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XI

Vorreif, Umgang nicht gewohnt, ungelenk unter Menschen, aber gerade darum desto dreister auftretend, um mir die Schüchternheit nicht anmerken zu lassen, in meinen gelehrten Neigungen, die mir allmählich sogar den Theaterteufel ausgetrieben hatten, durch den oratorischen Ruhm beim Abschied von Salzburg aufgestört, das Herz von ungewissem Ehrgeiz klopfend, ging ich im Herbst 1881 sehnsuchtsvoll als klassischer Philolog an die Wiener Universität.

Ich kannte die Haupt- und Residenzstadt schon. Der Vater hatte mich nach dem Untergymnasium, 1877, zur Belohnung hingeführt und als ich, nachts angelangt, am anderen Morgen im Matschakerhof aus einem Fenster des letzten Stockes tief unter mir das für die Gewohnheiten eines Linzer Buben gigantische Gedränge von Omnibussen in der Spiegelgasse sah, in das vom Graben her das Brausen der erwachenden Großstadt schlug, das war ein Eindruck von solcher Gewalt, daß er mir bis zum heutigen Tage frisch geblieben ist, als wär's erst gestern gewesen. Doch Enttäuschung blieb nicht aus. Vor allem gleich durch den Stephansturm. Das war eins der ersten Worte, die das Kind stammeln gelernt, und es verband damit die Vorstellung eines auf Erden einzigen Weltwunders an unermeßlicher Größe. Nun stellte sich heraus: es war ein Turm wie andere Türme auch, nur halt um ein Stückl höher, um ein beträchtliches Stückl, aber immerhin kommensurabel; das darf ein Wunder nicht sein, der Traum erlosch. Ich hatte seit diesem Tage stets Angst, einmal die Pyramiden zu sehen, und bin eigentlich froh, daß es mir erspart geblieben ist.

Abends führte mich der Vater dann damals in das alte Burgtheater, ins Heiligtum seiner Jugend. Es blieb für ihn das Schönste, was er erlebt, er wurde nicht satt, uns immer wieder von Anschütz, Fichtner und gar der Bayerbürck vorzuschwärmen. Erzählungen vom Burgtheater sind die Märchen meiner Kindheit gewesen und ich konnte kaum richtig buchstabieren, als ich, nach dem Faust und dem Robinson, als drittes Buch des lieben alten Heinrich Anschütz Erinnerungen verschlang. Und nun saß ich also wirklich selber in diesem weihevollen Hause. Nathan der Weise wurde gespielt, und am nächsten Abend Doczis Kuß. Ich war zur Begeisterung entschlossen; ich konnte doch auch meinen guten Vater nicht so kränken. Und vielleicht verstand ich von den Feinheiten der Schauspielkunst noch viel zu wenig; man muß erst mehr gesehen haben, um urteilen zu können. Es war gewiß eigentlich wunderschön. Und es machte mich stolz, jetzt wenigstens das Burgtheater zu kennen. Ich dankte meinem Vater sehr. Er aber sagte: »Ja, du bist noch jung!« Etwas wie Neid oder auch von leiser Ermüdung klang aus seinen Worten. Und wie sich selber zum Trost fuhr er fort: »Übrigens ist es nicht mehr das Burgtheater Laubes.« Tags darauf hörten wir Tannhäuser. Gleich nach den ersten Takten saß ich fiebernd und fröstelnd vor vernichtender Seligkeit. Die Geigen, die Geigen der Wiener Hofoper! Es gehört zu den vier, fünf unverlierbaren Erlebnissen, die mein ganzes inneres Dasein bestimmt haben.

Und dann meinte mir mein guter Vater vor allem Wien zu zeigen. Er hat mir aber in den vier Tagen eigentlich von Wien nur gezeigt, was damals der Stolz der Liberalen war: die Ringstraße. Jahre hat es mich gekostet, den Eindruck dieses falschen Wien, das ich zunächst zu sehen bekam, überwinden und das wirkliche Wien, das verborgene, finden zu lernen. Von dem wollten die Wiener nach 1866, die neuen Wiener, durchaus nichts mehr wissen und der Ausdruck dieses Verlangens, das geschichtliche Wien zu vergessen, ist die Ringstraße. Ich habe sie als Bub gehorsam erstaunend bewundert, ich habe sie später jahrelang heiß gehaßt; inzwischen ist sie selber Geschichte worden und hat dadurch einen Schein von Wirklichkeit gewonnen, besonders, seit die Wirklichkeiten Österreichs zergangen sind: die Ringstraße hat ja schließlich recht behalten, gegen Österreich.

Als Leistung bleibt sie staunenswert. Niemals hat sich Ohnmacht von einer so bezaubernden Anmut, Kühnheit und Würde gezeigt, keine Null ist je mit solcher fruchtbarer Fülle gesegnet, niemals Nichtssagendes von einer so hinreißenden Beredsamkeit gewesen. Es war sozusagen ein Kostümball in der Luft, irgendwie vorahnungsvoll schon vom Anfang an für den Festzug Makarts bereit, selber auch schon ein solcher Atelierscherz von unsterblicher Improvisation. Als Leistung staunenswert, vor allem gleich dadurch, daß sich überhaupt Männer fanden, sie zu wagen, freilich offenbar nur mit dem Mut jenes ahnungslosen Reiters über den zugefrorenen Bodensee. Staunenswert aber auch durch ihre ruchlose Modernität, der die ganze Vergangenheit, der eigenen Stadt nicht bloß, sondern aller Kunst, nichts als ein ungeheurer Steinbruch von Motiven war, die geistig damit nicht anders verfuhr als jene fränkischen Herzöge mit dem mittelalterlichen Athen, die sich aus dem Parthenon des Phidias Steine für ihre barbarisch gewaltigen Türme brachen. Und so stark hat sich diese blindwütige Modernität der Ringstraßenherrlichkeit erwiesen, daß, als sich ein Menschenalter später die jungen Baukünstler der Sezession erdreisten wollten, ihre neueste Modernität gegen jene längst inzwischen schon wieder veraltete der sechziger Jahre nun mit eben derselben Rücksichtslosigkeit einzusetzen, noch die ganze Stadt empört aufschrie, gegen die junge Modernität, für die verwichene. Der Ringstraßenherrlichkeit hatte sich die Stadt nur ein einziges Mal widersetzt, ganz im Anfang gleich, aufgeschreckt durch die Hofoper Siccardburgs und van der Nülls, durch das einzige Werk also gerade, das in der Gesinnung so groß und an überwältigenden Einfällen so reich ist, daß auch der Hauch von Improvisation und leiser Irrealität, der allein verrät, woher es kommt, durch den allein es sozusagen datiert wird, daß selbst dieses Aufschimmern einer sogleich immer wieder zur Sache gewiesenen Gaukelei hier gleich nur noch ein neuer Reiz wird, ein Werk, dem das fast Unmögliche gelingt, aus den Schwächen seiner Zeit Kraft zu schöpfen. Dagegen löckte Wien, das sich aber der gefälligen dänisch beweglichen Romantik Hansens wie der landfremden Gotik des schwäbisch doktrinären Schmidt willig ergab und zwischen der lässigen, doch bedachten und empfundenen, sinnvoll beherzten altösterreichischen Eleganz Ferstels und der turbulent aufhauenden, immer mit ihrem Bizeps prahlenden Genialität Hasenauers, einer so von Gewissen unbeherrschten Genialität, daß sie fortwährend daran war, in Talentlosigkeit umzuschlagen, eigentlich kaum mehr den Unterschied empfand. Die Grenze, wo Pracht und Prunk zu Protz wird, war verwischt, der Ausdruck dieser Verwischung ist die Ringstraße: le Bourgeois gentilhomme. Und eigentlich muß man ihr also zugestehen, daß sie, wenn auch nicht künstlerisch, so doch geschichtlich von Bedeutung ist, als Plakat nämlich, das der alten Stadt ankündigt: Höfisches, adeliges, grundbürgerliches Wien, deine Zeit ist um, eine neue Macht ist da, das Geld tritt jetzt die Regierung an! Kaum irgendwo sonst ist die Bourgeoisie gleich so triumphierend eingezogen, mit einem Banner aus Stein und hauptsächlich Gips. Ja dies sogar, bevor sie noch eigentlich da war. In der Ringstraße hat sich eine neue Gesellschaft im voraus Quartier bestellt, die selber um eben diese Zeit erst anfing, in aller Hast improvisiert zu werden. Und so muß man sagen, daß, wenn dieser Ringstraßenzauber durchaus, selbst in seinen schönsten Teilen, unwirklich, unglaubhaft und insgeheim irgendwie sozusagen ungereimt wirkt, ja geradezu schwindelhaft, eben darin gerade seine Echtheit besteht. Er ist ein vollkommener Ausdruck seiner Zeit, in der der Monarch, den ererbten und anerzogenen Grundsätzen des Absolutismus getreu, streng konstitutionell zu regieren entschlossen war, in der ein Land, das noch kein Bürgertum, ja kaum Ansätze dazu hatte, ein Bürgerministerium erhielt, in der die Hauptstadt, bisher eigentlich nur der Wohnort des Hofs mit seinen Bediensteten und Beamten, ein Absteigquartier des Landadels aller österreichischen Nationen und ein Festplatz für Abenteurer, Bummler, Glücksritter, Genußlinge, Lebeleute, Liebesleute, Luxusleute mit dem dazu gehörigen Troß für Vergnügen, derbster oder verfeinerter Art, für sinnliches wie geistiges Behagen sorgender, schneidernder, putzmachender, kochender, weinschenkender, aufspielender, tanzender, theaternder, witzelnder, neuigkeitskramender, materieller oder intellektueller Lakaien, plötzlich dem Ehrgeiz verfiel, sich eine »Gesellschaft« anzuschaffen, eine »Gesellschaft« nach westlichem Muster. Dieses Muster war schon selbst nicht mehr ganz echt. Das Vorbild der englischen wie der römischen Gesellschaft in ihrer ungezwungenen, unwillkürlichen, unversehenen Urwüchsigkeit lag zu fern, die von Paris aber, nach der das Ringstraßenwien zu schielen begann, hatte selber einen leisen Stich ins Unwirkliche: das Original war in der großen Revolution zunichte, Napoleons gewaltiger Entwurf einer heroischen Kopie davon aber noch nicht trocken geworden, als eine mit Geld beschmutzte Hand nach ihr griff; bei Balzac kann man fast auf jeder Seite spüren, wie jetzt in die Form einer erloschenen Macht eilends eine neue Hefe schießt, die Gesellschaft wird nicht so sehr verbürgerlicht als vielmehr bohemisiert, der junge Mann aus der Provinz ist es, mittellos, stellenlos, ratlos in der gleißenden Stadt, voll Gier nach ihren Lockungen, ohne die Geduld für den langen Weg bürgerlicher Arbeit, der Sohn von mühsamen Handwerkern oder kümmerlichen Beamten einer entlegenen kleinen Stadt, der jetzt aus dem Quartier latin durch Glück bei Frauen oder im Spiel empordringt in den allbeneideten Raum, dessen stiller Abglanz von ancien régime mit den Irrlichtern von Rastaquèren, eingeborenen und zugewanderten, männlichen und weiblichen, ein sonderbares Flackern gibt, ästhetisch vom höchsten Reiz, doch nur in einem Lande möglich, das insgeheim ein so kerngesundes, arbeitsfreudiges, nüchternes, sparsames, unverwüstliches Bürgertum hat wie Frankreich, ein Bürgertum des bon sens. Seine Mittel erlauben ihm den Luxus, sich diese »Gesellschaft« vorspielen zu lassen, die genau weiß, wieweit sie den Spaß mit ihren Zuschauern treiben darf. Wien aber hat sich den Spaß im vollen Ernst einreden lassen, als »Errungenschaft« der neuen Zeit.

Mit der Ringstraße war der Spielplatz der neuen Gesellschaft improvisiert. Es galt nun über Nacht auch diese selbst beizustellen; der Ringstraße war rasch noch erst das dazu passende Wien zu liefern. Man darf annehmen, daß es irgendwie schon in der Luft lag; der Plan der Ringstraße hätte sonst nicht keimen können. Es aus der Luft herabzuholen und so der Ringstraße nun erst Sinn, Berechtigung und Folge zu geben, hatte die Kraft ein in seinem Ungestüm, in seiner tätlichen Unrast, in der Unbeugsamkeit seines Willens ganz unwienerischer Mann, wirklich wie gerade für diesen Augenblick Wiens eigens geboren und dem dabei noch half, daß er ein halber Franzose war: Michael Etienne, der in der »Neuen Freien Presse« dem Ringstraßen-Wien ein Mundstück schuf.

Ein österreichischer Prinz, Kavallerist, Sportsmann, berühmter Reiter, berühmter Spieler, berühmter Fechter, berühmter Tänzer, berühmter Verführer, strahlend von Lebenslust, verschwindet plötzlich aus Wien und nach einiger Zeit hört man: er ist im Kloster. Es wird das Tagesgespräch einer Woche. Dann ist er vergessen. Plötzlich taucht er aber nach ein paar Monaten in der Kärntnerstraße wieder auf, in Zivil. »Du wieder hier? Hast es also doch im Kloster nicht ausgehalten! Auch eine Idee! Ein Kerl wie du?! Sich lebendig begraben! No Gott sei Dank!« Aber der Prinz schüttelt traurig den Kopf. »O nein! Ich hab es keinen Augenblick bereut. Es gibt gar nichts Schöneres als Klosterleben. Ich war so glücklich. Und nur der Abt ist schuld! O ein ausgezeichneter Mann, aber der eben doch unmenschliche Forderungen an einen stellt! Denk dir, was der Abt von mir verlangt! Er hat mir das Abonnement der ›Neuen Freien Press‹ eingestellt! Ja ohne die ›Neue Freie Press‹ kann ich nicht leben!«

Diese Geschichte mag erfunden sein, aber auch dann bleibt sie wahr. Zwei Menschenalter hat der Österreicher ohne seine »Neue Freie« nicht leben können. Der »klerikale« Hochadel hielt sich das »Vaterland«, aber gelesen hat auch er nur die »Neue Freie«. Kein Österreicher kannte sich aus, bevor er wußte, was die »Neue Freie« dazu sagt. Er war dann meistens gar nicht ihrer Meinung, aber um selber seiner eigenen Meinung zu sein, hat er immer erst die der »Neuen Freien« gebraucht. Als Leistung steht das Werk Etiennes und Friedländers in der Geschichte des Zeitungswesens unerreicht da, nicht bloß des deutschen. Hier war ein Typus, hier war etwas ganz Neues, hier war die »Publizistik großen Stils« geschaffen, wie man seitdem sagt, mit einem Ausdruck, den, so viel ich weiß, auch Etienne geschaffen hat. Und dies alles durch eine Gabe, die der Wiener nicht ausstehen, aber der kein Wiener widerstehen kann, zu der und gegen die der Wiener nie Mut hat: Etienne hatte Pathos, jenes aufreizende, gar nicht erst einen Anlaß abwartende, sich selbst genießende Pathos, das den Wiener in solche Wut bringt, weil er sich dagegen wehrlos weiß, es ergänzt nämlich polarisch den dem Wiener eingeborenen Zynismus.

Das Pathos Etiennes, dessen Mutter, eine Wienerin, noch mit Schubert musiziert hat, wurde von der Achtundvierziger Revolution geweckt: er trug fortan in Wort und Schrift immer den Kalabreser. Nach der Revolution ging er als Journalist in die Heimat des Vaters, nach Paris: am Hasse gegen den dritten Napoleon erglühend, wurde sein Pathos durch die Begeisterung für Victor Hugo beredt. Er kannte Gambetta, der um jene Zeit emporkam; die beiden konnten Gefallen aneinander finden, nur hatte der Gambetta in Etienne noch einen Börnezug, den er sich selber schillerisch instrumentierte. Nun aber kam er nach Wien zurück, ein geborener Wiener und doch eigentlich keiner mehr, jedenfalls befremdend genug, um Autorität zu gewinnen, die der Wiener Einheimischen ja nur höchst ungern gewährt. Es ist charakteristisch, daß das Ringstraßen-Wien durchaus von Fremden beherrscht wird: Der Däne Hansen und der schwäbische Schmidt führen den Bau; Dingelstedt, der Hesse mit den langen Fortschrittsbeinen, gebietet erst der Hofoper, dann dem Burgtheater; Feuerbach, ein griechisch sinnender Pfälzer, lehrt an der Akademie; der höchste Ruhm der Universität ist der Holsteiner Lorenz von Stein; gegen den Hamburger Brahms kommt der Oberösterreicher Bruckner so wenig auf als später der Steirer Hugo Wolf und in die Macht des Feuilletons teilen sich Ludwig Speidel und Hugo Wittmann, Ulms Dioskuren.

Ist an Etienne der Instinkt bewundernswert, mit dem er nicht bloß seinen großen Augenblick gekommen fühlt, nicht bloß dieser eben erst entstehenden Ringstraße sozusagen ihren geheimen Sinn abhört, nicht bloß die selber noch ratlosen Wünsche der zum eigenen Erstaunen plötzlich emporgeschobenen, für sich selbst zunächst anonymen, ihrer Gewalt, ja selbst ihres Zusammenhanges kaum bewußten neuen Schicht errät, sondern ihr sie diktiert, ihre Bedürfnisse dadurch erst weckt und indem er ausspricht, was sie will, sie selber davon erst in Kenntnis setzt, so blickt durch die scharfen Gläser Speidels fragend ein Theatermann unter seinen Leuten herum, der das neue Stück, das Schauspiel vom Ringstraßen-Wien, besetzen soll: er hat es sich nicht ausgesucht, weder die Leute noch das Stück, gespielt muß werden, also los, auf gut Glück, es wird schon gehen und sind die Leute dann erst einmal auf einander eingespielt, staunen sie selbst, wie gut es geht! Wirklich, ganz nüchtern scheint sich Speidel gesagt zu haben: Hier soll einem jungen Bürgertum (aber nur ein Schwabe konnte diese gestern an der Börse geschwind erspielte Bourgeoisie mit Bürgertum verwechseln!) ein geistiges Leben improvisiert werden, da darf man nicht allzu wählerisch sein, es ist schon viel, wenn nur die Hauptrollen allenfalls zur Not besetzt sind! Als ich in den Neunziger Jahren dann mit meinem »jüngsten Wien« in eine ganz ähnliche Situation geriet, damals noch ahnungslos, daß er doch das Geschäft aus eigener Erfahrung kannte, hat er mir schmunzelnd zugesehen, von Herzen schadenfroh. Seitdem weiß ich erst, daß, wenn schon über Nacht eine neue Gesellschaft geistig möbliert werden soll, es gar nicht umsichtiger, taktvoller und erfinderischer geschehen kann als damals durch Speidel, der, wenn es ihm dann einmal gerade mit einer unerlaubt gewagten Notbesetzung, an der er selber zweifelte, ja verzweifelte, zu seiner eigenen Überraschung besonders gut glückte, selber im stillen am meisten gehadert haben mag, besonders da ja der, über den er die Schale seines Ruhms ausgoß, niemals im geringsten darüber erstaunt gewesen sein wird. Speidel fing früh zu schweigen an. Das Metier des Berühmtheiten ernennenden, Ämter austeilenden, Stellungen schaffenden Journalisten wird ihm unerträglich, sobald es aufhört, erfolglos zu sein. Es ist nur in der Opposition ein Vergnügen, so lang an die Gegenkönige, die man ausruft, noch niemand glaubt.

Sein Amt, eine fiktive Stadt, von der ja zunächst eigentlich nur die leere Dekoration vorhanden war, mit geistigem Blutumlauf zu versehen, trat Speidel in guter Rüstung an: er kam aus der Schule Münchens. Die Ludwigstraße, doch vielleicht die schönste Straße Deutschlands, ist zunächst auch sozusagen in die Luft gebaut worden und im Grunde setzt sich die Geschichte Münchens stets in lauter Improvisationen fort, die nur dort eine geheimnisvolle Kraft haben, sich rasch immer gleich irgendwie mit Wirklichkeit anzusaugen und darin nachträglich einzuwurzeln; es sind Improvisationen, die gleich ihr, eigenes Erdreich mitbringen. Selbst die weitaus österreichischeste davon, Schwabing, das sozusagen ein von Berlinern geplantes Wien ist, hat vermocht, was österreichischen Improvisationen so selten gelingen will, in Saft zu kommen, sich breitzusetzen und bald eine gewisse Schwere zu finden: Bierschwere. Diese bajuvarische Bierschwere, der es auch der Münchener Klassizismus verdankt, daß er allein von allen Griecheleien bis auf den heutigen Tag im Stande geblieben ist und vielleicht bald noch einmal von neuem aufleben wird, hat sich Speidel, der glänzendste Meister des Wiener Feuilletons, immer bewahrt: ihre großen langsamen ruhigen Atemzüge schlagen, fast unheimlich, aus seinen Sätzen, auch wenn er sie noch sehr schliff. Daß jene Ringstraßenherrlichkeit und überhaupt die ganze »große Wiener Lebezeit vor dem Krach«, wie Hevesi sie genannt hat, nicht in leeren Dunst zerging, sondern immerhin den Schein eines Lebensstils erbrachte, dies schuldet sie dem grandiosen Pathos eines halben Franzosen und der standhaften Erdwüchsigkeit eines verbayerten Schwaben.

Die Kunst, nach Münchener Brauch mit dem Daumen den Schaum aus dem Maßkrug zu wischen, oder auch die spirale Behandlung von weißen Rettichen hat Speidel nie verlernt, und wenn es vielleicht bloß ein Witz der Kollegen war, zu behaupten, er sei, vom »Vaterland«, für das er schrieb, bis ihn Etienne sich zur Gründung der »Neuen Freien Presse« holte, nach London zur großen Kunstausstellung geschickt, dort niemals angelangt, weil er unterwegs im Münchener Hofbräu sitzen blieb, so kann man von ihm sagen, er ist auch in der »Neuen Freien« noch irgendwie doch stets im Münchener Hofbräu sitzen geblieben und darin bestand recht eigentlich seine Kraft, darin das Geheimnis seiner unvergeßlichen Wirkung: von ihm ging auf das Ringstraßen-Wien immer irgend was Großdeutsches aus, im alten echten Sinn des heute so mißbrauchten und entstellten Worts. Aber auch von seiner Hofbräutreue datiert eine kleine Revolution der literarischen Sitten, er brach einen geheiligten Wiener Brauch: der Geist Wiens war stets vom Kaffeehaus regiert worden, Speidel hat seinen Stammtisch im Beisl zum Diktator gemacht, das Ringstraßen-Wien erhielt seine Losungen von Gause, vom Winterbierhaus, vom Reichenberger Beisl, vom Griechenbeisl. Bei einem guten Glase Schwechater konnte nun von ausdauernden Gesäßen Ruhm ersessen werden. Es ist noch heute mein Stolz, daß ich es war, der dann in den Neunziger Jahren das Kaffeehaus in seine verbrieften Rechte wieder eingesetzt hat, mit dem »jüngsten Wien« hat das Griensteidl über das Griechenbeisl gesiegt (dafür war es dann aber zehn Jahre später wieder das Griechenbeisl, in dem Kokoschkas Stern aufging, so kommt die Wage der Gerechtigkeit immer wieder in Ordnung). Aber daß gerade jenes unfertige Börsenwien, auf Teppichen von Haas unter Makartbuketts mit Musik von Offenbach in gemieteter Pracht schwelgend, seinen Geist sozusagen frisch vom Faß bezog, gibt ihm einen fast rührenden Zug: es roch doch auch wieder nach Bier und das war eigentlich noch das echteste daran. Denn die Nachwirkung einer großen Vergangenheit, immerhin noch so stark, daß auch der Emporkömmling aus geschichtslosen Schichten sich stolz der »Kaiserstadt« rühmt, die Ratlosigkeit seit den Niederlagen von 1859, 1866 und 1870 (der deutsche Sieg über Frankreich wurde ja von altösterreichischen Hoffnungen als die schlimmste dieser Niederlagen empfunden), das Pochen neuer Kräfte, neuer Bedürfnisse, neuer Wirklichkeiten, denen man weder zu widerstehen noch zu vertrauen wagt, das unsichere Gefühl dieser eilig angefertigten Bourgeoisie mit bösen Träumen: pourvu que cela dure!, die Verärgerung der alten gesellschaftlichen Mächte, die Verdrossenheit des Adels, der sich irgendwie bedroht oder jedenfalls gestört fühlt, aber, statt sich zu wehren, boudiert, Gesichter schneidet und schadenfroh wartet, bis der Kaiser schon sehen wird, was da herauskommt!, die Verzagtheit der Kirche, der noch die Furcht vor dein doch eigentlich nur auf dem Papier überwundenen Josefinismus in allen Gliedern steckt, so daß das große Beispiel des tapferen Linzer Bischofs Rudigier auf diesen aufgeklärten, überall paktierenden liberalen Salonepiskopat fast als ein sinnloser Anachronismus wirkt, das Fehlen eines seßhaften aufrechten Bürgertums mit festen Traditionen, das Fehlen einer selbstbewußten Arbeiterschaft (Oberwinder, ein Lassalleaner mit der genügsamen Forderung von Arbeiterkammern, und sein radikaler Nebenbuhler Andreas Scheu gingen eben behutsam daran, die soziale Frage fortan nicht mehr bei Bodenbach aufhören zu lassen, und kurz darauf begann Rudolf Meyer, an Rodbertus zum monarchischen Sozialismus geschult, in Österreich schon als Feind Bismarcks willkommen, seine Tätigkeit als sozialer Instruktor des böhmischen und ungarischen Hochadels), das Fehlen irgendeiner entschiedenen politischen Persönlichkeit, der man vertrauen, an die man glauben hätte können, das Versagen des Parlaments, das, noch immer in einer 1861 vor dem Schottentor improvisierten Bude, dem »Schmerlingtheater«, tagend, sich von Anfang an in bloßen Wortspielen eifersüchtiger Doktrinäre, Provinzadvokaten oder Professoren erschöpft, so daß an dem ganzen Betrieb den Wiener bald nur noch Ungers funkelnder Kammerwitz, Alexander Schindlers, der als Dichter Julius von der Traun hieß, schlagfertiger Kaffeehauswitz und des volkstümlichen Pater Greuter saftiger Bauernwitz interessiert, die Wienerinnen aber bloß die betörende Zigeunerschönheit des als Romanfigur unwiderstehlichen Andrassy: dieser ganze wesenlose Wirbel leer lärmender Emotionen läßt es verstehen, daß die kreiselnde Neu-Wiener »Aristokratie des Besitzes« jenen anheimelnden Geruch von Märzenbier aufatmend als eine Art Beruhigung des verstörten Gemütes empfand.

Als ich an die Wiener Universität kam, war Grillparzer, der 1872, ein Jahr nach Schwind, starb, in Ehren vergessen, Bauernfeld wurde, fast achtzigjährig, in den Salons jüdischer Patrizier noch bei festlichen Gelegenheiten herumgereicht, Kürnberger war zwei Jahre vorher als vereinsamter verkannter verärgerter Sonderling gestorben, Saar war noch ungelesen, die Ebner-Eschenbach, schon über Fünfzig, im Burgtheater längst aufgeführt, doch des Erfolgs erst gewärtig, der lange gebraucht hat, bis er von Berlin aus spät auch Wien erreicht hat, Mosenthals Glanz, vier Jahre nach seinem Tod, noch unverblaßt, Anzengruber für den »Pfarrer von Kirchfeld« um seiner guten Gesinnung willen prompt zum Volksdichter ernannt, aber die herrschenden Dichter Wiens waren Eduard Mautner, Michael Klapp und Ludwig Doczi, in den Humor der Stadt teilten sich Daniel Spitzer, der Wiener Spaziergänger, und O. F. Berg, der Schöpfer des »Kikeriki«, doch nicht einmal Johann Strauß, schon an die Sechzig, war so populär wie Makart, an dem, seit dem Festzug von 1879, die gaffende Bewunderung mit solcher Unersättlichkeit hing, daß täglich wieder der Verkehr in der Kärntnerstraße bedroht war, wenn der kleine verlegene Mann mit dem venezianisch dekorativ schwarzen Bart, ein Miniaturdoge, schachspielend im Fenster des Café Scheidl saß.

Als kostbare Reliquie wurde dem dankbaren Neu-Wien an Festtagen immer wieder der ehrwürdige Ludwig August Frankl vorgeführt, der schon im Achtundvierzigerjahr die Wiener Universität bedichtet hatte; Daniel Spitzer war so pietätlos, ihn den »Dichter der inneren Stadt« zu nennen. Frankl hatte besonders auch mit poetischen Nachrufen an Gräbern von Berühmtheiten Glück. In solchen Fällen rissen sich die Zeitungen um ihn. Er wurde denn auch aufgeboten, als Oppolzer, die Leuchte der Wiener Medizin, verlosch, zufällig eine Woche nach dem Tode Tegetthoffs, der letzten Heldengestalt Österreichs. Damals schrieb Daniel Spitzer: »Wir haben wieder einen großen Toten und mehrere Nekrologe über ihn zu beklagen. Der Umstand, daß Tegetthoff eine Woche vor Oppolzer gestorben war, hat viele, welche das journalistische Totenbeschreibamt versehen, zu der Geschmacklosigkeit verleitet, eine Parallele zwischen dem tapferen Admiral und dem berühmten Arzte zu ziehen, die in den meisten Fällen mit einem ansehnlichen Guthaben für den erprobten Kliniker abschloß. Am weitesten hierin ist wohl Herr Dr. Ludwig August Frankl gegangen, welcher in der »Neuen Freien Presse« eine Art nadowessischer Totenklage um den dahingeschiedenen Diagnostiker erhob und gleich in der ersten Strophe eine gewisse gereizte Stimmung gegen die Verfasser jener gereimten und ungereimten Nekrologe, deren Helden »Helden« sind, und gegen diese letzteren selbst an den Tag legte. Mit einem hämischen Seitenblick auf Tegetthoff und den rhythmischen Lärm, welchen dessen Tod hervorgerufen, erklärt der auf seinen Toten stolze Dichter:

Es mögen andre melden,
Und singen von den Helden,
Die Schlachterarbeit tun,
Die mit den Feuerbomben
Hinopfern Hekatomben –
Laßt unbeweint sie ruhn!

Nachdem er so ein Exempel an Tegetthoff statuiert und mit diesen Versen, deren Rhythmus an den Trab der berittenen Polizeiwache erinnert, welche bei großen Leichenbegängnissen ausrückt, den Nekrologisten des Admirals ein kräftiges ›Zaruck!‹ entgegendonnert, tritt er selbst mit entschlossenem Schritte und neun umflorten Strophen als poetischer Totenbeschauer an den Sarg Oppolzers.«

In diesem lieben Wien, der so dankbaren Stadt, ließ mein guter Vater, nachdem er mich in einem kleinen einfenstrigen Hofzimmer im vierten Stock des Eckhauses von der Johannesgasse zur Kärntnerstraße untergebracht und der Fürsorge seiner Schwester empfohlen hatte, den jungen Philologen zurück, der im ersten Eifer gar nicht genug Kollegien belegen konnte, nicht ahnend, wie bald er sie sämtlich schwänzen sollte: denn ganz dicht an der Ringstraße lag ja damals noch wohlbehalten das unsterbliche Backhendel-Wien, noch wuchsen die Rebengärten bis in die Gärten der Vororte herein, es hing noch immer voll »halber Poesie, gefährlich für die ganze«!


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