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XVI

Noch heute kehrt mir, bei der bloßen Erinnerung, das Herzklopfen wieder, mit dem ich, April 1884, im Anhalter Bahnhof ausstieg: in derselben Stadt zu sein wie Bismarck, dieselbe Luft atmen zu dürfen mit Bismarck! Zum Essen bei Semiramis oder Alexander dem Großen eingeladen zu sein, wäre mir nicht phantastischer vorgekommen. Hier also wandelte Bismarck, Bismarck!, leibhaftig unter den Menschen herum! Die Steine dieser Stadt schienen mir geheiligt und ich wunderte mich nur, wie wenig doch eigentlich den Leuten von ihrer Seligkeit anzumerken war: von jeder Stirne hätte sie strahlen müssen! Ich war noch unerfahren und wußte nicht, daß Größe zur vollen Wirkung Ferne braucht. Nach Jahren kam ich einst in Marokko mit einem Beduinen ins Gespräch, der mich fragte, woher ich wäre, mit meiner Antwort aber durchaus nichts anzufangen wußte, denn Wien, Österreich, Kaiser Franz Joseph, Deutschland, Berlin, das war ihm alles leerer Schall, er schüttelte nur immer verwundert das edle Haupt, alle diese Namen sagten ihm nichts, bis mir einfiel, das große Wort auszusprechen: Bismarck. Da fing sein dunkles Antlitz zu leuchten an und dem Landsmann Bismarcks gab er bewundernd die Hand. Die richtige Ferne bringt erst volles Maß. Vielleicht wird Bismarck nach Jahrhunderten, nach Jahrtausenden einst, wenn sein Werk längst verweht, sein Volk zerstoben ist, von der Wissenschaft dann, die ja Wunder gern reduziert, bis der Verstand an ihre Schulter reicht, als mythische Gestalt gedeutet werden, ein Symbol für das Schweifende maßloser Germanensehnsucht, ein anderer Name für Wotan. Mir aber ist es einer der großen Glücksfälle meines Lebens geblieben, daß ich mit jugendlich reinen, von Unglauben, Neid oder Enttäuschung noch ungeschwächten Augen den weltgeschichtlichen Mann erblicken durfte, den einzigen seines Jahrhunderts, der sich im Plutarch sehen lassen könnte.

Ich schlief die erste Nacht in Berlin vor Erregung kaum und konnte tags darauf die Stunde gar nicht erwarten, wo zur Wachablösung der alte Kaiser im Eckfenster erschien. Bebend stand ich im Gedränge, mir indessen das Denkmal des alten Fritz betrachtend, nicht ohne leisen Widerspruch meines irgendwo tief drin insgeheim doch immer noch österreichischen Empfindens. Schon aber scholl Trommelschlag, die Wache zog auf, der Kaiser trat ans Fenster, der Kaiser, der den Traum der Nation erfüllt hatte, der Kaiser des neuen Reichs, und siehe da war's aber ein ganz einfacher alter Herr, fast ein bißchen verlegen und unbeschreiblich rührend anzusehen: ich biß die Lippen zusammen, ich hätte sonst aufgeheult; die Augen wurden mir naß. Darauf war ich doch nicht gefaßt gewesen: das war noch was ganz anderes als Größe, das war viel mehr. In sein gewaltiges, von ihm selber sichtlich als unverdient, ja fast beschämend empfundenes Schicksal gebückt, stand der alte Herr, sein ganzes Pflichtgefühl aufbietend, um standzuhalten, mit der Fassung, die sein Amt ihm gebot. Und so, den ehrwürdigen Greis im Fenster vor mir, den Ahn im Hermelin mit Dreispitz und Krückstock hoch zu Roß hinter mir, ward ich mir der Unvergleichlichkeit von sittlicher Vollendung in Demut mit dem bloßen Genie zum erstenmal erschauernd bewußt. Nachdenklich, fast andächtig ging ich fort und von solcher Gewalt war dieses Bild leidender Ergebung in ein übermächtiges, nur durch das Eingeständnis der eigenen Nichtigkeit erträgliches Los, daß es auf meiner Wanderung durch die fremde Stadt tagelang nicht von mir wich; ja sie selber schien eigentlich auch nur ein einziger großer Spiegel, aus dem mich immer wieder des alten Kaisers ahnungsvoll banger Blick traf. Auch die Stadt selber schien ja von allem, was über Nacht mit ihr geschehen, was unversehens aus ihr geworden war und was sie nun notgedrungen noch alles werden mußte, weit über sich empor, die Stadt selber schien nicht eben angenehm überrascht davon und wenn sie sich ohne Zögern entschloß, ihre Pflicht zu tun und was sie sich jetzt als Hauptstadt des neuen Reichs schuldig war, standesgemäß zu leisten, man sah ihr doch den stillen Neid an, mit dem sie der eigenen Vergangenheit gedachte, von der es jetzt scheiden hieß. Ich lernte das alte Berlin kennen, als es Abschied von sich nahm. Es war damals das gerade Gegenteil großstädtischen Schwindels: eilends wachsend, aber unwillig, ohne sich's merken lassen zu wollen, ja mit zärtlich zurückgewendetem Blick, sich durchaus nicht entwachsen wollend und nur der Pflicht gehorchend, doch stolz auf alles das gerade, was es im Grunde gar nicht mehr war, was zu sein es gar kein Recht mehr, was zu vergessen es das Gebot und doch auch schon einen unwiderstehlichen Drang in sich selbst hatte. Seltsam, wenn ich unwillkürlich die beiden Städte verglich! Wien war doch viel älter, aber es tat ja damals um jeden Preis neu. Berlin war schon viel größer, aber es gab sich noch klein. Berlin war auch schon viel reicher, aber noch hielt es Armut in Ehren, ja es posierte fast auf arm und ich erinnere mich heute noch meines sprachlosen Schreckens, als ich einen alten General, einen von den großen preußischen Generälen, leibhaftig in einer humpelnden Droschke zweiter Güte zum Hofball fahren sah: der jüngste Leutnant der österreichischen Armee war damals in einem Einspänner undenkbar, er wäre vom nächsten Wachmann arretiert und standrechtlich degradiert worden. Noch war Berlin damals seines alten märkischen Sinns, seiner alten märkischen Kraft so gewiß, daß es den schon in seinen Eingeweiden lauernden Dämon niederhielt: den »Betrieb«.

Ich sah bald, daß es hier vor allem galt, mich umschalten zu lernen. An Begabung dazu hat's mir ja nie gefehlt. Alles Äußere ganz unwillkürlich immer als Sinnbilder meiner selbst, als Stationen der inneren Entwicklung zu nehmen war ich gewohnt, ich ließ alles mit mir geschehen und gab mich, ganz unkritisch, allen Eindrücken hin, mit einem seltsamen Vertrauen, schließlich schon noch zum Rechten durchzufinden: ich fühlte mich von Jugend auf geführt und gehorchte der Führung, tief bei mir merkwürdig sicher, was immer mir auch begegnen möge, mein eigener Genius stecke dahinter; nur in dieser Verkleidung durfte mir Gottvergessenem ja damals mein Schutzengel herein. So ließ ich mich bald willig entwienern, die Vorliebe des Berliners fürs »Rüde«, vor der unsere Wehleidigkeit zunächst erschrickt, fand ich erfrischend und verdroß es mich anfangs, daß er einem in einem fort ungefragt die Wahrheit oder was er dafür hält, ins Gesicht sagen muß, so war ich auch damit versöhnt, als ich merkte, daß er doch ebenso gern bereit ist, sie sich auch selber sagen zu lassen. Er ist nicht, was wir taktvoll nennen, aber ich wurde bald dankbar gewahr, wie viel man doch gerade von taktlosen Menschen über sich selbst erfährt. Der Berliner kann auch Nein sagen, aber dafür war ein Ja hier dann wirklich Ja. Das ist nicht immer angenehm, enthebt einen aber der Mühe, nun immer erst noch dem Ton, mit dem etwas bejaht wird, abzuhorchen, ob damit eigentlich Ja gemeint ist oder ein Nein maskiert wird. Auch der meiner Heimat ungewohnte Begriff der Zeit ging mir hier jetzt allmählich auf: ich merkte, daß es im Norden bei Verabredungen für vier Uhr nicht Brauch war, erst gegen sieben zu kommen. Und an der Eile, mit der ich mich an derlei Pedanterien gewöhnte, ward ich mit Entsetzen gewahr, welcher Philister offenbar immer schon in mir stak. So begann Berlin an mir, was später Paris vollendete, die beiden Städte verhalfen mir erst zu mir selbst, sie haben, so grundverschieden, mich dasselbe gelehrt: die bürgerlichen Tugenden der Arbeit, der inneren Ordnung, der Ehrlichkeit gegen das eigene Wesen, des Widerstands gegen Launen, gegen Ungeduld, gegen Ermüdlichkeit, der Selbstbeherrschung, des Haushaltens mit der eigenen Kraft, des Gehorsams und der Treue zu mir selbst; und so verdank ich es ihnen, wenn ich die rechte Verwaltung meiner Gaben zwar lange noch nicht ausüben, aber doch fortan immer wieder anstreben lernte: mein Gewissen haben mir diese beiden Städte geweckt. Beide nämlich, das Berlin der Achtziger wie das Paris der Neunziger Jahre, hatten, so wenig sie sonst einander glichen, doch dies gemein, daß hier wie dort, hier nach Überwindung des zweiten Empire von neuem, dort noch aus alter Zeit her, das geistige Leben in derselben Menschenschicht wurzelte: von Abkommen kleinen Bürgertums war es beherrscht, die sich, in Armut geboren, unter den Augen der Not aufwachsend, in Sorgen erzogen, Entbehrung, Elend und Enge von klein auf gewohnt, auf sich selbst angewiesen, jeden Schritt aufwärts hart erkämpfen hatten müssen und wenn sie spät einen dürftigen Wohlstand erreichten, der meistens doch eigentlich auch kaum viel mehr als gerade nur sicherer Schutz vor Hunger war, ihn nun auch zu genießen keine Kraft mehr übrig fühlten, sondern ihren Stolz lieber in Entsagung, Verzicht und Genügsamkeit: das Wappen ihrer Herkunft setzten. Spuren der Abstammung aus dieser notgedrungen ehrbaren, mit Tüchtigkeit, Bescheidenheit und Lebensernst verwachsenen Menschenschicht trug auch ich im Blut. Sie waren mir im Ringstraßenwien fast zergangen in der lauen Luft seines von zynischen Bureaukraten gezüchteten, nun noch durch Börsenspiel abenteuerlich erregten Leichtsinns. Jetzt aber erwachten sie langsam wieder.

Ich war nach Berlin gegangen, um Nationalökonomie zu studieren, eine Wissenschaft, von der ich zwei Jahre früher noch kaum den Namen kannte; sie war eben erst Mode geworden. Allen Fragen, die wir jungen Leute vergebens an die ratlose Philosophie wiederkäuender Epigonen (die Schriften Nietzsches wußte der Klüngel ja damals noch sorgfältig zu sekretieren) an die in ihrem ewigen tristen Ignorabimus erstarrende Naturwissenschaft stellten, schien diese neueste Wissenschaft noch am ehesten Antwort zu verheißen; und sie gab sich für eine Lehre vom Leben der Nation aus, wie mußte das die Jugend eines Volks locken, das eben versuchte, zur Nation zu werden! Sie war uns fast, was den Neugierigen heute der Okkultismus ist: Einsicht in die geheimsten, Völkerschicksal bestimmenden Kräfte versprachen wir uns ja von ihr, auch wir wollten zaubern lernen, eine glücklichere würdigere Zukunft der Menschheit herbeizaubern. Ihr galt es ja nicht bloß Erkenntnis, sie verlangte nach Tat, sie half die Zukunft meistern, die Gestalt einer neuen Welt entwerfen, uralte Träume der Sehnsucht verwirklichen. Und sie war nicht bloß Wissenschaft, sie war weit mehr, sie war auch noch Kunst: sie war die Wissenschaft von der geheimen Kunst, aus Arbeit Gold zu machen; wirklich als Alchimie der Zukunft empfanden wir sie. Denn wie Jugend stets das Pferd beim Schwanz aufzäumt, verstanden wir in unserer Ungeduld unter Nationalökonomie ja keineswegs die Lehre Adam Smiths, dieser »englischen Krämerseele«, auch schon der alte Roscher galt uns für längst überholt, sondern, wenn wir Nationalökonomie sagten, so war damit die kaiserliche Botschaft vom 17. November 1881, es war Bismarck gemeint. Der erste Nationalökonom, den ich las, war denn auch Rodbertus, der Gutsherr von Jagetzow (natürlich schrieb ich auch sogleich über ihn: »Rodbertus' Theorie der Absatzkrisen«, erschienen bei Karl Konegen in Wien 1884, und »Über Rodbertus«, erschienen im Verlag der Unverfälschten Deutschen Worte Schönerers 1884, nach einem Vortrag, den ich in den Ferien zu Linz im Deutschen Klub hielt), und alle Nationalökonomen kamen für mich überhaupt nur als Vorarbeiter und Wegbereiter der bismarckischen Sozialreform in Betracht. Daß Adolf Wagner als ihr Berater, ja gar ihr Inspirant galt, hatte mich ja mit so magischer Gewalt nach Berlin gezogen: im Grund ging ich als Nationalökonom an die Berliner Universität, um bei Adolf Wagner Bismarck zu hören. Und seine Vorlesungen genügten meiner Gier schon im voraus nicht, ich wollte gleich die letzten Weihen meiner neuen Wissenschaft, ich wollte gleich in Wagners Seminar.

Wagner wohnte damals in Charlottenburg. Mai war's, das Gärtchen ums Haus stand in Blüten, mein junges Herz auch. Als wenn es gestern gewesen wäre, so deutlich ist mir jener Tag mit allen seinen Zügen lebendig geblieben; ich hätte damals vor Freudigkeit, zu der eigentlich gar kein Anlaß war als eben mein Gefühl davon, am liebsten die ganze Menschheit umarmt. Man hatte mich gewarnt: Wagner sei sehr kritisch in der Auswahl für sein Seminar. Ich trat ein und ward in ein weites Gemach gewiesen, da stand er in dem hohen ernsten Raum vor dem Fenster am Pult, schreibend, ohne sich durch meinen Eintritt stören zu lassen, oder auch nur nach mir hin aufzublicken, schlank, mit emporgezogenen Schultern ein wenig vornüber geneigt, der ganze Mann in Arbeit eingespannt, ja förmlich in ihr erstarrt, und nur ein geschwindes Aufblitzen seiner Augengläser zu mir her, das ich mehr empfand als wahrnahm, hieß mich reden, ohne daß er deshalb im Schreiben eingehalten hätte. Erst als ich mein Sprüchlein aufgesagt und meinen Wunsch vorgebracht hatte, ohne zu verhehlen, daß es mir an allen Vorkenntnissen gebrach, und ohne mir einen stolzen Hinweis darauf, daß ich in, Wien um meiner nationalen Gesinnung willen relegiert worden, versagen zu können, gab er einen Laut von sich, einen eigentümlichen Zungenschlag an den Gaumen, halb ein Schnalzen und halb ein dumpfes Kauen, das ich noch oft hören sollte. Dann aber begann ein Verhör, rasch, knapp, scharf, nicht angenehm, ganz und gar nicht »gemütlich«. Ich fand, daß man bei uns daheim doch bessere Formen hat. Der vielgeschäftige, von so vielen Pflichten umdrängte, zwischen wissenschaftlicher, politischer und agitatorischer Arbeit wechselnde Mann, aus dem Seminar zur Vorlesung, von dort zum Kanzler stürzend, abends in irgendeinem Keller weit draußen in Volksversammlungen mit Stöcker um die Wette redend, ja sich heiser schreiend, für sein eigenes Werk: die »Grundlegung« und den neuen Band der »Finanzwissenschaft«, nur die Hast abgesparter Viertelstunden zwischen Besuchen, Prüfungen und amtlichen politischen oder persönlichen Schreibereien erübrigend, dazu noch verheiratet, Vater, von lebhafter Empfindung für den Reiz edler, durch Kunst erwärmter, von schönen Frauen bewegter Geselligkeit, und also fortwährend gleichsam auf dem Sprung lebend, hat sich doch seinen Tag bis auf Minuten so haarscharf einteilen müssen, daß da wirklich kein Atemzug frei für eine der behaglich verweilenden Artigkeiten blieb, mit denen der Österreicher sein Leben verbringt. Und so war ich, bevor ich mich noch recht besinnen konnte, schon wieder draußen und staunte nur, daß er mich in der Eile, nach einem letzten musternden Blick durch die blitzenden Augengläser, achselzuckend und wieder mit jenem seltsamen, gaumig abschnalzenden Laut, wie wenn ich ein Pferd wäre, schließlich doch in sein Seminar aufgenommen hatte. Das war nun einer von den unverdienten Glücksfällen meines Lebens, die mich wider meinen Willen allmählich doch zu mir brachten, ja vielleicht zuletzt eigentlich noch über mein Maß empor.

Denn ich traf's gut, Wagner hat selber nach Jahren noch gern immer gerade von diesem Jahrgang erzählt: die »Mischung« sei niemals besser gewesen. Da war vor allem Heinrich Dietzel, jetzt in Bonn, damals schon Doktor, unter uns der Älteste, doch uns an Reife noch weit mehr als an Jahren überlegen, von uns allen Wagners eigener innerer Art am nächsten, gelassen korrekt, selbstbeherrscht und selbstverwahrt, von zugeknöpfter Höflichkeit, Distanz nehmend und Distanz haltend zu Menschen wie zu Dingen, lieber wenig sagend, um nur ja niemals zu viel zu sagen, spöttisch, ja mißtrauisch, vor allem auch gegen sich selbst, aber gar meine Superlative gern mit einem nur an den fein gezogenen Lippen aufhuschenden, aber noch bevor ich auffahren konnte, gebändigten Lächeln unterbietend, spöttisch, doch ohne Stachel, so hochgesinnt, daß er zuweilen fast hochmütig scheinen konnte, lieber oberflächlich wirkend, als seine Tiefe zu verraten, von einer Klarheit des Verstandes nicht bloß, sondern seines ganzen kristallenen Wesens, so daß mir immer, wenn ich an ihn denke, Goethes Distichon vom treuen Spiegel einfällt:

Reiner Bach, du entstellst nicht den Kiesel, du bringst ihn dem Auge
Näher; so seh ich die Welt, Meyer, wenn du sie beschreibst

und einer von den ganz seltenen Menschen, deren Tugenden der Schatten fehlt: schärfsten Geistes bei reinstem Gemüt, ein fast harter, doch zarter Mann, verhalten, doch nicht verschlossen, eigenartig ohne Eigensinn, entschieden ohne Rechthaberei, willensfest ohne zu versteifen, kritisch, doch nachsichtig, bei starken inneren Impulsen äußerlich die Ruhe selbst, so wohlgeboren und wohlerzogen als wohlabgewogen und wohlausgegoren, aber dieses Wunder eines ganz geratenen Menschen nun so diskret, so behutsam, ja fast unscheinbar gebrauchend, daß es die meisten gar nicht bemerkten, wodurch ihm dann freilich seine gelehrte Karriere sehr erleichtert worden sein mag: auch mir, der gleich den Reiz seiner inneren Anmut stark empfand, ging sie doch erst, als wir uns später in Paris wiedersahen, völlig auf.

Werner Sombart, damals auch Wagners Seminarist, heute sein Nachfolger auf dem Berliner nationalökonomischen Stuhl, saß, hochgewachsen, und sinnenden Blicks, still in sich gekehrt, ja fast schüchtern unter uns, den Sturm seiner Intuitionen entweder selbst noch nicht ahnend oder jedenfalls uns nicht eingestehend; er glich eher einem Träumer und war mir immer verdächtig, das Manuskript eines romantischen Schauspiels in seiner Brusttasche zu verbergen. Sein Nachbar aber war ein junger Böhme, der es darauf abgesehen zu haben schien, mich in nationalen Koller zu bringen: Karel Kramaø, schon Doktor und nun sein stupendes Wissen noch im Ausland steigernd, erprobend und berichtigend, uns allen an Willenskraft, innerer Spannung und Entschlossenheit, besonders aber durch die Richtung seines Wesens, ja seines ganzen Lebens auf ein einziges, leidenschaftlich gewolltes Ziel überlegen; wir suchten, er hatte schon längst gefunden, ihm war das Seminar nur eine Vorübung für seinen Beruf. Er war ein glänzender Debatter, unübertrefflich gar in der Repartee, katzenhaft bald schnurrend, bald wieder unversehens losfahrend, zuweilen seinen Spott über uns kaum verbergend, die wir der Wissenschaft sozusagen bloß um ihrer schönen Augen willen dienten, während er sie mit auf seinen Weg nahm, einen Weg, der ihn dicht am Galgen gerade noch vorüber ins Prytaneum seiner befreiten Nation geführt hat. Gleich bei der ersten Begegnung nahmen wir einander instinktiv aufs Korn, er ein geborener Hussit mit einer nach Rußland blickenden Romantik, ich ein enthusiastischer Bismärcker mit Eierschalen des Schönerianers, und bald lauerten wir nur, aufeinander loszufahren, zur größten Freude Wagners, der diese richtigen Austriaca, die wir im Grunde doch beide waren und, unser erstes Vaterland überlebend, ja geblieben sind, mit innigem Behagen schmunzelnd genoß. Darin lag ja recht eigentlich die Kraft, die noch weit mehr als einen großen Lehrer aus ihm, die ihn zum Erzieher einer ganzen Generation von Gelehrten gemacht hat: die Kraft, das Geheimnis des Schülers aufzuspüren, seine Passion an einer wahren Treibjagd auf dieses Geheimnis, bis dieses Anonyme, worin sich verbirgt, was man Talent zu nennen pflegt, durch Fragen, Widerspruch oder auch Spott emporgescheucht und sich zu wehren genötigt, bis an dem erst verlegen zögernden, bald erregten und, um sich behaupten zu können, wild dreinfahrenden Schüler alles bloß Angelernte, bloß obenhin Ergriffene, bloß Vermeintliche, jede bloße Denkgewohnheit, aller Drill und bloßer Schein weg und nur das ganz Wurzelechte, Hieb- und Stichfeste, wofern der Schüler derlei hatte, noch übrig und damit nun aber auch seine Begabung entdeckt war. In der sokratischen Methode, junge Leute solange zu beklopfen, bis ihr Inneres aus dem Versteck getrieben wird, war Adolf Wagner ein unvergleichlicher Meister. Er hatte darum auch noch eine Schule, während, was Schmoller um sich versammelte, mehr nach einer Klientel aussah.

Und dann war in Wagners Seminar noch ein langer blonder junger Referendar, der mir bald lieb und ein Freund fürs ganze Leben wurde; nur noch Max Burckhard kam und blieb meinem Herzen so nah wie Wolfgang Heine. Stockpreuße von Erziehung und Gesinnung, aber, was damals an Stockpreußen nicht selten war, mit einem Hauch von Weimar auf seinem Wesen (sein Vater war Rektor in Weimar, bevor er an das Gymnasium in Brandenburg kam) und Stockprotestant, nicht so sehr im konfessionellen, als in Goethes Sinn (»Der Prediger steht zur Wache … und will in Kunst und Wissenschaft wie immer protestieren«) und dazu nun auch noch stockernst, von jenem im Gemüt sitzenden grimmigen, ja für unser Gefühl eigentlich barbarischen Ernst der Norddeutschen, der sich mit der reinsten Herzensheiterkeit sehr gut und allenfalls auch gelegentlich noch mit Berserkeranfällen einer stürmischen Ausgelassenheit verträgt, aber dann freilich gleich auch diese noch wieder blutig ernst nimmt, alles prinzipiell treibt, sogar Allotria, groben Unfug und Radau prinzipiell treibt und also vor jeder Art Ironie fassungslos steht, gar aber vor meiner, die ja zuletzt dann immer auch noch sich selbst, auch eben das Ironisieren selber noch ironisiert. Er war für mich das erste Beispiel einer mir unbekannten, zunächst auch unverständlichen inneren Mischung, zu der man wohl blond auf die Welt kommen muß, der Mischung eines angeborenen, instinktiv sicher, ja fast automatisch wirkenden sittlichen Empfindens mit einer bei solcher innerer Vorentschiedenheit des Urteils kaum begreiflichen, jedenfalls unnötigen Lust an Abenteuern des Intellekts, an geistigen Verwegenheiten, gleichsam, als ob es ihn gereizt hätte, durch immer stärkere Belastung immer von neuem die Tragkraft jenes Empfindens, den Widerstand seines Gewissens auf die Probe zu stellen. Alles an diesem durch und durch blonden Jüngling war mir neu. Zuverlässigkeit und Arglosigkeit, intellektuelle Rechtschaffenheit mit etwas, das ich nicht anders als Herzensreinheit des Verstandes nennen kann, Strenge gegen sich selbst, doch voll Anmut und Unschuld, begegneten mir da zum erstenmal in Person. Ich hatte bei größter Regsamkeit des Geistes, bei stärkstem Interesse für alle Fragen bisher nie daran gedacht, daß einem etwas zum inneren Problem werden könnte; für ihn gab es eigentlich überhaupt nichts, was ihm nicht gleich zum Problem geworden wäre; wie man, rings so mit Problemen besetzt und durchsetzt, überhaupt noch atmen kann, begriff ich kaum. Mir wurde da zum erstenmal ein merkwürdiger Gegensatz zwischen norddeutscher Art und unserem Sinn bewußt: sie nehmen alles so blutig ernst, daß wir daran verbluten würden, während sie dabei vergnügt weiterleben, ja nicht bloß dabei, sondern recht eigentlich gerade davon; wir wundern uns, wie leicht es ihnen fällt, alles schwer zu nehmen.

Eben dieser polare Gegensatz unserer Naturen ergab bald eine streitbare Freundschaft, der allmählich auch Wolfs jüngerer Bruder Wilhelm, im Grunde begabter als wir beide zusammen, doch aus einer seltsamen Scham seine Begabung sozusagen in sich hinein würgend, ein stilles Wasser mit verborgenen Strudeln, erst zögernd dann in Wutausbrüchen sekundierte. Sie zog der Pfauenschwanz meiner Sinnesart an, mich die redliche Mühe, die sie sich mit dem Leben gaben, sie zürnten mir oft, ich mußte lachen, weil sie sich nie recht auskannten, ob mir etwas Ernst oder Spaß war, während ich doch eben an dieser Grenze, wo Spaß in Ernst verschwimmt, am ehesten noch einen Schein der Wahrheit mir erraffen zu können meinte, und als ich aus meinem ersten Quartier in der Zimmerstraße nun, um ihnen näher zu sein, nach dem Norden zog, in die Kalkscheunenstraße hinter der Kaserne des zweiten Garderegiments, waren wir bald unzertrennlich. Unsere heißen Debatten begannen meistens auf Wolfs Bude in der Luisenstraße und wurden dann nachts im ersten Stock des Café Bauer unter rings um uns aufgetürmten Stößen von Zeitungen fortgesetzt, um bei Morgengrauen, während wir einander durch die Karlstraße hin und her fortwährend wieder noch einmal zum letztenmal begleiteten, noch immer nicht enden zu können, bis in der Kaserne Reveille geblasen wurde. Doch zur Stunde saß ich dann pünktlich wieder im Kolleg.

Es war eine große Zeit der Berliner Universität. Unvergeßlich ist mir der Anblick des ehrwürdigen greisen Zeller geblieben, dessen Erscheinung allein schon allem Niedrigen Schweigen gebot: durch seine bloße Gegenwart schien die Wirklichkeit einer unsichtbaren Welt verbürgt, er war selber ihr leibhaftiger Beweis. Seine benediktinische Würde war von einer attischen Anmut, sein hoher Ernst verlor nie das stille Lächeln der Entsagung und ein Hauch von Reinheit umgab ihn, der mich unwillkürlich immer wieder an meinen geliebten Salzburger Lehrer Josef Steger erinnerte: diese nachgeborenen Griechen sehen, welchen Stamms und welcher Konfession immer, einander alle geheimnisvoll ähnlich und sie haben auch den ruhigen Stolz auf Armut miteinander gemein, nur vom Geiste Freuden annehmend, jederlei Glück anderer Art aber von vornherein mit höflichem Dank zurückzuweisen entschlossen. Zeller hatte sich dieses Gelöbnis der Armut offenbar schon aus der Heimat mitgebracht, es gehört ja zu den angestammten schwäbischen Tugenden, aber ein Berliner Zuwachs war daran unverkennbar, wie ja süddeutschen Vorzügen oft die härtere Berliner Zucht gut tut, in der sie dann erst zur vollen Besinnung kommen und auf sich pochen lernen: und Berlin blieb dieser alten Sitte, Verachtung irdischen Wohlstands für ein unerläßliches Kennzeichen geistigen Adels anzusehen, noch lange treu, bis in die Mitte der Neunziger Jahre. Wenn ich dann aber aus der Stille Zellers in den Dampf des weiten Hörsaals trat, der das Gedränge von Hörern Treitschkes kaum fassen konnte, schlug mir ein anderes Deutschland qualmend entgegen. Schon völlig taub und sein eigenes Wort nicht mehr hörend, war er unfähig, die fortstürzende Rede zu meistern, die störrisch aus seinen bellenden Lippen überquoll. Welche Wildheit in den gleichsam einwärts starrenden, von Visionen seiner Leidenschaft kochenden Augen, welcher Paroxismus einer fast verruchten Willenskraft: Altes Testament gleichsam nun auch noch dazu furor teutonicus geworden! Und daß wir seinem rauchenden Enthusiasmus irgend etwas Gewaltsames, ja fast etwas Unreines, vielleicht die Todesseufzer seiner geheimen Sehnsucht nach der verblühten Zeit, in der die Deutschen noch ein leidendes Volk gewesen, anzuhören meinten, gab ihm nur noch mehr Macht über eine Jugend, die dumpf empfand, daß ihr bestimmt war, über Gräber ins Dunkel ungewisser Zukunft zu stürmen. Zwischen Zeller und Treitschke, jenem sinnenden Benediktiner und diesem keuchenden Archilochus, zwischen dem lieben alten Tübinger Deutschland Hölderlins, des jungen Hegel und Schellings und dem neuen Preußen, das in Bismarcks Werk nur erst einen bescheidenen Auftakt zu welterobernder Tat sah, war uns die Wahl gestellt. Ich aber, der niemals wählen will, der alles bejaht, so stark, daß er in jedes Ja, das er sagt, auch doch das Nein, das durch dieses Ja weggewiesen wird, noch irgendwie wieder mit hineinnehmen möchte, seit je nach einer allumfassenden coincidentia oppositorum verlangend, schon lange bevor ich auch nur den Namen des Kusaners kannte, sann nach, ob denn nicht über jenem Tübinger und diesem klirrenden Deutschtum noch ein drittes möglich wäre, für das meine Generation nun ihre Kraft einzusetzen hätte. So banger Fragen voll, stand ich eines Tags im Vorgarten der Universität zwischen den Humboldts, als mich unversehens ein Strahl aus blauen Augen von solcher Reinheit traf, daß ich der hohen Gestalt des Jünglings mit diesem innigen Seelenblick wie gebannt nachging. Man sagte mir, es sei Heinrich von Stein, ein junger Dozent, Schüler Dührings, Erzieher Siegfried Wagners; er ist dann die letzte von den »großen Hoffnungen« Nietzsches geworden. Ich beschloß, ihn aufzusuchen, vergaß es zunächst und als ich im Herbst wieder daran dachte, war Stein nicht mehr in Berlin. Er hätte mir manchen Umweg erspart. Denn in ihm, der in einer ungeheuren inneren Spannung nach einer Koinzidenz so gewaltiger Oppositen wie Dühring, Wagner und Nietzsche rang, war ja schon jenes dritte Deutschland, auf dem nur der Fluch lag, unwirksam zu bleiben, bis heute noch. So bin ich in meinem Leben noch einige Male an entscheidenden Begegnungen vorbeigegangen, sie sogleich erkennend, aber dann halt verbummelnd; ich hab's meinem guten Genius nicht leicht gemacht.

An Wilhelm Scherer, dessen blühender Kraftfülle damals niemand angemerkt hätte, daß schon der Tod nach ihr griff, hatte mich Heinrich Friedjung empfohlen, für dessen »Deutsche Wochenschrift« ich damals schrieb, bis er mit Schönerer zerfiel. Selbst Österreicher von Geburt und gleich mir einer von den schlechten, josefinisch aufgewachsenen, Vergangenheit und Bestimmung des Vaterlands verkennenden Österreichern, nahm er mich gütig auf, aber so stark ich den Zauber seiner belebenden und anregenden Persönlichkeit empfand, der die Mischung von Gelehrsamkeit und einer spielenden Schöngeisterei noch einen besonderen Reiz gab, mir war damals unverständlich, daß sich jemand an derlei längst überholte Dinge wie Literatur und Kunst vergeuden konnte. Viele Jahre später hat sich Adolf Wagner einmal bei einem gemeinsamen Freund bitter über mich beklagt, auf den er die größten Hoffnungen gesetzt hätte; daß einer seiner besten Schüler ihn so sehr enttäuschen, daß gerade ich verbummeln würde, hätte er nie geglaubt. Verbummeln, wendete der Freund behutsam ein, sei doch vielleicht ein etwas zu starkes Wort für einen, dessen Stücke auf den ersten Bühnen gespielt, dessen Romane gelesen würden, der immerhin gewissermaßen berühmt sei. »Nun ja, Theaterstücke, Romane!« rief Wagner ungeduldig, »aber was beweist das?« Als Student dachte ich selber damals eigentlich nicht anders von Theaterstücken und Romanen. Was beweist das? Wir lebten in einer Zeit der Tat! Es galt das neue Deutschland aufzubauen, ein Reich der Wohlfahrt, Gerechtigkeit und Freiheit, ein Beispiel für die ganze Menschheit. Dazu war jedes Einzelnen ganze Kraft und Leidenschaft not, wer durfte sich da müßig vertändeln? So fern war ich damals von allem Schöngeistigen, daß ich mir niemals einfallen ließ, ins Theater zu gehen. Und ich hätt es so nah gehabt; ein paar Schritte, bloß um die Ecke, lag, in der Schumannstraße, das »Deutsche«, das, durch ein Bündnis erster deutscher Schauspieler, der Comédie française nachstrebend, mit ehrgeizigen Blicken auf das alte Burgtheater begründet, im Herbst, bevor ich nach Berlin kam, eröffnet worden war, ein erstes Zeichen, daß sich die Stadt schüchtern der vergessenen Kunst entsann. Ein junger Schererschüler, eben auf eine Dissertation über das deutsche Ritterdrama hin zum Doktor promoviert und nun langsam aus Fachzeitschriften in Tagesblätter übersiedelnd, Otto Brahm, hatte da, in der Vossischen dem neuen Unternehmen behutsam präludierend, die Mitarbeit an den großen Aufgaben des Staatslebens als den »würdigsten Gegenstand des öffentlichen Interesses« anerkannt und, seine Leser zu beschwichtigen, ganz ausdrücklich beteuern zu müssen geglaubt: »Auch der Kunstfreund wünscht nicht jene matten Jahrzehnte zurück, wo der Schauspieler im Mittelpunkte der allgemeinen Betrachtung stand«; und nur in aller Bescheidenheit war von diesem klugen Fürsprecher doch auch der dramatischen Kunst ein Plätzchen erbeten, indem er, mit der Beteuerung, Schillers ästhetische Erziehung des Menschengeschlechtes sei »kein leerer Wahn«, verlangte: »Das Gute und das Nützliche muß das Schöne neben sich dulden.« So genügsam waren damals selbst Theaterfreunde. Mir aber in meinem immer nur nach Wesentlichem, nach Entscheidungen trachtenden Sinn wäre leid um jeden Augenblick der Vergeudung an etwas bloß nebenher Geduldetes gewesen. Erst Ibsen trieb mich wieder ins Theater.

Fast ein Jahr war ich schon in Berlin, als der große Nationalfeiertag kam, an dem Bismarck siebzig wurde. Unabsehbar war der Fackelzug. Ich schritt in den Reihen der Berliner Burschenschaft Germania mit. Vor der Universität wurden die Fackeln ausgeteilt. Aber sie waren schon fast niedergebrannt und noch immer kamen wir Schritt vor Schritt nicht weiter. Immer wieder staute der Zug. Denn die Gruppe, die beim Kanzleramt angelangt war, konnte sich vom Anblick des Gewaltigen nicht trennen. Immer wieder standen wir, im fernen Donner des Jauchzens. Auch wir, als es endlich gelungen war, auf die vor uns so stark zu drücken, daß sie zögernd langsam, nicht ohne sich immer wieder noch einmal zurückzuwenden, weggeschoben wurden, hingen an seinen Augen, dem einzigen Zeugnis, daß dieses Erzstandbild im hohen Fenster atmete, so fest, daß es der Ungeduld der hinter uns gierig Nachdrängenden schwer ward, vorzustoßen. Nur noch als ich die Duse zum erstenmal erlebte, dann wieder, als ich zum erstenmal in Bayreuth auf dem grünen Hügel ins Festspielhaus trat, und bei der ersten Begegnung mit der Isolde meiner Frau, ward ich einer solchen Erschütterung teilhaft wie beim Anblick des dämonischen Junkers.

Beim Kommers, der auf den Fackelzug folgte, ließ ich mir die Gelegenheit nicht entgehen, die Grüße der österreichischen Burschenschaften überbringend, mich wieder einmal irredentistisch auszutoben, aber noch war mein letztes Wort kaum verklungen, als schon, mitten in den lauten Beifall hinein und ihn mir abschneidend, mein verehrter Lehrer Adolf Wagner sprach, nach einigen leichthin scherzenden Bemerkungen über mich, die sehr gütig klangen, messerscharf mit einer vor Erregung schnalzenden Stimme die falschen Deutungen abweisend, die von Mißgünstigen, Übelwollenden oder Unverständigen vielleicht meiner Rede gegeben werden könnten, während doch wir alle hier im Saal als deutsche Männer uns eins wüßten in Liebe und Treue zu dem verbündeten, an Ehren und Siegen reichen alten Habsburgerreich. In die österreichische Volkshymne klang meines Lehrers Antwort aus, und daß von der Ohrfeige, die das eigentlich für mich war, aber kein Mensch im Saal was merkte, sondern alle mich umdrängten, um, dem Beispiel Wagners folgend, der mit funkelnden Augen auf mich zutrat, mit mir anzustoßen, machte mir solchen Spaß, daß wir uns lachend umarmten.

Ich sollte noch eine zweite Lektion empfangen. Die österreichischen Burschenschaften hatten mir eine Bismarckadresse geschickt. Ich trug sie hin und bat, sie dem Kanzler persönlich überreichen zu dürfen. Dies sei jetzt nicht möglich, hieß es, aber ich würde verständigt werden. Nach Wochen, als die Verständigung noch immer nicht kam, schrieb ich und wiederholte meine Bitte dringend. Ich ward ins Palais beschieden, fand aber zu meiner Enttäuschung nicht ihn, sondern einen seiner Räte, der nach einer etwas vagen Versicherung, dem Fürsten sei natürlich jedes Zeichen der Verehrung willkommen, sich in ein behutsames Gespräch mit mir einließ und meiner unverhohlenen Forderung von Annexion gelassen die Notwendigkeit und Unentbehrlichkeit eines mächtigen, gesicherten und schlagbereiten Österreich nicht bloß für ganz Europa, sondern noch ganz besonders gerade für das Deutsche Reich selber entgegenhielt, das nach seiner Konzeption, gerade der Bismarckischen Konzeption, sowohl gegen Rußland wie bis ans Meer hinab diesen Pfeiler brauche. Derlei konnte mir nicht imponieren, ich hatte das zu oft in der »Neuen Freien Presse« gelesen, es war ihre gewohnte Predigt gegen Schönerer. Aber dann fragte mich der Rat (er hieß Rottenburg und wurde später Kurator der Universität Bonn), ob ich mir denn noch niemals überlegt hätte, wieviel doch, wenn die Deutschen Österreichs aus ihrer geschichtlichen Symbiose mit Slawen, Ungarn und Italienern abgelöst würden, ihnen selbst und damit doch auch dem ganzen Deutschtum verloren gehen müßte, wie wichtig es vielmehr für das ganze Deutschtum sei, daß der deutschen Palette sozusagen die Farbe des Österreichers erhalten bleibt, eine Farbe, die er doch nur eben jener nahen Berührung mit anderen Nationen verdankt und die bald verlöschen oder doch verblassen und den hellen Glanz, um den der Österreicher in der ganzen Welt bewundert und von den übrigen Deutschen leise beneidet wird, verlieren müßte, wenn wir in den großen Teich des allgemeinen Deutschtums eingelassen würden, in dem wir ja schließlich doch kaum die Hechte wären, und ob nicht also, wenn man Gewinn und Verlust recht abschätzt, doch eigentlich schad wäre, des Österreichers Eigenheit in ein vages Neudeutsch ausrinnen zu lassen. Dies alles schien nur so nebenher gesagt, in einem lässigen Ton, dessen Höflichkeit so kühl war, daß ich mich mit der Erwiderung begnügen mußte, mein Nationalgefühl verbiete mir, die Dinge so zu sehen. Diese Versicherung, mit der ich mir den Abgang deckte, klang nicht ganz echt. Ich war bei den Worten des Rats nachdenklicher geworden, als ich mir noch selber eingestand. Zum erstenmal hatte mir jemand Österreichs Sinn, Gewicht und Bedeutung, gerade für das Deutschtum, gezeigt. Nie zuvor war mir noch so von Österreich gesprochen worden. Merkwürdig, daß ich meinen ersten österreichischen Unterricht in der Wilhelmstraße von einem Rat der Reichskanzlei Bismarcks empfangen mußte.


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