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IV

In Linz, Herrenstraße 12, an der Ecke der Steingasse, wuchs ich auf; dem Lande Oberösterreich gehörte das Haus. Allzu stattlich sah's nicht aus, in armer Zeit sparsam erbaut, ungeziert, nüchtern, so gewissermaßen inkognito dastehend; und nur allenfalls der Erker in der Mitte des ersten Stockes, den wir bewohnten, gab ihm, schmal und glatt angesetzt, doch einen gelinden Anschein bescheidener Würde. Dafür war sein Inneres aber von einem so glücklichen Raumgefühl beherrscht, von einem solchen Wohllaut aller Verhältnisse durchdrungen und jeder Winkel darin so geschickt, doch ganz unmerklich, ausgenützt, daß die Enge völlig überwunden, die heiterste Freiheit hergestellt, ja mit dem Raume fast noch Verschwendung getrieben schien. Man empfand das gleich beim Eintritt: auf der Stiege schon, die man, ohne das Gefühl, erst den Fuß zu heben, eigentlich mehr empor glitt als schritt; im Goethehause zu Weimar und auf manchen Treppen Otto Wagners wird man auch dieser beseligenden Erfahrung eines Steigens, von dem man gar nichts weiß, eines Steigens, das mehr ein Schweben scheint, teilhaft. Meinen ersten Schritten ins Leben hat's diese Stiege leicht gemacht.

Hinter dem Hause war ein Gärtchen mit Obstbäumen, bis an die lange, hohe, gelbe Wand der Realschule. Vor uns hatten wir ein breites, überragendes, selber finsteres und uns verfinsterndes Gebäude, das unserem östlich blickenden auch noch das bißchen Morgensonne wegnahm, die Finanzprokuratur. Unser größter Stolz aber war der Erker. In jenen genügsamen Zeiten kannte der Städter noch eigentlich kein schöneres Vergnügen als zum Fenster hinauszuschauen: man legte sich ins Fenster, auf den schneeweißen Polster gestützt, und lag so stundenlang und ließ die Stadt passieren, sehr aufgeregt, wenn einmal jemand schon um vier erschien, der von rechtswegen sonst doch erst um fünf vorüberging. Aber keinen besseren Posten hätte sich ein Linzer Lynkeus wünschen können als unseren die ganze Herrenstraße vom Landhause, das im Norden, bis zum Bischofshofe, der im Süden sie schließt, überblickend beherrschenden Erker: wie oft stand da mittags, wenn die Sitzung im Landesausschusse wieder einmal ungebührlich lange dauerte, die Mama voll hungriger Ungeduld, den Vater aus dem Tore des Landhauses treten zu sehen, daß die Suppe doch endlich aufgetragen werden konnte, sonst kamen die Buben zu spät in die Schule!

Das Linzer Landhaus ist um die Mitte des XVI. Jahrhunderts erbaut worden, davon hat sich in der Nordfront noch ein Renaissanceportal erhalten, von dessen unbemerkter Bedeutung meine guten Linzer erst durch Lübke verständigt werden mußten. Aber die unserem Erker zugekehrte Südfront war um 1800 abgebrannt: mit den Zügen dieser halb noch verzopften, halb schon vorbiedermeiernden Zeit erstand sie wieder, baulich der unauffälligen anspruchslosen Sachschönheit des um 1731 erbauten Bischofshofes nahe verwandt, die dann allmählich, noch etwas ernüchtert, den handfesten, redlichen, aufrichtigen Stil für das Linzer Bürgerhaus ergab. In der Klosterstraße, Harrachstraße, Domgasse, Pfarrgasse, auf der Spittelwiese, in der Altstadt, selbst auf dem Hauptplatze noch ist bis auf den heutigen Tag manches ehrwürdige Beispiel dieser in ihrer Strenge doch insgeheim irgendwie heiter angehauchten, südlich belebten Bauart stehen geblieben, jetzt freilich halb verzagt in der Wildnis des seit den siebziger Jahren von Wien her über die Länder wütenden Ringstraßenfurors. Als ich kürzlich einmal wiederkam und die Heimat mit entwöhnten Augen wiedersah, entsann ich mich, mit dem schärferen Blicke des Fremden, erst, wie seltsam diese alten Linzer Häuser doch eigentlich ans alte Berlin erinnern, an das Berlin, das am Kupfergraben, selbst Unter den Linden zuweilen, gar aber hinter dem Opernhaus und der Nationalgalerie noch wenigstens in der Luft liegt, das Berlin Lessings und Zelters, das freilich auch das Berlin Nicolais war, aber dann auch das Berlin Schinkels und der Rahel und E. T. A. Hoffmanns wurde. Rahel und E. T. A. Hoffmann kann ich mir im Linz meiner Kindheit allerdings kaum denken, Nicolai dagegen sehr gut. Und auch Messel noch hätte sich herzlich dieser lieben Häuser gefreut, die, dem Zopfe kaum entwachsen, vor leisen klassischen Anfällen nicht ganz sicher, so resolut ihr braves Bürgertum ehrlich bekennen. Den Linzern selbst aber wären sie schon damals gar nicht recht. Denn wer in jener Zeit auf »Bildung« hielt, befliß sich der josefinischen Verleugnung, der josefinischen Verachtung des geschichtlichen Österreich. Was wir selber hatten, galt schon eben darum nichts; alles Gute kam ja von draußen, wir mußten nur eilen, es einzubringen. Und wie schon, nach Goethes Wort, selbst große Menschen irgendwie doch mit ihrem Jahrhundert zusammenhängen, und sei's auch nur durch einen Irrtum, ist sogar Adalbert Stifter für den sanften Reiz dieser geraden, zwar nicht den Höhen seiner Kunst, aber den Abhängen, den stillen Seitentälern seines eigenen Wesens benachbarten Altlinzer Häuser unempfänglich geblieben. Er schrieb 1859 eigens einen bitterbösen Aufsatz über den »Baustil von Linzer Häusern«, der sie »der völligsten Gedankenleere«, der »Kunsttrostlosigkeit«, ja der »Unform« beschuldigt, denn von allen Linien sei die gerade die »phantasieloseste«, von allen Flächen die Ebene die »unkünstlerischeste« und »eben aus der geraden Linie und der kleinen Ebene sind in neuerer Zeit unsere Häuser zusammengestellt«, die er deshalb »Kisten« schilt, über ihre »mageren Verzierungen« und »die weißliche, gelbliche, grauliche, grünliche, nichtssagende und kunstlose Tünche, mit der man so oft Gebäude und ganze Gassen überzogen hat«, empört und von der »neuesten Zeit« erhoffend, daß sie »wie in anderen Kunstzweigen, so auch in diesem sich wieder aufrafft: das Wohnhaus will neuestens nicht bloß wieder ein Menschenbehältnis sein, sondern auch ein Schmuck und eine Schönheit an sich«. Und so preist er bewundernd ein Haus, das, ein paar Jahre vor meiner Geburt, ein paar Schritte von dem unseren, erbaut worden war. Er preist es, weil der Bauherr »zu diesem Hause trotz der Kleinheit der Fläche den gotischen, oder man sollte eigentlich sagen: deutschen Stil gewählt«, weil dazu »die uralte Baugestaltung des Giebels wieder, wenn auch nach unserer Meinung etwas zu schüchtern, hervorgesucht worden.« Mir ist's, wenn ich das les, als hört ich meinen guten Vater reden: ganz so pries er uns glücklich, als uns gegenüber jenes alte graue Haus der Finanzprokuratur, keine »Kiste«, sondern schon ein ganzer Kasten, nach ein paar Jahren fiel und dafür dort das neue Gymnasium erstand, in einer bramarbasierenden Ringstraßenrenaissance mit einer sinnlosen, raumverzehrenden Freitreppe, an deren Geländern wir Linzer Rangen uns Löcher in die schmierigen Hosen rutschten. Ganz so pries man in Salzburg später den schauerlichen Justizpalast. Immer, wenn eine Schönheit des alten Österreich zerstört worden ist, geschah das unter dem Jubel der liberalen Bevölkerung.

Beschrieben hat Stifter jene Linzer Häuser ja ganz richtig: sie sind »Kisten«, wie dies auch das Mozarthaus in der Getreidegasse, wie rings seine Nachbarn »Kisten« sind; und sie wollen auch gar nichts als »Menschenbehältnisse« sein, keineswegs aber »ein Schmuck und eine Schönheit für sich«. Die mag ein Schloß für sich ansprechen, ein Herrenhaus, auch ein Bauernhaus, jeder Bau, der alleinsteht, den also, selbst wenn es seinem Herrn an Eigensinn fehlt, schon die Landschaft, in der, der Platz, an dem er steht, und sein Verhältnis zum Bach, zur Flur, zum Wald ganz besonders determinieren. Anders das Stadthaus, das gesellige, das in Reih und Glied steht, das also sich einzureihen, sich anzugliedern und nicht seinen eigenen Sinn, sondern daß es ein Teil ist, auszudrücken hat, ein mitwirkender, ausschmückender Teil der Gasse, dessen Schönheit von ihrer ausstrahlt. Der josefinische Bürger, meist ein eben erst die Generation vorher in die Stadt zugewanderter Bauernsproß, für den die Stadt noch immer eigentlich nichts als ein multipliziertes Dorf, der unfähig ist, sich ein Haus anders als seinen gewohnten Bauernhof, den freilich ganz in sich ruhenden, auf sich angewiesenen, vorzustellen, kann die lateinische Schönheit der Einreihung und Unterordnung des Stadthauses in die Gassenfront nicht verstehen. Auch liegt das Bauernhaus offen da, ganz unmerklich geht es in den Vorgarten, in die Landschaft über, es hört eigentlich nirgends auf, es trennt sich nirgends scharf ab, während das Stadthaus ein deutlich abgegrenzter eigener Bezirk für sich ist: ein Verschluß und ein Versteck. Der Städter, bevor er auf die Gasse geht, zieht sich auch erst um, für die Gasse zieht er sich anders an, denn er ist selber, wenn er auf die Gasse geht, ein anderer als daheim. Einen Doppelsinn hat also das Stadthaus: es soll einen verbergen, soll ihn sichern vor den Blicken der anderen, soll eine trennende Wand ziehen zwischen ihm und den anderen, aber es soll ihnen zugleich auch kundtun, daß er einer von ihnen und gern, sobald er aus seinem Versteck hervor wieder unter sie tritt, mit ihnen auf ihre Art zu leben ihr Glück und Unglück zu teilen bereit ist. Daß er sich zugleich als ein ganz einziges, einmaliges, in seiner Eigenheit unersetzliches Exemplar der Menschheit, das eben in seiner unvergleichlichen Eigenheit eifersüchtig zu hüten sein Stolz, seine Pflicht, ja recht eigentlich der tiefste Sinn seines Lebens ist, aber doch auch, schon um dies zu können, einer Gemeinschaft verbunden, als ihren Diener, als »Bürger« fühlt, diese merkwürdige Mischung bajuvarischen trotzigen Bauerninstinkts mit einer, ihrer Herkunft nach römischen starken öffentlichen Gesinnung, vereinsamenden Mißtrauens mit geselliger Anbiederung, ergibt unseren zugleich daheim eigensinnig haustyrannischen, aber, sobald er sein Heim verläßt, sofort submissesten Stadtbürger und sein Wesen, eine skurril gedrängte Kürzung unserer ganzen Geschichte, hat sich doch eigentlich nie klarer, zuversichtlicher, herziger ausgedrückt als in jenen »Kisten«, die, so laut der »aufgeklärte« Geschmack der »Gebildeten« von ihnen abriet, dem angestammten Sinn des im Grunde ja gar nicht so gotischen, gar nicht gegiebelten Linzers innig benagten.

Am schönsten standen diese lieben Kisten damals noch auf dem Hauptplatz Spalier, wenngleich nicht mehr ganz so schmal gedrängt, wie sie mir ein bunter Stich aus dem Jahre 1848 zeigt, den ich der Freundschaft Richard Beer-Hofmanns verdanke: mein unvergeßlicher Kolo Moser konnte sich gar nicht satt sehen daran, seine Passion fürs Schachbrett schwelgte da! Der Stich ist ein Andenken an »die Fahnenweihe der Nationalgarde zu Linz am 18. Juny 1848«: vor der alten Dreifaltigkeitssäule steht ein Altar, an den sich ein Gang jonischer Säulen mit schwarzrotgoldenen Fahnen schließt, von den martialischen Garden flankiert, deren aufgepflanzte Bajonette länger als ihre fußlosen Beine sind, wie denn der ehrsame Künstler dieses Blatts auch an den Berittenen, deren Rosse mit den flatternden Schweifen ihren Insassen zu drohen scheinen, daß sie nächstens auch noch piaffieren werden, seinen höchst unfeierlichen Übermut kaum zu bemeistern weiß. Und nun gar aber, das Rathaus umgebend, die Garde der Häuser, der »Kisten«! Dreistöckig fast alle, das Dach unsichtbar oder eben nur grad soviel vorgestreckt, daß ein Hauskäppchen aufgesetzt scheint, die meisten mit drei Fenstern in jedem Stock, nur der Gasthof »zur Stadt Frankfurt« erdreistet sich gar zu fünfen, und die Fenster immer alle möglichst schmal, doch desto länger um die Wette, und ganz unverziert, ohne Sims (was hat man über Adolf Loos gezetert, als er wagte, das wie Pötzl tobend es einmal nannte: »wimpernlose« Fenster des österreichischen Bürgerstils wiederzubringen!), und jede dieser bald gelben, bald bläulichen, bald stahlgrauen, bald mattweißen, bald fahlfalbenen »Kisten«, so sehr sie sich auf den ersten Blick alle durchaus zu gleichen scheinen, jede doch aber eine ganz ausgesprochene, höchst eigensinnige, launische Persönlichkeit! Daß Eigenart, sitzt sie nur tief genug, erst keinen äußeren Aufwand braucht, ja vielleicht gerade bei geringen Mitteln die größte Freiheit und Sicherheit des Ausdrucks hat, kann man hier mit Augen sehen: es sind bloß »Kisten«, ja!, doch jede mit einem unvergeßlichen Gesicht; und der um Ausdruck ringende Denker, Dichter, Künstler mag da nur dreist das Wort »unmittelbar« wörtlich nehmen lernen!

Aber dieser Hauptplatz von Linz, der erst viel später auf den Namen Franz Josephs umgetauft worden ist, gehört, auch wenn ihn keine paradierende Nationalgarde schmückt, zum Schönsten, was ich kenne. Während sonst Plätze, nicht bloß die »Ringe« slawischer, sondern auch die lateinischer Städte, was Kreisendes haben, selber geschlossen und auch wieder schließend, den ganzen Ort zugleich einschließend und abschließend, beschließend (was sich in Salzburg zum Beispiel so steigert, daß der barocke Platz der am Inn gelegenen Städte hier geradezu, schon ganz venezianisch, zum Saal wird und, wer etwa vom Tomaselli durch den Dombogen hinten herum an der Post vorüber zum Mozart geht, in drei Minuten fünfmal immer wieder aus einem Saal in einen anderen Saal tritt), öffnet sich dieser Linzer Platz, er schließt sich auf und scheint, sachte zum enteilenden Strom hinab sich senkend, nach den Bergen über dem anderen Ufer hin sich dehnend, die Welt umarmen zu wollen; dieser Platz faßt seine Stadt nicht bloß zusammen, er führt sie fort, über sie hinaus; es ist ein bewegender Platz, ins Weite will er, an den großen Strom hinab, der dem Sonnenaufgang entgegenstürzt, zu den Bergen hinauf, wo schon die Rede der Menschen nördlich härter wird, weit, weit in die blauen Fernen hinaus – ich weiß auf Erden keinen anderen so weittragenden Platz von dieser ausweitenden Kraft! Und wenn's gar bald der erste Wunsch des unruhig zu sich selber erwachenden Knaben ward, »zur Marine zu gehen«, so war »Marine« ja nur das nächste Wort für die süße Qual der Weltsehnsucht, die bis zum heutigen Tage noch auch in dem Entsagenden immer nicht ganz verstummen will. Dieser meiner unerlösten Weltsehnsucht Lust und Leid hat mir der Linzer Hauptplatz eingegeben, und wenn ich mir's aber dann genügen ließ, am Ende doch bloß ein Seefahrer im Geistigen zu werden, ein Seefahrer bloß am Schreibtisch, das wieder mag ich wohl dem stillenden, einfriedenden Bürgersinn jener lieben »Kisten« zu danken haben!

Der reine Glockenton des Vaterhauses, der Erkerblick auf die gravitätische Bürgerlichkeit der leicht gebogenen Zeile vom Landhaus zum Bischofshof, der Sonntagsgang über den hellen, hinab und hinüber und hinaus lockenden, der weiten Welt offenen Platz waren des bildsamen Kindes erstes, beglückt von allen Sinnen eingesogenes Erlebnis. Bald aber nahm der Vater den dicken Buben auch schon auf den Freinberg mit, ungeduldig, ihm das Schönste zu zeigen: die, goethisch zu sprechen, »niemals genug zu schauende Aussicht« vom sanften Hügel die grünende Flur hinab, an der Silberschlange des Stroms vorbei, nach gelb gesegneten Feldern, über glitzernde Turmkreuze, durch den Fernendunst zum blauenden Wellenzug der Alpen empor, vom Wiener Schneeberg Haupt an Haupt bis an den Salzburger Untersberg. Da konnte der Vater so kindisch in seiner Seligkeit sein, daß der Bub oft ernst den Kopf über ihn geschüttelt hat.

Dieser Blick von mäßiger Hohe weit über reich bewegtes Land hin zum Erhabenen am fernen Horizont ist mir, von klein auf gewohnt, ein Lebensbedürfnis geworden. Sein Haus baute, vor zwanzig Jahren, der Mann sich auf der Höhe von Sankt Veit, fast an der Tiergartenmauer, unter sich der Wiener Erzbischöfe Sommerresidenz und, tiefer, die Kaiserstadt, mit dem grenzenlosen Blick in ungarische Fernen. Und das Arenbergschloß zu Salzburg, in dem jetzt der vereinsamt Alternde haust, liegt über die Stadt erhöht, so daß, tret ich auf den Balkon, ihrer alten Kirchen edle Türme mir im Westen glänzen, im Osten aber ragt mein Gaisberg: es ist immer wieder dasselbe, nur jetzt etwas näher zusammengeschoben für den altersmüden Blick.


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