach, an die Berliner Universität zu gehen, um bei Wagner und Schmoller Staatswissenschaft zu hören. »Bin am Leben, aber lebe nicht«, schreibt Tolstoi trostlos einmal in sein Tagebuch. Alle meine wilden, dummen, schändlichen Streiche waren nur Verirrungen der quälenden Sehnsucht, endlich einmal nicht bloß am Leben zu sein, sondern zu leben. Erst die drei Berliner Jahre gaben mir die Kraft dazu. Berlin verdank ich's, daß ich reif wurde für Paris, das mich entschied: für die Kunst.


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