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VI

»J'ignore ce que je fis jusqu'à cinq ou six ans«, sagt Rousseau. So geht's auch mir, selber weiß ich von meiner ersten Kindheit gar nichts mehr und wenn ich jetzt Freudschüler von allerhand so merkwürdigen, ja fürchterlichen inneren Erlebnissen, die sich in frühester Jugend begeben sollen, erzählen höre, kann ich mich eines tiefen Mißtrauens nicht erwehren. Mir sind daraus eigentlich bloß Erinnerungen an körperliche Gefühle geblieben: ein winterliches, der großen Geborgenheit, ofenwarm, mit einem Geruch von Bratäpfeln, wenn wir durch die nach der luftscheuen Sitte jener Zeit ängstlich verklebten Fenster dem Schneien zusahen; ein österliches dann beim ersten Ausgang im Jahr, durch den erwachenden Frühling an des Vaters Hand, der, in freien Stunden ein eifriger Botaniker, alle die jungen Blumen beim Namen kannte; und endlich ein sehr geheimnisvolles, das unter allen Erlebnissen, freudvollen oder leidvollen, still immer stärker in mir wuchs, das Gefühl, anders zu sein und eigentlich da gar nicht herzugehören, was ich aber keineswegs beklemmend, sondern mit Stolz empfand: ich sah mir das Leben neugierig an, als ob es ein fremdes Land wäre. Irgendein unbedachter Scherz muß in mir den Verdacht erregt haben, ob ich nicht ein weggelegtes Kind sei: sonst stehlen Zigeuner gern Kinder, diesmal hätten sie zur Abwechslung einmal eins gebracht und mich vor dem Hause meiner Eltern ausgesetzt; ich ging schon ins Gymnasium, als ich noch zuweilen mit dieser Hoffnung spielte, ein Zigeunerkind zu sein. So befremdend empfand ich von klein auf alles um mich herum: es war sehr schön, aber ich selber paßte nicht recht hinein; ich tat ja schließlich guter Laune mit, aber von Herzen war ich nicht dabei. Wenn ich der Menschheit zusehe, kann ich mich zuweilen heute noch einer ähnlichen Empfindung nicht entschlagen; manches an mir würde mir selbst erst erklärlich, wenn mich Zigeuner gebracht hätten, vielleicht Zigeuner vom Mars.

Mit diesem Gefühl tiefer Fremdheit hing offenbar auch zusammen, was man meinen entsetzlichen Widerspruchsgeist schalt. Auf alles gab das Kind zunächst zur Antwort: »Ich mag aber nicht!« Dieser elementare Trieb zur Verneinung von allem war von einer vernichtenden, auch mich selbst nicht verschonenden Gewalt über mich. Er hielt nämlich auch vor mir selbst nicht zurück: auch meinen eigenen Neigungen, Wünschen, Entschließungen, nicht bloß allem, was ich sollte, sondern auch dem Gebot meines eigenen Willens zu widerstreben, war eine dunkle Nötigung in mir, ich sagte auch zu mir selbst: »Ich mag aber nicht!« Ich hatte, selbst als ich längst erwachsen war, niemals den Ausweg, mich in mich selbst zu flüchten und an mir selbst zu beruhigen: denn auch diesem innersten Selbst noch stand ich ebenso unwillig entgegen. Daß ich mich höchst fragwürdig fand, wenig von mir hielt und mir eigentlich im Grunde höchst zuwider war, gehört zu meinen frühesten Erinnerungen. Das ist übrigens sehr deutsch. Nichts soll, bloß weil es gegeben ist, anerkannt werden, nichts gelten dürfen, solang es nicht die Zustimmung des einzelnen Deutschen eingeholt hat, der immer von sich aus erst die Welt von vorne beginnen lassen will und auch an sich selbst nicht schätzt, was er mitbekommen hat, was er ist, sondern nur was er selber aus sich macht, was er durch sich selber wird. Nichts Gegebenes, nichts Gewordenes, kein Sein nimmt der Deutsche gehorsam hin, sondern nur das Werden bezaubert ihn, das Werden um des Werdens, um der Schönheit willen, die er am Werden auch dann noch verehrt, wenn selbst daraus schließlich nichts wird: Nietzsche ist ein erschütterndes Beispiel. Ein geborener Protestant, liebt darum auch der Deutsche die Lust des Formens so, daß er schließlich darüber nie zur Form kommt, ja fast den Sinn für alle Form verliert: für die gewordene Form als ruhig durch ihr bloßes Dasein fortwirkende Lebensmacht. Daß es das Dämonische jeder menschlichen Existenz ist, immer ins Werden eingezwängt hier auf Erden, nie das reine Sein festhalten zu dürfen, diesen seinen höchsten Begriff der Entsagung zu fassen, hat auch Goethe sein halbes Leben verbraucht, und sogleich, seit der Pandora, verstanden ihn die Deutschen dann nicht mehr. Auch ich war schon fast an die Fünfzig und noch immer wich jener kindische Trotz nicht, der auch dem eigenen Schicksal noch zuruft: »Ich mag aber nicht!« Erst die sanfte Zucht unseres katholischen Glaubens hat mich Ergebung in den Willen Gottes gelehrt, seitdem erst sag ich demütig dankbar freudig zum Leben ein herzhaftes: »Ich mag!«

Sonst weiß ich von meiner ersten Kindheit bloß aus späteren Erzählungen der Eltern. Ich soll ein fürchterlicher Schreihals gewesen sein, Nächte hindurch brüllend. Das war, wie der Großvater, der schlesische Statthaltereirat, befriedigt konstatierte, zunächst das Hauptergebnis der Erziehung »nach dem Büchl«. In jenem rührenden liberalen Aberglauben an die Macht des Gedruckten hatte nämlich mein Vater eine propädeutische Schrift angeschafft, in der nun von Tag zu Tag immer der betreffende Paragraph nachgelesen wurde, um ja nichts an mir zu versäumen. Dem wilden Geschrei des dicken Buben aber allmählich ein artikuliertes Reden abzugewinnen, war schwer: denn ich stieß mit der Zunge so heftig an, daß nur ein Röcheln und Stöhnen herauskam und ich mir eine bloß den Hausgenossen mühsam verständliche, fast nur aus Vokalen bestehende Sprache zum eigenen Gebrauch ersann, die mehr ins Malayische klang. Zwei Sätze sind davon überliefert worden: »Ho i gaki, do ko da Hama ni ba gen«, was hieß: heut ist schlechtes Wetter, da kann der Hermann nicht ausgehen; und auf die Frage, welches Spielzeug ich mir wünschte: »a wagge mi wa fatte«, nämlich: einen Wagen, mit dem man fahren kann. Ich darf also ansprechen, der erste Vokalist gewesen zu sein, ein halbes Jahrhundert vor dieser neuesten literarischen Mode. Der Onkel Anastas prophezeite stets: Das arme Kind wird nie sprechen lernen! Als ich später ein berüchtigter Kommersredner und um meiner Wagner-Rede willen von der Wiener Universität relegiert wurde, seufzte mein Vater: Hätte doch der Onkel Anastas lieber recht behalten! Doch meiner Mutter war gelungen, das Lispeln und Stottern zu bannen, indem sie mir, mit unnachgiebiger Geduld, ein scharfes Messer an den Mund hielt, bis am Ende die blöde Zunge doch aus Furcht gehorchen lernte.

Kaum war mir die Zunge gelöst, als ich mich, höchst überraschend, zum Wunderkind ernannt fand. Ich galt für ein widerspenstiges, unausstehlich schlimmes, doch erstaunlich begabtes Kind. Selbst im Tadel noch bekam ich das immer zu hören: Schämst du dich nicht?, ein so talentierter Bub wie du müßte doch, und so weiter! So hieß es stets von allen Seiten. Mein Glück war, daß ich selber kein Wort davon glaubte. Mir kam's nur komisch vor. Ich hatte gar nichts dagegen, es war mir ganz recht, ich konnte nur aber nicht begreifen, warum eigentlich alle mich anstaunten. Ich fühlte, daß mein jüngerer Bruder, dem seine ganze Jugend dadurch vergiftet worden ist, daß man ihm immer mein leuchtendes Beispiel mahnend vorhielt, ernster und tiefer war als ich. Was fanden alle denn eigentlich an mir? Ich mußte lachen, ich konnte mir's damals gar nicht erklären. Heute weiß ich, daß, wenn der vorlaute Bub den Linzern ein kleines Genie schien, da nur wieder einmal Begabung mit Gelehrigkeit verwechselt wurde. Gelehrig war ich allerdings sehr, aufhorchend, aufmerkend, rasch auffassend und fest behaltend; was immer sich um mich herum begab, interessierte mich und machte mir Spaß, jedem Eindruck gab ich mich hin und sog ihn auf, um so williger, als ich mich instinktiv irgendwie ja ganz sicher wußte, tief bei mir davon eigentlich doch unberührt zu bleiben. Das Lernen, meinem Bruder so schwer, weil er es ernst nahm, wurde mir spielend leicht, eben weil ich im Grunde kein Wort davon glaubte. In den »Wahlverwandtschaften« schreibt der Gehilfe an Charlotten: »Da ich nur allzuwohl weiß, wie wenig die gute Ottilie das zu äußern imstande ist, was in ihr liegt und was sie vermag, so war mir vor der öffentlichen Prüfung einigermaßen bange, um so mehr, als überhaupt dabei keine Vorbereitung möglich ist und auch, wenn es nach der gewöhnlichen Weise sein könnte, Ottilie auf den Schein nicht vorzubereiten wäre … Fähigkeiten werden vorausgesetzt, sie sollen zu Fertigkeiten werden. Dies ist der Zweck aller Erziehung.« Mein Bruder glich ganz der armen Ottilie, er war unfähig, sich »auf den Schein« vorzubereiten, unfähig, wie geborene Musiker fast immer, auf den Schulschwindel einzugehen, was mir dagegen glänzend gelang, weil ich, darin unheimlich frühreif, von Anfang an sogleich deutlich sah, daß alles nur »auf den Schein« ausging, daß es ein Schwindel war. Es wurde mir etwas vorgesagt und wenn ich es nachsagen konnte, bewunderte man mich. Das war doch zu dumm von den Leuten! Aber schließlich, wenn es ihnen so viel Vergnügen machte, gut, warum nicht? Ich hatte jedoch ein warnendes Gefühl in mir, nur ja nicht am Ende noch auch mich selbst zu foppen: ich machte den Leuten auf Wunsch gern alles vor, aber mir selber gar nichts. Und von dem, was eigentlich in mir lag, ließ ich mir nichts merken. Mein Verdacht wuchs, daß es mit unserem ganzen Unterricht nur auf einen Spaß abgesehen war, auf ein Spiel, auf ein Schauspiel, durch das eigentlich uns Kindern gerade vielleicht etwas verborgen und unsere Aufmerksamkeit davon abgelenkt werden sollte. Mir fiel auf, daß die Erwachsenen oft auf einmal so merkwürdig lachten; und sie sahen einander dabei so sonderbar an. Es wurde mir immer gewisser, daß es noch irgend etwas gab, etwas Wirklicheres, als was wir lernten, etwas, das dann erst das eigentlich Wahre war. Und gerade das wollte man uns Kindern aber nicht merken lassen; und vielleicht war gerade der Unterricht nur erfunden worden, um uns die wahre Wahrheit dahinter zu verstecken. Dieses Gefühl gehört zu meinen stärksten Erinnerungen aus der Zeit des Erwachens. Äußerungen meiner Mutter, die nicht immer ihren grimmigen Hohn über das jämmerlich kleine Dasein, in das sie sich eingezwängt fand, ganz beherrschen konnte, mochten mir, so wenig verständlich sie dem auflauernden Knaben waren, jenen Verdacht noch bestärken, daß alles, was man uns lehrte, nur Schein, und gerade das, was zu wissen allein sich lohnte, nicht darin enthalten war, sondern uns eben dadurch unterschlagen werden sollte. Und mit einer Art geheimer innerer Hellsicht nahm ich mir vor, zwar, um Ruhe zu haben, auch ferner alles, was man mir vorsagte, behende nachzusagen, aber dabei nie zu vergessen, daß das alles noch immer nicht die Wahrheit war; und es mußte doch auch eine Wahrheit geben, eine wirkliche Wahrheit. Wenn ich mich von anderen Linzer Buben unterschied, war es nur durch dieses metaphysische Vorgefühl, ein Gefühl des Scheinhaften der Welt, ein Gefühl der Welt als eines bloßen Spiels, das keinen Sinn hat, dem aber einen Sinn zu geben wir vielleicht in sie gekommen sind. Und darauf war ich sehr neugierig; denn hinter meinem Leben mußte noch etwas liegen: bloß in die Schule zu gehen, und dann acht Jahre noch ins Gymnasium und dann an die Universität, um schließlich aber, wie der Papa, Tag für Tag von früh bis spät in einer Kanzlei zu sitzen, zehn Stunden täglich, das wäre doch zu dumm!

Doch nicht bloß meine Gelehrigkeit, Geschmeidigkeit verhalf mir zum Wunderkind, sondern eigentlich noch mehr der scharfe Blick zunächst für Lächerlichkeiten, dann aber überhaupt für Eigenheiten, Seltsamkeiten, Gewohnheiten, ja die sämtlichen Winkelzüge, die das Anonyme, das halb Komische, halb Unheimliche, das Inkommensurable, das Einmalige, das schlechthin Einzige jeder Person ausmachen. Ich hatte das auf den ersten Blick los und hatte nun aber auch noch die Gabe meiner Mutter, es mimisch auszuspotten und jedermanns Sprechart, Gangart, Tonart nicht bloß, sondern auch seine Denkart nachzuspielen. »I no Sakra!«, schrie ich, schlug auf den Tisch und zog die Brauen hoch, genau wie der Finanzrat Krause, ein vortrefflicher, im Grunde höchst gutmütiger, aber hochfahrender Mann, beim geringsten Zweifel an seiner Staatsautorität aufbrausend und, wenn der bureaukratische Koller über ihn kam, so kotzengrob, daß er in der ganzen Stadt gefürchtet war. Aber gleich darauf, den Kopf ein wenig zur Seite neigend, die Hände reibend, freundlich flötend, war ich wieder der liebe, gute, fromme Statthaltereirat von Billau, dem ich sofort, grunzend, aufgeblasen, mit dem Stocke drohend, unseren gröhlenden Hausarzt folgen ließ, den Doktor Födinger mit dem großen Kropf; er erklärte darum auch jeden, der keinen Kropf hatte, für lungenkrank und nur durch Überfütterung in schweißtreibend geheizten, vor jeder frischen Luft verstopften Zimmern noch allenfalls heilbar. Niemand kam zu uns, den ich nicht, er war kaum wieder fort, den lachenden Dienstboten vorgespielt hätte. Der Bub war ein komplettes Haustheater. Dabei fand ich aber etwas Seltsames: wenn ich wen äffte, war's, als wenn, während ich mir seinen Schritt, seine Haltung, seinen Ton aneignete, nun auch sein Sinn über mich käme; es schien mir, daß ich, indem ich ging und sprach wie er, unwillkürlich selbst auf einmal auch innerlich etwas von ihm anzunehmen begann, ich dachte nicht mehr wie ich, ich dachte ganz anders, ich bildete mir ein, zu denken wie er. Es vergingen an die dreißig Jahre, bevor ich in der Erzählung Edgar Allan Poes von dem Detektiv las, der, um die Gedanken eines Verbrechers kennenzulernen, hinter ihm hergehend seine Gebärden nachahmt und ihn solange mimt, bis er dadurch am Ende wirklich die Pläne des Halunken errät. Dem Buben lagen damals andere Sorgen näher: seine Lehrer. Er glaubte bemerkt zu haben, daß jeder Lehrer sich seinen persönlichen Begriff vom idealen Schüler macht; wem es gelingt, diesem Begriff sich möglichst zu nähern, der hat gewonnen. Ich spielte mir darum selber die Lehrer mit ihren Schrullen der Reihe nach so lange vor, bis ich ziemlich sicher zu sein meinte, welcherlei Schülerart vor jedem von ihnen aufzuführen war. Und so war ich beim wohlgemuten frischfröhlichen Professor Rupp lustig, zutraulich und keck, dem gezierten, immer sein köstlich blondes Bärtchen hegenden, in seine schimmernden Fingernägel verliebten Professor Kotek, dem Schöngeist, gab ich ein gleißendes Musterknäbchen, und wenn der Florianer Stiftsherr Ozzlberger kam, der edle Mann, weitaus der beste von meinen Linzer Lehrern, saß ich ganz still und dachte, wie schön das eigentlich sein müßte, reinen Herzens zu sein, und wünschte mir's. Zuweilen aber hätt ich doch auch gern einmal gewußt, welcher von diesen Buben, die mit solchem Erfolg von mir gespielt wurden, ich denn eigentlich selber war. So kündigte sich mir in der ersten Klasse des Gymnasiums schon an, was später jahrelang mein typisches Erlebnis bleiben sollte. Zu meinem Erfolg bei den Professoren half übrigens wohl auch mit, daß mein Vater Gemeinderat und Landtagsabgeordneter war und im Landesschulrat saß. Ich wußte, daß manche der Lehrer darum bereit waren, mir durch die Finger zu sehen. Das empörte mich so, daß ich von einem rabiaten Fleiß erfaßt wurde, nur um immer meiner Sache sicher zu sein und mir von den Kerlen nichts schenken zu lassen. »Denn die Kinder sind alle moralische Rigoristen«: das Goethe-Wort vergessen Lehrer gern; es enthält das Grundgeheimnis aller wirklichen Erziehung.

Das Gymnasium wurde mir leicht, ich brachte schon allerhand mit, das mir glänzen half. Gleich bei der »Aufnahmsprüfung«, wo wir an Beispielen zeigen sollten, welchen Fall das Vorwort »vor« nach sich ziehen kann, schrieb ich glorios hin: »Vor den Ruhm haben die Götter den Schweiß gesetzt« und

»Vor dem Sklaven, wenn er die Kette bricht,
Vor dem freien Manne zittre nicht!«

Derlei, wie mir's aus den Reden der Erwachsenen zuflog, behielt ich gierig, es war mein Stolz, belesen zu sein, und ich warf mit Zitaten herum; ich denke, daß mir ein so naseweiser Bub heute recht zuwider wäre. In die Kunst des Lesens hatte mich in Unterach am Attersee, wo wir 1869 den ganzen Sommer verbrachten, der brave Schullehrer Rauch eingeweiht. Ich konnte kaum buchstabieren, da gab mir zur Übung der Onkel Anastas Goethes »Faust«. Der war das erste Buch, das ich las. Zunächst hatte dies nur die Folge, daß ich mir mit der Kindern eigenen feinen Witterung für Ungeziemendes aus dem Lied, das Gretchen im Kerker singt, ein mir bisher unbekanntes Wort hervorholte, um bei der ersten unpassenden Gelegenheit öffentlich zu fragen, was es heiße. Das nächste, was ich las, war der Robinson, leider in einer der scheußlich, bis zur Sinnlosigkeit zusammengestrichenen, um den vollen Ernst der Erzählung verkürzten Ausgaben, die heute noch in Deutschland umlaufen. Rosa von Tannenberg und bald der ganze Christoph von Schmid folgten, Struwwelpeter fehlte nicht, doch die höchste Herrlichkeit brach erst an, als ein Hauslehrer zu uns zog, der Herr von Wolbach, der durch sein frisches, heiteres, zutrauliches Wesen sogleich mein Herz gewann und auch noch, welche Wonne! eine kleine Bibliothek besaß, mit sämtlichen Werken Kotzebues, die der Reihe nach mit Gier verschlungen wurden. Ich glaubte nun erst, wenn ich mir auch vieles darin noch kaum auszudeuten wußte, recht zu verstehen, wie's eigentlich in der Welt zugeht; und mein neuer junger Freund, der übrigens selbst noch in die Lehrerbildungsanstalt ging, und sein aufhorchender Adept, wir zwei schwelgten jetzt oft stundenlang in einer möglichst zynischen Weltverachtung. Ich beschloß, zum Theater zu gehen. Er riet mir ab, ich sei noch zu klein; er drohte sogar, mich dem Vater zu verraten. Als wir wieder einmal spazieren gingen, in der Gegend von Niedernhart, wo das Narrenhaus steht, lief ich ihm unversehens davon, um einfach durchzubrennen. Er setzte mir erschrocken nach und hatte, verzweifelnd, mich noch einzuholen, den guten Einfall, sich niederzuwerfen und ohnmächtig zu stellen. Da tat er mir doch leid, ich konnte ja den lieben Menschen nicht auf der Landstraße liegen lassen, ich kam zurück, da sprang er auf, packte mich und zog mich heim. Das war nicht schön von ihm; ich wäre sonst vielleicht ein großer Schauspieler geworden. Er verliebte sich dann in die Köchin und wurde mir deshalb auf Knall und Fall entrissen.

Ich war übrigens schon vorher einmal durchgebrannt; und auch damals, um zum Theater zu gehen. Das war in Kreuzen bei Grein an der Donau, einer Wasserheilanstalt, einem Weltkurort in den Augen der Linzer, denn es hieß, sogar Herrschaften aus Wien hätten schon dieses »florierende« Bad besucht. Die Wasser und Wiesen des stillen Ortes sollten das durch ein Wechselfieber geschwächte blasse Kind wieder stärken und bräunen. Ich erholte mich so rasch, daß die Mutter, allein mit mir, da den Vater sein Geschäft in der Stadt hielt, ihre liebe Not hatte, meinen Ungestüm zu bändigen, bis zum Glück eines Tages fahrende Komödianten kamen. Sie spielten im Schloßhof bei hellem Tage, »Freilichttheater« würde man heute sagen: ein paar Bretter mit Blumentöpfen um den Kasten des Einsagers, und Sonnenglanz in den rauschenden alten Wipfeln. Mäuschenstill saß da verzaubert der Knabe; das Märchenhafte des Theaters hab ich dann doch erst von der Duse wieder so gewaltig erlebt. Und sie waren kaum fort, da lief ich am anderen Morgen hin, um das gleich selber auch einmal zu probieren, trat vor und schoß herum, mächtig agierend und was mir halt grad einfiel, deklamierend. Ein kleines Mädel fand sich, das tat auch mit und bald kam groß und klein herbei, Zuschauer und Mitspieler; ich führte die Regie. Die Komödianten fuhren nur zweimal die Woche von Grein herauf, an den übrigen Tagen war der Kurgast auf uns angewiesen, und ich hatte den Ehrgeiz, darzutun, daß unsere Commedia dell' arte doch eigentlich höheren Ranges war als jenes auswendig gelernte Spiel; im Grunde war's der uralte geschichtliche, niemals ganz ausgetragene Wettkampf des Barocks mit dem »regelmäßigen« Stück: Hanswurst gegen den Herrn von Sonnenfels. Es fehlte mir nur in der Auswahl der Mitwirkenden an der nötigen Strenge, so ließ ich auch einen Buben zu, der mir eigentlich gleich verdächtig war, weil er den heiligen Ernst nicht hatte, sondern lieber Lazzi trieb. Nachdem ich dies einige Zeit mit schweigender Verachtung bestraft, solang ich noch an den edleren Geschmack des Publikums glauben konnte, mußte ich erleben, daß sich eines Tages Leute fanden, die seinen Lazzis noch applaudierten, ja sogar mehr als mir. Vor dieser Niedrigkeit riß mir die Geduld, ich sprang vor, warf dem Elenden einen Blumenstock an den Kopf, die anderen aber mitten in das Publikum hinein, das sich nicht entblödete, für ihn noch Partei zu nehmen. Die Blumenstöcke brachen, das Publikum zerstob, ich stand allein, mein Traum war aus, ich schwor fürs Leben dem Theaterteufel ab. Seitdem galt ich in Kreuzen als ein unmöglicher Bub und genoß zum erstenmal das beseligende Gefühl, von allen gemieden zu sein, outcast, outlaw; als ich später Byron las, da fand ich die Kreuzener Stimmung des Siebenjährigen wieder. Nur ein älterer Herr, schwindsüchtig, menschenscheu, wunderlich, ein einsamer Sonderling, nahm sich meiner an und ging stundenlang mit mir spazieren. Er bleibt mir unvergeßlich: es war der erste Mensch, der zu mir wie mit einem Erwachsenen sprach; die Bedingung des Vertrauens von Kindern ist, sie nicht als Kinder zu behandeln. Er war unglücklich, erzählte mir von seinen Enttäuschungen, warnte mich vor dem Trug des irdischen Daseins. An aller Gerechtigkeit, am Sinn des Lebens, selbst an Gott war er irre, er war ach! des Treibens müde geworden und staunte nur, daß diesen elenden Menschen in ihrer Niedertracht die Sonne noch immer scheinen mag und die Blumen blühen und die Vögel singen! Darüber besprach er sich ausführlich mit mir, als ob ich ihm hätte helfen, es ihm erklären hätte können. Der arme Mann hatte wohl nur das Bedürfnis nach einem Hörer für seinen Monolog. Ich bin ihm noch heute dafür dankbar, so stark hat in mir die Freude nachgewirkt, das Vertrauen eines Menschen zu haben. Erwachsene verderben sich's mit den Kindern, wenn sie meinen, sich erst geistig herabschrauben zu müssen zum Kinde, das doch meistens mehr Lebensernst, Lebenssinn, Lebensmut, vor allem aber ein viel reineres Verlangen nach Wahrheit hat, als wer schon nach Gewinn, Erfolg und Wirkung schielt. Ich hatte damals zum erstenmal das Gefühl, daß jemand ganz aufrichtig mit mir war. Ich war bisher nie den Verdacht losgeworden, daß man mir noch etwas verbarg, irgendein Geheimnis, das eigentlich die Hauptsache war. Auch meine Eltern wollten mir das nicht sagen und selbst, später, dem lieben Herrn von Wolbach fiel doch sichtlich immer zuweilen auf einmal wieder ein, daß er doch zu meiner Erziehung angestellt war; das kühlte mich etwas ab. Jener Sonderling aber verbarg mir nicht, daß das Leben gräßlich ist und der Mensch gemein. Das zu hören freute mich sehr. Der seltsame Mann wurde mir so gut, daß er sogar seine Menschenscheu so weit überwand, sich meiner Mutter vorstellen zu lassen, um ihr von mir vorzuschwärmen. Nach Jahren noch bekam ich das von ihr immer zu hören: »Ein einziger Mensch hat's bisher mit dir ausgehalten, und der war verrückt!«

Aber eines Tages saß an der Table d'hote mir ein neuer Gast gegenüber, eine junge Wienerin mit nußbraunen Locken. Da schlug mir das Herz bis in den Hals herauf, denn so was Wunderschönes hatt ich nie gesehen! Sie gefiel auch meiner Mutter, sie schloß sich ihr an und mein Entzücken läßt sich nicht sagen, als bald darauf ein Ausflug mit der Schönen verabredet ward. Ich konnte die Stunde kaum erwarten, ahnungslos, daß meine Mutter, um im Gespräch mit der neuen Freundin ungestört zu sein, zum Postmeister, dessen Sohn in meinen Jahren war, geschickt und diesen eingeladen hatte, mit von der Partie zu sein: die Buben gingen voraus, man konnte sich ungeniert alles anvertrauen. Lange vor der Stunde war ich ungeduldig schon unten, endlich erschien die Herrliche, doch auch der unerwartete Bub von der Post. Als ich, erst meinen Augen nicht trauend, zu begreifen begann, begriff, daß ich, statt an ihrer Seite, statt Hand in Hand mit ihr, vorausgehen sollte, begriff, daß ich als dummer Bub behandelt war, den man vorausgehen läßt, überwältigten mich Enttäuschung, Zorn und Beschämung so, daß ich mich unter gräßlichem Geheul zu Boden warf, mit Händen und Füßen um mich schlug und in sinnloser Wut den Kopf an die Steine stieß, bis mir die Sinne schwanden. Der Arzt wurde gerufen und verordnete das ständige Kreuzener Hausmittel: naß abgerieben und in eiskalte Tücher eingefatscht, war ich, bevor ich recht wieder zu mir kam, schon eingeschlafen. Dies ist mein erster großer Liebesschmerz gewesen.

Das Publikum zog meiner ernsten Kunst die blödesten Lazzi vor, die eigene Mutter verstand mich so wenig, daß sie mir zumuten konnte, mit dem Lackel von der Post vorauszugehen, die nußbraune Wienerin wich mir seitdem verlegen aus: mein Sonderling hatte sichtlich recht, aus Lug und Trug bestand die Welt. Ich beschloß, noch einen letzten Versuch mit ihr zu machen: zum Theater durchzugehen. Allein war mir aber der lange Weg nach Grein hinab doch zu fad. Die Tante Rosa, meines Vaters Schwester, war auch in Kreuzen, mit ihrem Viktor, einem gutmütigen, etwas ängstlichen Knaben von fünf Jahren. Ihn zwang ich durch schreckliche Drohungen mitzukommen. Wir waren schon fast unten in Grein, als uns ein Wagen mit dem Herrn von Nagl aus Linz, dem Kreuzen damals gehörte, entgegenkam. Herr von Nagl sieht die beiden kleinen Vagabunden, erkennt den Buben des Dr. Bahr, wundert sich, läßt den Wagen halten, verhört uns, ich werde frech, mein Cousin fängt zu weinen an und gesteht, Herr von Nagl lacht uns aus, packt uns auf und händigt mich zwei Stunden später meiner vor Angst schon ganz trostlosen Mutter ein.

Der Theaterteufel fiel mich noch jahrelang zu Zeiten immer wieder an. Mein Vater wußte sich keinen Rat. Sich den Sohn einst, statt in seiner Kanzlei, beim Theater zu denken, war wenig verlockend. Der Wunsch aber, gerecht zu sein, der Verdacht, Eigennutz möchte hier vielleicht das Urteil trüben, die Furcht, einen Menschen zu vergewaltigen, und gar noch das eigene Kind, verwehrten ihm, sich meiner Theaterlust zu widersetzen. Auch war er als Student ein Enthusiast des alten Burgtheaters gewesen und hat uns an langen Winterabenden vom Lear und Erbförster des alten, nur zur Freude der Hausmeister, denen das manchen Sperrsechser eingebracht hat, alles endlos ziehenden Anschütz, von Ludwig Löwes flackerndem Grafen von Meran, Fichtners wohllautendem Mercutio, Josef Wagners durchseeltem Hamlet, gar aber der unvergeßlich holden Bayer-Bürck herzstärkender Hero mit so treuer Dankbarkeit erzählt, daß mir heute noch ist, als wenn ich sie alle von Person gekannt haben müßte. Der Gedanke, sein Fleisch und Blut vielleicht, wer konnte das wissen, dereinst auf den Brettern des Burgtheaters zu sehen, mag ihn im stillen selber zuweilen berückt haben. Wenn einem aber nur irgendein Mensch mit Bestimmtheit hätte sagen können, ob denn der Bub auch wirklich Talent hat! Wer bildet sich das in diesen Jahren nicht ein? Und darum, als der Vater eines Tages erfuhr, Holtei sei angekommen, auf Besuch bei einem mit ihm verwandten Linzer Hofrat, entschloß er sich, hinzugehen, ihn um Rat zu fragen und zu bitten, ob er den Jüngling nicht prüfen wollte. Holtei, der Dichter der »Vagabunden« und von »Lorbeerbaum und Bettelstab«, der selber lange Direktor gewesen und ein berühmter Vortragskünstler war, war damals ein großer Mann in Theatersachen. Er hörte meinen Vater freundlich an, doch mich zu prüfen schlug er ab. »Wozu? Da gibt's ein viel richtigeres Mittel, um herauszubringen, ob er Talent hat. Ein unfehlbares Mittel! Drohen Sie dem jungen Manne mit dem väterlichen Fluch, mit Verstoßung und Enterbung, wenn er sich erfrecht, zum Theater zu gehen! Schwören Sie, daß er niemals das väterliche Haus mehr betreten, Ihnen niemals vor Augen kommen, sein Name vor Ihnen nicht mehr genannt werden darf, wenn er zum Theater geht! Macht das Eindruck auf ihn, gibt er nach und entsagt seiner Theaterlust, dann können Sie ganz ruhig sein, dann ist kein Schad um ihn. Denn wenn er auch nur einen Funken Talent hat, dann pfeift er auf Ihren väterlichen Fluch!« Mein Vater hat Holteis Rat nicht befolgt, er unterließ es, das Mittel zu versuchen. Er mochte denken, bei meinem Widerspruchsgeist könnte gerade der väterliche Fluch einen solchen Reiz für mich haben, daß ich nun erst recht zum Theater lief, auch ohne Talent. Er schlug mir einen Ausgleich vor: ich sollte Schauspieler werden, doch erst, nachdem ich die Matura gemacht.


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