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XX

Es war ein guter Instinkt, der mich auf der Flucht vor mir selbst gerade nach Paris gelenkt hatte. Denn ich kam dort zur entscheidenden Wendung zurecht: an seinem Geburtsort wurde der Geist des achtzehnten Jahrhunderts eben bestattet. »Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen«, hat Goethe vor Valmy verkündet. Nun war ich dabei, den Anfang vom Ende dieser Epoche zu sehen. In dem Jahrzehnt von 1885 bis 1895 fand Frankreich die Kraft, aus der Revolution wieder in seine Tradition heimzukehren. J'ai été converti par le dégoût de ce qui m'entourait, damit hat Huysmans das Erlebnis seiner ganzen Generation ausgesprochen. Auch Barrès nannte seine Gefährten une génération dégoûtée de beaucoup de choses, de tout peut-être, hors de jouer avec des idées. Dieser Ekel hatte sich schon in Balzac und in der Romantik zuweilen angekündigt, grimmiger noch in Baudelaire, Flaubert und den Goncourts, er kehrt dann in Péguy wieder, der von der bürgerlichen Gesellschaft, einer bloßen Erwerbsgesellschaft, sagt: Le monde moderne avilit, c'est sa spécialité. Jenes Jahrzehnt aber war der Auftakt zur entschlossenen Abkehr vom »Zeitalter der Vernunft«, dessen, wenn auch ungebärdiges Kind die Romantik immer noch geblieben war. Jetzt rief Brunetière den Bankerott der Wissenschaft aus und der junge Barrès, eben dem Lycée von Nancy und dem entwurzelnden Intellektualismus Burdeaus entronnen, zog aus den Erfahrungen seiner Jugend den trostlosen Schluß: Notre morale, notre religion, notre sentiment des nationalités sont choses écroulées, auxquelles nous ne pouvons emprunter de règles de vie et en attendant que nos maîtres nous aient refait des certitudes, il convient que nous nous en tenions à la seule réalité, au Moi. Sein Landsmann und Schulkamerad, Stanislaus de Guaita, von alter mit den Brentanos verschwägerter Familie, schloß sich den Rosenkreuzern an, dem Studium der Sciences maudites ergeben, Huysmans, der eben A rebours ein Handbuch des Dilettantismus verfaßt hatte, griff in Là-bas nun auch den Satanismus auf, bevor er in En route auf den Weg der Erlösung kam, les grands initiés Eduard Schurés und die Zauberbücher des Papus erschienen, der Magier Sar Peladan trug seinen assyrisch schwarzen Lockenkopf auf den Boulevards zur Schau, jeder Student spielte sich vor seiner Grisette parazelsisch auf, im Ernst oder im halben Spaß ging eine bange Sehnsucht überall vers des au – dela mystiques und als ein Jahr, nachdem ich Paris verlassen hatte, der junge Willibrord Verkade dort ankam, fand er auch die Maler um Gauguin und Maurice Denis, den Kreis der Nabis, schon durchaus von Ahnungen einer höheren Welt und dem Verlangen, ja fast von einer Art von Lüsternheit nach ihr beherrscht. Un naturalisme tout à fait supra war zum Schlagwort geworden. Am ersten Weihnachtstag 1886 stand, achtzehnjährig, ein Dichter, glaubensfremd aufgewachsen, entré dans la vie un baiser de Renan sur le front, bisher Lartpourlartist aus der Schule Mallarmés, beim Hochamt in Notre Dame, gedankenlos an eine Säule gelehnt, als er sich unversehens von Gott ergriffen fühlte: c'est alors, erzählt Claudel selbst, que se produisit l'événement qui domine toute ma vie. En un instant, mon cœur fut touché et je crus. Ich aber bot noch alles auf, um Gott auszuweichen, und bog vor ihm in einen Götzendienst der großen Form ab. An ihr schien mir der archimedische Stand gewonnen, von dem aus ich nun die Welt bewegen zu können meinte. Wie den jungen Malern damals der Augenschein, eben indem er vorbeihuscht, als das Wesen selber galt, waren mir die Dinge bloße Schatten, aber aus ihrem Widerklang in den Worten sprach mir die Wahrheit. Ich empfand die Welt als eine große Sinnestäuschung, auf die das Auge wie das Ohr des Menschen aber tief aus sich heraus antwortet; und in diesen Antworten der Ewigkeit liegt erst der Sinn der Erscheinungen. So wunderlich idealistisch war mein Impressionismus gesprenkelt. Ein wildes Schauspiel, das ich damals schrieb, »Die große Sünde«, ist noch ein seltsames Amalgam von Nachklängen meiner Berliner Zeit mit Wortschwallen der Pariser Berauschung. Aber mein erster Roman, »Die gute Schule«, noch in Paris entworfen, auf meiner Fahrt durch Spanien geschrieben, dann in Brahms Wochenschrift »Die freie Bühne«, aus der allmählich S. Fischers »Neue Rundschau« erwuchs, abgedruckt, spiegelt den Pariser Augenblick meiner Entwicklung; es gelang mir später nie wieder, mich so ganz in ein Werk auszuschütten und mit allen Lüsten und Launen, von denen mein Geist besessen war, so rein darin aufzugehen, so daß ich sie durch dieses Purgativ nun dann aber auch ein für alle Mal los war. Indem ich mein Spiegelbild zurückließ, entkam, was in mir mein Selbst war.

»Ernst ist das Leben, heiter ist die Kunst,« das Schillerwort kehrte sich in meinem Mund jetzt um: nur die Kunst nahm ich ernst, das Leben schien mir höchstens zum Spaße gerade noch gut genug. Wahrheit, unmittelbar nicht zugänglich, gab sich allein durch die Form kund; am farbigen Abglanz, am tönenden Nachklang haben wir ihr Gleichnis: woran sie erscheint oder erschallt, schien mir gleichgültig. Meiner Anbetung der Form wurde jeder Gehalt verächtlich; er war immer nur Brennholz fürs Feuer, aus dem die Flamme der Form schlug, von ihm blieb Asche. Wie Maler, durch ein Bild so bezaubert, daß ihnen nach Jahren noch jeder Zoll davon unvergeßlich ist, doch oft auf die Frage, was es denn aber eigentlich darstelle, nicht antworten können, weil ihnen die Malerei daran zu viel gegeben hat, um sich erst auch noch um das Gemalte zu kümmern, stand ich vor Dichtungen damals so stark im Bann der Fülle, der Kraft und der Klarheit ihres Ausdruckes, daß mir nicht eingefallen wäre zu bemerken, was denn aber eigentlich da so voll, so stark und so klar ausgedrückt war. Ich übertrieb damit nur eine notwendige Selbstkorrektur: ich war von klein auf angehalten worden, in jedem Gedicht, jedem Bild, eigentlich fast schon auch in jedem Lied gleich nach einer »Idee« zu suchen, alles galt nur so viel, als es zu »bedeuten« hatte, und wenn ich jetzt erst erkannte, daß eines Kunstwerks Idee nirgends liegen kann als in seinem εἰδος, in seiner Gestalt (wie kunstbewußt ist doch die griechische Sprache selber schon!), so war mir dadurch zwar künstlerisch erst der Star gestochen, nun aber fiel ich dafür in den umgekehrten Irrtum, als wenn Form ein Handschuh wäre, der allen passen muß. Daß in der Kunst der Handschuh nicht über die Hand gezogen wird, sondern aus der Hand selber wächst, daß erst, wenn ἰδέα und εἰδος, einander als Geschwister erkennend, sich in die Arme sinken, ein echtes Kunstwerk entsteht, daß man es eben an dem völligen Wertausgleich von Form und Gehalt erkennt, ließ ich mir noch in meiner Formseligkeit nicht träumen. Ich hätte mich ja dann, wie zwischen Schön und Häßlich, auch zwischen Gut und Böse entscheiden, auch eine sittliche Wertordnung anerkennen müssen. Ihr war ich ja tatsächlich gehorsam: ich stahl nicht, tötete nicht, log nicht, weil es mein Gewissen nicht zuließ, aber ich erklärte mir dieses Gewissen als eine Frucht sozialer Anzüchtung seit Jahrhunderten. Während mir mein Formgefühl der Ausdruck einer übersinnlichen Wirklichkeit schien, hielt ich mein Gewissen für nichts als ein Erbstück von Polizeivorschriften. Einen Satz falsch zu bauen war erlaubt, man wurde dafür nicht bestraft, aber es blieb mir dennoch, selbst wenn ich es gewollt hätte, unmöglich, weil ich einfach nicht konnte, die Stimme der inneren Abmahnung war zu stark: dies schien mir zu beweisen, daß die Schönheit in einem höheren Schutz steht. Dagegen vermutete ich, daß, wenn morgen durch Kammerbeschluß das Verbot zu stehlen aufgehoben würde, mir zwar wahrscheinlich in der ersten Zeit auch zunächst aus alter Gewohnheit beim Stehlen noch etwas wunderlich zumute wäre, doch ich konnte mir denken, daß ich dieses Widerstreben allmählich überwinden lernte, während ich mir durchaus nicht denken konnte, das Widerstreben gegen eine falsche Sprachwendung, gegen einen schludernden Satz jemals überwinden zu können, selbst dann nicht, wenn richtige Sprachwendungen und aufrechte Sätze bei Leibesstrafe verboten wären. Schönes und Gutes schienen mir verschiedenen Ebenen anzugehören und so fand ich den Gehalt nicht bloß gleichgültig für das Kunstwerk, sondern je geringer er war, nur desto willkommener dem Künstler, der eben daran dann erst die Zaubermacht der Schönheit ganz entfalten kann. Das war nach zehn Jahren noch mein täglicher Streit mit Max Burckhard, der wieder umgekehrt in jeder Schönheit nur eine verkleidete Sittlichkeit sehen wollte.

Doch der Gehalt schien mir nicht bloß künstlerisch gleichgültig, sondern mir war jeder Gehalt, auch ein unsittlicher, schon deswegen willkommen, weil ich ja zum Bejahen geboren bin. Ich kann mit Leibniz sagen: Je n'ai pas l'esprit désapprobateur. Alles Lebendige, jede Gestalt, alles Dasein hat für mich einen solchen Reiz, daß ich vor Freude dann kaum dazu komme, nun noch erst zu fragen, was es wert und ob es nicht schädlich oder gar schändlich ist. Auch auf den häßlichsten Geschöpfen, auf dem scheußlichsten Getier liegt, blickt man nur erst näher hin, noch irgendein letzter Strahl von Schönheit. Es ist mir, als hätte sich mit dem verwiesenen Adam ein barmherziger Abglanz aus dem Paradies in die gefallene Welt gestohlen. Wir sehen einander nur nicht genau genug an, sonst wären wir alle in einander verliebt. Ich vermag auch heute noch als alter Mann des unendlichen Erstaunens darüber, daß der Mensch zugleich so schön, aber dennoch auch so böse sein kann, nicht immer ganz Herr zu werden. Niemals aber wirkt dieser Zauber der verruchten Erdenwelt mächtiger auf mich ein, als wenn ich gar den Menschengeist an der Arbeit belausche. Die geistigen Verrichtungen der einfachsten Art, daß ein Kind Ich und Du scheiden, daß es die Begriffe von Subjekt und Prädikat fassen, daß es schließen lernt, die geheimen Kräfte, die den Menschen ermächtigen, in der wilden Flucht der über ihn weg stürzenden Erscheinungen aufrecht zu stehen, sind mir Wunder, die mich täglich wieder von neuem mit Andacht erfüllen, mit Andacht vor dem Geiste, der selbst im Mißbrauch, wenn er irrt, sogar wenn er fälscht, wenn er trügt, noch den Adel seiner Bestimmung niemals ganz verleugnen kann. Auch heute noch bezaubert Geist an sich mich so, daß ich mich dann immer erst besinnen muß, um auch seine Qualität zu gewahren. In der διάχριδις πνευμάτων bin ich schwach; der Reiz, den aller Geist an sich ausströmt, verblendet mich zu leicht.

Tief bei mir gewiß, an der Form eine Gewähr des Jenseits, ja, schon eine geheime Verbindung mit ihm, fast eine Berührung davon zu haben, ließ ich also den Gehalt damals nur nach seiner Kraft, Reiz auszustrahlen, gelten; es war ein Versuch, den Gehalt selber noch auch wieder in Form zu verwandeln. Ja noch mehr: auch aus der Form wurde mir allmählich immer mehr ein bloßes Reizmittel; die Schlange meiner Ästhetik rollte sich so zusammen, daß sie sich vom Schwanze her langsam selber fraß und zuletzt in den eigenen Kopf biß. Kunst war mir am Ende nichts mehr als Suggestion von Sensationen. Um eben diese Zeit machte mich ein Kamerad mit dem Gebrauch von Kokain bekannt. Ich erfuhr, daß, was ich von der Kunst empfing, eigentlich durch Kokain viel weniger umständlich zu haben war. Ein Glück noch, daß es so teuer war und ich spottarm!

Auf alles, auf mein neues Verhältnis zur Kunst, auf meine Vorliebe fürs Artistische, ja fürs Artifizielle nicht bloß in der Kunst, sondern als Lebensstil, hat damals Huyjsmans stark eingewirkt durch »A rebours«. Dieser Roman war schon 1884 erschienen und, als ich in Paris ankam, indessen ein Brevier der suchenden Jugend geworden. Man fing damals an, alles achselzuckend als fin de siècle zu entschuldigen. Dieses furchtbare Buch war wirklich ein Ende. Es schloß das Jahrhundert ab, das mit dem Abfall des französischen Geistes von sich selber, mit der großen Revolution begonnen hatte. Huysmans selbst hat es einen Hilferuf genannt und der alte, katholisch tiefsichtige Barbey d'Aurévilly schrieb sogleich, der Verfasser eines solchen Buches hätte nur noch die Wahl zwischen der Mündung einer Pistole und den Füßen des Kreuzes; Huysmans brauchte noch elf Jahre, bis er sich für das Kreuz entschied. Aber im Gesichte Frankreichs sind die Züge dieses Romans heute noch unverwischt. Denn was Huysmans als sein persönliches Problem erkannte: die Lösung aus seiner unreinen Schale, war auch die Lebensfrage Frankreichs selbst. Noch in dem leidigen Dreyfushandel ging es im Grunde doch allein um sie, nicht um den armen unschuldigen Hauptmann (das Problem war, ob die Gemeinschaft zur Aufopferung eines Einzelnen berechtigt ist: das alte Problem der Ketzerverfolgungen, an das sich nur wagen darf, wer bei vollem Einsatz des Gewissens selbst die Gefahr eigener Verschuldung, um ein höheres Gut, das er bedroht meint, zu schützen, wissentlich und willentlich auf sich nimmt). Noch näher als Huysmans aber ging mir Maurice Barrès, kein Dichter meiner Generation hat so tief auf mich gewirkt; und immer wieder, zwanzig Jahre lang. Zunächst befremdete mich fast, wie deutsch dieser Lothringer war, goethedeutsch. Er ist es im Grunde geblieben. Noch in »Voyage de Sparte« bekennt er selbst: La destinée qui oppose mon pays à l'Allemagne n'a pourtant pas permis que je demeurasse insensible à l'horizon d'outre – Rhin: j'aime la Grecque germanisée. Und nun folgen unvergeßliche Seiten, Iphigenien gewidmet, die er une œuvre palladienne und une pièce civilisatrice nennt, von Goethe rühmend: Il nous ouvre mieux qu'aucun maître la voie du grand art, en nous montrant que, pour produire une plus belle beauté, le secret, c'est de perfectionner notre âme. Auch auf dieser griechischen Reise horcht er nur immer allen Erscheinungen ab, quel bénéfice moral daraus zu ziehen wäre, noch immer derselbe Egotiste, der er schon damals war, da dem jungen Boulangisten die Spötter nachsagten, er frühstücke mit Stendhal und soupiere mit dem heiligen Ignatius; die Pariser wußten nicht, daß er heimlich gern auch bei Fichte noch zu Gast war. 1883 gab er, eben zwanzig vorbei, frisch aus seiner Provinz eingeschifft, die »Taches d'encre« heraus, eine kleine Revue, deren lässiger Hochmut, schulmeisterlich und weltmännisch zugleich, préoccupé de la vie intérieure, in seiner recherche des sensations exquises et profondes, in seiner hoffärtigen Ablehnung des Banalen, in seinem Verlangen nach Weltweite (à l'âme française substituer l'âme européenne stand auch auf dem Programm) den Leser neugierig fragen ließ, wer und was denn in diesem aus einem Anarchisten und einem Dekadenten wunderlich zusammengebrauten dandy des lettres eigentlich stäke. Sous l'œil des barbares, der erste von den vier Romanen der Culture de Moi, gab Antwort darauf, aus der man aber noch weniger klug wurde, da doch zur selben Zeit, der eben noch von einer existence comme un rêve leger geträumt hatte, inzwischen Boulangist und in Nancy zum Abgeordneten gewählt worden war. Mir freilich war das alles so selbstverständlich, ich fühlte den inneren Zusammenhang so stark, mir war Barrès, noch bevor ich ihn in Person kennenlernte, gleich so vertraut, wirklich fast als war's ein Zwillingsgeist von mir. Alle Stichworte meines inneren Lebens fand ich bei ihm und wenn ich ihn las, war's ein Selbstgespräch. Gerade das alles, wodurch ich bisher vereinsamt, wodurch ich auch meinen Freunden selbst fremd, wodurch ich allen ein Sonderling blieb, er sprach es aus, und klarer, anmutiger und klüger, als ich in meiner Ungenügsamkeit, der kein Ausdruck stark genug war, so daß ich mich immer gleich überschrie, jemals vermocht hätte. J'ai youIu rien nier, être comme la nature qui accepte tous les contrastes pour en faire une noble et féconde unité: besser hätt ich meinen Geistesdrang niemals aussprechen können. Und wenn er dann klagte: ne pouvoir se donner un moi nouveau qu'en tuant le moi de la veille, so war das auch wieder nur derselbe Zwang zur unablässigen Selbstüberwindung eben aus Selbstbehauptung, an dem ich doch von Kind auf litt! Und auch ich hielt mich nur aufrecht durch eine geheime Versicherung im Gemüt, teilzuhaben du même rhythme que l'univers. Unvergeßlich ist mir die Nacht in meiner kalten Dachwohnung auf dem Boul Mich, als ich zum erstenmal Barrès las, immer wieder aufschreiend vor geistiger Lust, mich so bestätigt zu hören, und auflachend vor Verwunderung, woher denn der auf einmal das auch wüßte, was ganz allein auf der ganzen Welt zu wissen ich mir bisher eingebildet hatte, doch freilich mir kleinlaut eingestehend, daß ich es auf eine so strenge Formel zu bringen niemals die Kraft und Klarheit gehabt hätte.

Aber nach Jahren hat Barrès noch ein zweites Mal auf mich entscheidend eingewirkt: durch seine Wendung zum Regionalismus. Sie half auch mir, mich auf Österreich besinnen, auf mein Vaterland, à l'arbre dont je suis une des feuilles. Es war der erste zagende Schritt zur Besinnung auf den Weinstock, an dem ich die Rebe bin.

Wie Barrès ging nun auch ich mit Leidenschaft darauf aus, me donner mille âmes successives. In jeder Landschaft, in jedem Antlitz, jedem Bau, Bild oder Buch boten sie sich mir an. Und je fremder sie mir waren, desto willkommener, denn um, so mehr bereicherten, bevölkerten sie mich. Ich ward ganz unkritisch und gerade dadurch ein Kritiker von besonderer Eigenart. Als Motto steht vor meinen »Studien zur Kritik der Moderne« der Vers des jungen Hofmannsthal:

»Von meiner Tür ist keiner noch gegangen,
Der nicht Verständnis wenigstens empfangen.«

Den Künstler und seine Kunst verstehen, mich einfühlen, ihm nachfühlen zu lernen schien mir wichtiger als die Frage nach seinem Wert oder ob er mir gefiel. Nietzsche wünschte sich ein »Selbst, welches durch viele Individuen wie durch seine Augen und wie mit seinen Händen greifen möchte … Oh daß ich in hundert Wesen wiedergeboren würde!« Der Versuch einer solchen Wiedergeburt im Wesen eines jeden Künstlers, an dessen Werk ich geriet, war meine Kritik. Und ich war immer aufs neue verblüfft, wenn ich dann immer wieder vorgeworfen bekam, ich hätte schon wieder einen neuen Dichter entdeckt, erfunden und ausposaunt (besonders die von mir die Woche zuvor Entdeckten konnten mir das gar nicht verzeihen!). Mir fiel ja gar nicht ein, sie zu rühmen, ich fühlte mich gar nicht zum »Urteil« berufen. Barrès empfand sich als un instant d'une chose immortelle. Mir aber galt das nicht bloß von ihm, ich empfand es an allen. Und an jedem nun die chose immortelle, deren instant er war, aufzuspüren schien mir mein kritisches Amt. Daß jeder, auch der höchste, doch immer nur ein instant davon, ein gleich wieder verlöschendes Aufflackern ist, war mir so selbstverständlich, daß es mich gelangweilt hätte, dies meinen Lesern erst noch ausdrücklich immer wieder zu versichern. Die Franzosen hatten sich das längst abgewöhnt, schon seit Sainte Beuve gab es ihre Kritik auf, den Staatsanwalt zu spielen. Dann empfing sie von Taines »Histoire de la littérature anglaise« das große Beispiel; auch Bourget hat als Kritiker immer den historien de la vie morale angestrebt. Und am Ende sprach Anatole France, in seiner radikalen Skepsis auch noch am Zweifel selbst zweifelnd (j'ai eu peur de ces deux mots d'une stérilité formidable: je doute), einer noch nachdrücklicheren Demütigung der Kritik das Wort: Le bon critique est celui qui raconte les aventures de son âme au milieu des chefs d'œuvre … Pour être franc, le critique devrait dire: Messieurs, je vais parier de moi à propos de Shakespeare, à propos de Racine ou de Pascal ou de Goethe. C'est une assez belle occasion. So trieb auch ich dann zwanzig Jahre lang Kritik, vielen helfend und keinem zum Schaden als mir selber.

Schon jenes Schauspiel von den »neuen Menschen« das mir in Berlin gleichsam diktiert worden war, verzweifelte an der Erneuerung der Menschheit, solange sie nicht den alten Adam in der eigenen Brust überwunden hätte. Damit war ich allen Marxismus eigentlich schon los, eben in dieser Gebundenheit an unseren Herzschlag war doch die innere Freiheit des Menschen wieder anerkannt, Schicksal des Einzelnen wie der Gemeinschaften, war aus den Dingen weg wieder in den Geist gesetzt. Jetzt wurde mir das von Paris bestätigt, der Stadt, der, wie keiner anderen in der Welt, alles zu Geist wird, in der alles Sinnliche, ja das Laster selbst in Geist verdampft, die zuletzt sogar den Geist selber noch einmal vergeistigt, bis aller Gehalt in ihm aufgezehrt und nichts von ihm als seine Selbstbewegung, sein eigenes Kreisen um sich, der Genuß seines Schwebens übrig ist. Einen Pilgrim nach Erkenntnis und ein bißchen Glück nannte sich Strindberg, aber dem französischen Geist ist es gar nicht um Erkenntnis, sondern ums Pilgern selber zu tun, eben im Sport seiner Pilgerschaft schon findet er das Glück. Si je ne vois pas clair, tout mon monde est anéanti, sagt Stendhal und spricht damit das auf Ordnung und Ansicht mehr als auf Kenntnis und Einsicht dringende Wesen des Lateiners aus, den die Lust an der bloßen Operation des Klarsehens schon so beseligt, daß ihm gar nicht einfällt, dann erst auch noch lange nach der Bedeutung des Gesichts zu fragen. Der Geist des Franzosen will an den Erscheinungen nicht sie, sondern sich erleben. Das erklärt auch, warum Franzosen und Deutsche sich miteinander geistig nicht verständigen können: dem Deutschen ist der Geist ein Mittel, dem Franzosen ist er der Zweck selbst. Und ich bin doch meinem Schicksal sehr dankbar, daß es mich das Bedürfnis nach Klarsicht kennen lehrte. Sie half mir einen dunklen Drang ins Ungestalte, der tief in mir lauert, half mir den heimlichen Russen in meinem Gemüt überwinden oder wenigstens beschwichtigen. Das Pariser Jahr gab mir meine Form.

Doch ich lebte ja keineswegs bloß dem Geiste. Damals gab es noch Reste der echten Bohème, wenn auch nur mehr sozusagen als Schattenspiel Murgers. Und in der Rue Victor Massé suchte Rodolphe Salis, blond gelockt, Maler, Bildhauer, Dichter und Indienfahrer in einer Person, in seinem Chat noir einen letzten Ausklang alter gallischer Fröhlichkeit aufzufangen, die drüben auf dem Boulevard Rochechouart im Cabaret du Mirliton bei dem tollen Aristide Bruant schon etwas nach Unzucht und Blutlust roch. Aber was man Laster nennt, lernt ich doch erst im Sommer während der Ausstellung kennen, bei Besuchen von Daheim, deren erste Frage ja stets nach jenen Schändlichkeiten ging, über die sie sich, heimgekehrt, dann noch den ganzen nächsten Winter hindurch entrüsteten. Pariser Laster war damals hauptsächlich Fremdenindustrie. Auch Oswald Alving bestätigt das schon.

Das Schönste blieb mir immer die Stadt selber mit ihrer Luft, dieser Champagnerluft, durch die man in eine so merkwürdig glänzende, tänzelnde, ganz helle, fast gereizte, übernächtig wache Trunkenheit gerät und meint, im nächsten Augenblick fliegen zu können, fliegen zu müssen. Gern stand ich dann abends an der Seine, nichts mehr wissend als die Wonne, auf der Welt zu sein. Und da stand nun eines Abends auf einmal im Sonnenuntergang ein kleines Fräulein neben mir. Sie kam aus ihrem Geschäft und freute sich auch, daß das Leben so schön war. Es wäre noch schöner gewesen ohne die böse Tante, bei der sie lebte. Zum Trost über diese Tante, die wirklich ein unangenehmes Geschöpf gewesen sein muß, gingen wir am nächsten Sonntag nach Saint Cloud. Auch zu den Bauchtänzerinnen in der Rue du Caire der Ausstellung gingen wir einmal. Bald gingen wir täglich miteinander. Bis es denn eines Morgens bei mir klopfte und auf mein verschlafen erschrecktes »Herein!« die kleine Nini höchstselbst in der Türe stand, ein winziges Köfferchen in der Hand: »Weißt,« sagte sie, »ich habe die Tante verlassen und bleibe lieber bei dir, die Tante ist zu gräßlich.« Etwas eng war's, aber so schön, daß ich nach drei Monaten begriff, nur Flucht könnte mich retten, ich käme sonst von Paris mein Lebtag nicht wieder los! Kainz sagte, viele Jahre später, melancholisch zu mir: Du gehörst eben auch zu den Männern, die dann immer gleich heiraten müssen! Ich war damals so nahe daran, daß ich eilig nach Spanien entfloh; wir weinten beide bitterlich beim Abschied auf der Gare d'Orléans.


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