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XXII

Es war ein anderes Berlin als das ich vor drei Jahren verlassen hatte. März 1888 war der alte Wilhelm gestorben, drei Monate darauf Kaiser Friedrich und am 20. März 1890 hatte der neue Herr den lästigen Bismarck fortgeschickt; auch gute Preußen, selbst der alte Fontane, fanden das ganz natürlich, der Alte war schon etwas klapprig geworden, er hatte, sagten sie, den Atem für das neue Tempo nicht mehr, nun hieß es früh aufstehen. Als ich im Anhalter Bahnhof ausstieg, war mir doch etwas wunderlich zumut: Berlin ohne Bismarck, Deutschland ohne Bismarck! Aber wenn ich in den ersten Tagen mir von dieser Verwunderung was merken ließ, verstand mich niemand. Bismarck? Ja seiner Zeit ganz tüchtig! Hat's übrigens in seinem Sachsenwald dafür ja doch auch ganz schön, was will er denn noch? Jetzt gilt's andere Dinge, dafür reicht der alte Kopf nicht mehr. Jetzt heißt's: Weltgeschäft, aufs Meer hinaus, überall Deutschland voran! Es ist seine Schöpfung, jetzt wollen aber wir dafür sorgen, daß sie sich auch rentiert. Dafür hat dem Alten stets der Sinn gefehlt. Er ist im Grund doch immer der Krautjunker geblieben, für die neuen Bedürfnisse reicht's nicht mehr, der neue Prinzipal hat ganz recht. Ein bißchen unsanft? Aber freundliche Winke wollte doch der alte Kleber ja nicht verstehn. Mit Sentimentalität ist Politik mal nicht zu machen. Ein Glück, daß der junge Mann das begriff! Nun will eben er dran, nun wollen wir dran, laßt uns bloß erst mal zehn Jahre machen, und die Welt soll anders aussehn! Von allen Seiten bekam ich das zu hören. Es war mit Bismarck einfach nicht mehr gegangen, er stand überall im Wege; gewiß ein Genie, aber das sich eben überlebt hatte. Jetzt war ein anderes Deutschland obenauf, das wollte von der Reichsgründung auch was haben, das wollte sie sich nun endlich einkassieren, bar auf den Tisch! Und alle stimmten dem jungen Mann zu, der das zur rechten Zeit begriffen hatte. Ganz Berlin, ja ganz Deutschland war in Hausse. Ich erkannte die Stadt, erkannte das Land kaum wieder. Auch schon äußerlich schien alles anders: es war alles tiptop geworden. Mir waschlappigem Österreicher wurde ganz bang, ich ganz allein trauerte dem alten Berlin nach, dem Berlin E. T. A. Hoffmanns, Schinkels und der Königin Luise. Man lachte mich aus. Romantik? Nee! Wir wollen die Welt erneun. Ich stand ganz verdutzt vor so viel Wagemut. Aber als ich dann der Erneuerung zusah, mich rings umsah, da war ich es, der lachen mußte, über sie. Denn jedenfalls in der Abteilung des Geschäfts, in der ich sachverständig war, in der literarischen, fingen sie's komisch genug an.

Berlin war auf einmal »literarisch« geworden, es fieberte von Literatur, fieberte für neueste, um jeden Preis allerneueste Literatur. Aber was ihnen für das Allerneueste galt, war jener Naturalismus von der plattesten, dem Buchstaben öder Wirklichkeit gläubigen Art, der im Westen inzwischen längst schon wieder beim alten Eisen lag. Und ich, so gierig nach auserlesenen Sensationen, so stolz auf meine Nervenkunst, fand mich unter Leuten, die Nerven überhaupt nicht kannten, ja die sich geschämt hätten und erschrocken wären, Nerven zu haben. Ich machte kein Hehl daraus: mein Sitz im Café Kaiserhof, das damals die Hochburg der schönen Geister Berlins war, ward der Stammtisch zur »Überwindung des Naturalismus«. Spöttern hieß ich seitdem »der Überwinder« schlechthin, und ich ward von Harden, der um dieselbe Zeit begann, der »Mann von übermorgen«, von Ola Hansson »Proteus« getauft, während mich ein junger Frechdachs im Berliner Tageblatt, ärgerlich über meine Lust, immer wieder neue Dichter einzuführen, zum »Portier« der Literatur ernannte, zum Portier, der vor jedem Gast beim Eintritt den Dreispitz schwenkt, selber aber nicht ins Haus der Literatur darf; der angenehme Frechdachs ist mir später ein lieber Freund geworden, er hieß Theodor Wolff.

Ich hatte später nie wieder das Gefühl, berühmt zu sein (in Wien besteht dies doch überhaupt nur darin allein, daß jedermann das Recht zu haben meint, sich an einem den Ärmel abzuwischen). Damals in Berlin war ich es; und ich blieb's sogar acht oder neun Monate lang. Bei Fischer erschien mein Roman, von Brahm mit den Worten angekündigt: »Ein Roman wie ›Die gute Schule‹ ist in Deutschland noch nicht geschrieben worden«; und einen »grünen Heinrich fin de siècle« hieß er ihn. Der Ruhm wuchs, als eine Sammlung dreister Erzählungen, »Fin de siècle«, frech boulevardierend, »polizeilich beschlagnahmt« wurde (so gründlich, daß ich selber kein Exemplar davon habe und seit Jahren vergeblich nach einem fahnde; ich wäre neugierig, es heute zu lesen). Mein Trumpf aber war »Die Mutter«, ein rein artistisch gemeintes Werk, zum Trutz, als Insulte des platten kleinbürgerlichen Stubennaturalismus, abgründig gemein, aber fast groß in der Steigerung seiner Gemeinheit. Eine Berliner Bühne hatte jüngst den freundlichen Einfall, es jetzt zu Ehren meines sechzigsten Geburtstags aufführen zu wollen. Ich mußte dies dankend ablehnen. Aber ich möchte dieses empörend widerwärtige Geschöpf umnachteter Stunden dennoch unter meinen Schriften nicht missen. Es ist ein, wenn auch abscheuliches, Zeugnis meines Triebs, in allem, was ich einmal begann, bis zum Äußersten zu gehen; was ich bin, ganz zu sein, und wär's bis zur Selbstvernichtung, davon kann und will ich nicht lassen. Nur dieser Entschiedenheit, was ich bin, dann auch mit allen seinen Folgen sein zu müssen, durchaus sein zu müssen, bis ins Extrem sein zu müssen, verdank ich, wie die schlimmsten Versuchungen meines immer wieder gefährdeten, immer wieder vom geistigen Tod bedrohten Daseins, so doch auch meine Rettung: es gibt keinen Teufel, dem ich mich nicht ergab, so sehr, daß mich zuletzt dann doch immer der Ekel ihm wieder entriß, es gibt kein Geistesgift, das ich nicht in solchen Dosen nahm, daß ich es widerspie. Noch als ich schon vor Gott nicht mehr entfliehen konnte, war's auch wieder nur dieser eingeborene Radikalismus meiner Natur, der mich davor bewahrt hat, in der Duselei irgendeines vielgöttisch schwärmenden Waldundwiesenmonismus heuverschnupft stecken zu bleiben, es war wieder mein Radikalismus, der sich mit keinem Ungefähr einer angeträumten Gottesnähe betäuben, der mir keine Ruhe ließ, bis ich, unfähig, mich, wie viele jetzt, mit halben Ahnungen trügerisch abzufinden, ruhelos im Ungewissen durchgedrungen war, aus dem blauen Dunst in selige Klarheit, Klarheit, Klarheit!

Eigentlich hat mich damals in Berlin nur einer verstanden: Brahm. Und gerade mit ihm verstand ich mich gar nicht. Er, ein Meister im Zuhören, gab mir im stillen recht, wenn ich immer wieder von der Überwindung des Naturalismus sprach; auch er sah sie voraus: für morgen. Nur hielt ihn, den nach unmittelbarer Einwirkung auf die Zeit drängenden Mann der geistigen Tat, dies nicht ab, heute das Heutige zu tun. Ihn belustigte mein prophetisches Gemüt, doch er ließ sich dadurch in der »Forderung des Tages« nicht stören; dies verdroß mich. Auch war und blieb er gewohnt, lieber immer etwas weniger zu sagen, als er dachte, während ich mich bei gutem Wind gern dem Wellenspiel des Gesprächs überlasse, lachend, wenn man dann meint, mich auf eine der Wogen festnageln zu können. Nach Jahren erst ging mir der Reiz seiner aus tiefem Versteck hervorblinzelnden gütigen Anmut auf, in der sich reinste Menschlichkeit mit der strengsten Treue zur Sache verband, beide vom Schalk beherrscht. Wir waren, um uns gleich verständigen zu können, einander zu nahe verwandt, denn auch mich hält eine quälende Scham ab, Gefühl zu zeigen. Wen ich liebe, muß ich verspotten können und, selber Spott von jedermann ertragend, ja gern herausfordernd, bin ich empfindlich nur gegen Spötter, die mir lieb sind. Gerade weil ich Brahms inneren Wert von Anfang witterte, war mir die Kaltschnäuzigkeit unerträglich, in der er sich verbarg, und ihm wieder ging mein stürmisches, oft auch bloß sehr windiges Wesen auf die Nerven. Später, als wir uns sachte, wenn auch widerstrebend, besser kennenlernten, konnten wir uns einer Neigung nicht erwehren, die so zunahm, daß sie zuletzt in guten Augenblicken fast nach Freundschaft aussah. Damals aber war noch von Paris her mein Bedürfnis nach formaler Entschiedenheit klarer Verhältnisse zu den Menschen zu stark, als daß ich abwarten hätte können. Wer mir nicht an den Hals flog, auf den ward lieber von vornherein verzichtet. Brahm hatte sehr viel Geduld mit mir, ich gar keine mit ihm, nach kaum einem halben Jahr war's so weit, daß wir uns nicht mehr grüßten und ich, samt dem immer treuen Kameraden Arno Holz, aus der Freien Bühne mit Getöse schied, den wägenden Brahm am ängstlich klopfenden Herzen Fischers zurücklassend.

Fischer hatte jung in der Friedrichstraße einen kleinen Buchladen aufgetan, mit Büchern im Schaufenster, die man sonst noch nirgends zu sehen bekam, Büchern von solchen unbekannten Größen wie Ibsen, Björnson, Dostojewski, wodurch auf ihn rasch, wer immer der Butzenscheiber überdrüssig geworden war, aufmerksam wurde. Das gefällige, wissensdurstige, kluge Männchen war mit einer guten Nase begabt, mit einem wohltemperierten, im rechten Augenblick wagenden, aber auch wieder rechtzeitig zögernden Mut und mit einem schönen Ehrgeiz, der durch einen Schuß gelinder Eitelkeit gelegentlich noch aufgepulvert, zuweilen aber auch wieder in Anfällen einer wehklagenden Ängstlichkeit eingeschüchtert wurde; noch heute sitzt zuweilen das Gespenst der Not neben ihm in seinem Automobil, wie sich eben stets die größten Sorgen Leute machen, die keine haben. Ich gewann ihn damals auf den ersten Blick lieb, und in dreißig Jahren unablässigen Ärgers über ihn ist mir an keinem Tag dieses Gefühl herzlicher Zuneigung, unbedingten Vertrauens und dankbarer Kameradschaft entwichen. Und den inneren Wert eines Mannes ermißt man doch immer erst ganz an der Gestalt der Frau, die er sich wählt: wer Frau Hedwig kennt, hat unseren Fischer lieb; es geht schon einmal nicht anders.

Gleich in den ersten Heften der »Freien Bühne für modernes Leben« erschienen Beiträge von Georg Brandes, Laura Marholm, Ola Hansson, Knut Hamsun, Tolstoi, Theodor Fontane, Liliencron, Paul Ernst, Johannes Schlaf, Otto Erich, Fritz Lienhard, Heinz Tovote und Schlenther. So viele berühmte Namen, und noch bevor sie berühmt waren, hat kaum irgendeine andere deutsche Zeitschrift je zu scharen vermocht. Brahms ruhiger Ton einer durch leisen Spott gewürzten Verstandesklarheit behielt die Führung, ich irrwischte dazwischen unter allerhand Decknamen als Karl Linz, B. Schwind, Schnitzel und Globetrotter einher, das Beste schrieb im Grunde Hermann Helferich, der, behutsamer, geduldiger und sachlicher als ich, meinen Glauben an einen neuen Idealismus in der Kunst, an die Notwendigkeit einer »Synthese von Naturalismus und Romantik« aussprach; wir behielten recht, die Zeit hat es bestätigt, ich behielt ja mit meinen Ansagen in der Kunst immer recht, aber immer erst zehn Jahre später, wo dann, was ich zehn Jahre vorher angesagt hatte, den Leuten inzwischen so selbstverständlich geworden war, daß sie nun an meinen Ansagen nichts mehr fanden, sondern sich nur auch wieder über mich erbosten, weil ich ihnen ja jetzt schon um die kommenden zehn Jahre wieder voraus war: der Ansager hat ein undankbares Geschäft, er kriegt immer nur die Prügel.

Ich schrieb für Theodor Barths »Nation« und fand an dem Redakteur Dr. Paul Nathan einen klugen, taktvoll hilfsbereiten Warner. In der literarischen Gesellschaft ward ich mit Spielhagens gemessener, soldatischer, knapper Art bekannt, Wolzogen führte mich in Fontanes sauberes Heim, Bebel, dem ich zuletzt in Paris auf dem Kongreß der Internationale begegnet war, sah ich wieder, ich kam zu Mommsen, den mit seiner langen spitzen scharfen Nase, den in Erz erloschenen Wangen und den schmalen leeren fahlen Lippen in seiner Geisterhaftigkeit für das Gespenst Voltaires zu nehmen nur der Strahlenkranz seiner weiß lohenden Locken und der unvergeßliche Glanz seiner vor Güte leuchtend blauen Augen verwehrte. Den jungen Ehemann Wolfgang Heine sah ich nur selten; ich habe mir jahrelang meinen Verkehr nicht selber gewählt, sondern aufdrängen lassen. Von Egidy, der damals im stillen so tief gewirkt hat, ward ich persönlich fast ein wenig enttäuscht: straff und stramm, soldatisch gedrungen und in sich gedrängt, mit einem Kommandoton, entsprach das steife Männchen wenig der Erwartung von »Edelmenschlichkeit«, der Verheißung seiner »Ernsten Gedanken«, der kleinen Schrift, die, Herbst 1890 erschienen, auf ein »Jesustum« des ganzen Lebens dringend, die »christusgleiche Gesinnung« durch ein »angewandtes Christentum« bestätigt, erwiesen, getan fordernd, alle Konfessionen in »ein einiges Christentum« rufend, weithin wirkte, zwar im Grund, nur eine protestantische Lesart des Bischofs Ketteler und des Freiherrn von Vogelsang, doch ergreifend durch den Ton persönlicher Not: ein Angstschrei, ein Hilferuf, Warnung vor dem tiefen Sturz des deutschen Geistes in die Zahl, in den Betrieb, ins Wilhelminische. Junker und Offiziere, der Oberst von Gyzicki, Wilhelm von Polenz, aber auch Professor Settegast, der Führer der deutschen Freimaurer, der Stifter der großen Loge von Preußen, Kaiser Friedrich zur Bundestreue, scharten sich um den ritterlichen Bußprediger. Doch auch Sozialisten horchten auf ihn, Heinrich Hart schloß sich ihm an. Nicht so laut, nicht so rasch, aber tiefer und länger hat ein anderes Buch, das um dieselbe Zeit erschien, gewirkt: Langbehns »Rembrandt als Erzieher«. Ich, damals ganz unsachlich, kein Gesetz anerkennend als das der Form und in allem Leben nur ein Bergwerk, mir Stoff zu holen für Form, empfand die beiden Schriften zunächst bloß als Kuriosa. Nach Jahren erst fingen sie in mir zu keimen an. In der großen Seelenangst um mich selbst, in dem tiefen Entsetzen vor dem grauenhaft entseelten Deutschland, auf der Flucht vor dem geborenen und erzogenen Impressionisten, in der Entscheidung nach meiner großen Krise von 1904, als die Hand auch leiblichen Todes schon auf mir lag, entsann ich mich jener Stimmen. Auf der Akropolis, vor dem kleinen Tempel der Nike, mit dem Blick auf das im Abendsonnenschein violett errötende Meer, ahnte mir Gott wieder. Ich begann zu leben. Das war im März 1904, Juli gab mir das Erlebnis Parsifals in Bayreuth, September das der Isolde meiner Frau. Da war ich wiedergeboren; ich mußte nur noch erwachsen. 1912 erschien meine kleine Schrift »Inventur«. Mit ihr schließt, was mit Egidy und Langbehn begann: sie war ein letzter banger Aufschrei des verröchelnden deutschen Geistes. Niemand hörte darauf. Ich selber war gerettet: ich ging nun stracks ins große Deutschland der Väter zurück. Aber die deutsche Gegenwart blieb dem Betrieb verfallen.

Langbehn nannte damals die Deutschen »nunmehr stark, wohlerzogen nur teilweise und fein noch weniger«. Unter dieser Unfeinheit litt ich um so mehr, als sie mir neu war: gerade die gute Haltung des Berliners, seine Zucht, die Sicherheit, mit der er, auch wenn er zu der rauhbeinigen Art gehörte, die gewohnte Form einhielt, hatte mich, als ich in Berlin studierte, bezaubert. Nun fand ich, daß er anfing, sich gehen zu lassen, und ich fand, daß er unerträglich wird, wenn er sich gehen läßt; das Talent, frei zu sein, fehlt ihm. Seit der Geschäftssinn nun immer mehr die guten alten Sitten zu lockern begann, ward der Rüpel vorherrschend, und nicht bloß auf der Straße. Noch gab es freilich gutes altes Berlin genug, aber ich entdeckte zu meiner Verwunderung: eigentlich doch fast nur noch bei Juden und am schönsten bei Jüdinnen. Auch der alte Fontane, der echteste Märker, mit den Berliner Juden gut bekannt, faute de mieux sozusagen, weil es ja seinem eigenen Kreise niemals eingefallen ist, sich um ihn zu kümmern, hat, wenn er gleich meinte, »daß eine rein nationale Entwicklung, wie sie sich in manchen Teilen Skandinaviens findet, das Schönere wäre«, sich doch der »Tatsache« nicht verschließen können, »daß uns alle Freiheit und feinere Kultur hier in Berlin vorwiegend durch die reiche Judenschaft vermittelt wird«. Ja er hat einmal geradezu gesagt, »daß das gesellschaftlich höher potenzierte Berliner Leben immer nur ein Juden-, will sagen Jüdinnenleben gewesen ist«. Er hat auch erkannt, warum. Er fand den Grund in jenem »eigentümlichen Idealzug, der sich bei den Juden, auch wenn sie noch so scharf und bissig und selbst noch so happig sind, so häufig findet«. Dieser »Idealzug« wurzelt in ihrem Glauben: ungläubige Juden sind sehr selten; selbst die vermeintlichen Atheisten unter ihnen beugen den Geist unter ihr Sittengesetz, auch ganz verwahrloste Juden haben immer noch den gewaltigen Hintergrund des Alten Testaments. Darum können sie sich auch der größten Freiheit ungefährdet erdreisten, im Gefühl ihrer unauflöslichen inneren Bindungen. Mitten in Lug und Trug des Erwerbs behalten sie noch einen Seitenblick zur Ewigkeit. Man muß Juden beten zugesehen haben, um sie ganz erkennen zu lernen. Dann versteht man erst ihr Bedürfnis nach Form, und man versteht dann erst auch ihre uns oft fast unheimliche Begabung, sich aus jeder Form, die sie vorfinden, eine neue Haut wachsen zu lassen. Mir war schon in Madrid aufgefallen, daß gerade die spanischesten Spanier fast alle einen jüdischen oder griechischen Tropfen im Blut hatten. Friedrich Julius Stahl, der klarste Kopf und das treueste Herz der preußischen Konservativen, der die Junker erst verstehen lehrte, was sie zu sollen und zu wollen hatten, ist Jude von Geburt gewesen. An Juden, die zu Deutschen werden, ist das Merkwürdige, daß, während ein geborener Deutscher es eilig hat, immer vor allem die ganze deutsche Vergangenheit von sich abzutun, um ungehindert in die Zukunft nach Neuem, nach dem Allerneuesten zu sehen, sie zunächst gerade diese Vergangenheit, das Erbe, den alten deutschen Geist sich aneignen wollen, um in ihn einzuwachsen. Das ist schon seit den Tagen der Henriette Herz, Rahel Levin, Dorothea Veit so: dieser Kreis Berliner Jüdinnen war der Herd der deutschen Romantik, von ihnen ging auch die Nachfolge Goethes aus. In unserem merkwürdigen deutschen Volk, wo jede neue Generation das Leben noch einmal von vorne wieder anfangen und darum vor allem durchaus alles, was sie vorfindet, verleugnen, ja völlig vergessen will, um nur ja ganz mit ihrem Eigensinn allein auf der Welt zu sein, hat der Geist der großen deutschen Tradition immer wieder in der Hut edler Berliner Jüdinnen geborgen werden müssen. Dort fand auch ich ihn, während damals sonst rings um mich alles sich den Hals ausrenkte nach Zukunft, nach Neuheit, nach Betrieb. Dort fand ich Stille, Geist und Anmut, bei lächelnder Verachtung für das dumme Geld. Nach Jahren noch traf mich zuweilen ein Hauch dieser unvergeßlich klaren Morgenluft: in Gesprächen mit Walther Rathenau, aus den Schriften Ernst Cassirers, im Verkehr mit Fritz Mauthner, dem herzensfrommen Atheisten, dessen entsagungsvoller Unglaube mir heute noch mehr Achtung abzwingt als der dampfende Wahn aller abergläubisch Wirrgläubigen, die jetzt die Ratlosigkeit einer taumelnden Zeit mit asiatisch aufgekochten »neuen« Religionen betrügen.

Meine »Neuen Menschen« wurden aufgeführt und fielen stürmisch durch; ich sah lachend zu, wie die Herrschaften im Parterre sich prügelten. Es dauerte noch Jahre hindurch, bis ein Stück von mir aufgeführt wurde, stets so lange, daß ich es inzwischen selber schon längst innerlich wieder »überwunden« und nun den größten Spaß hatte, mir den Spektakel seines Untergangs anzusehen; seit meine Stücke nicht mehr ausgezischt werden, oder doch bloß flötend, ohne Handgemenge, freut's mich nicht mehr, dabei zu sein; ich habe mir bis zum heutigen Tag mein »Konzert« noch immer nicht angeschaut. Mein Roman, »Die gute Schule«, machte Sensation, und als gar »Die Mutter« erschien, ward ich zum Kinderschreck der gesitteten Menschheit. Mir kam das alles so furchtbar albern vor, dieses Getue rings um mich, als ob ich ein erschröcklicher Wüstling war, ich, der vor jeder Frau verlegen wurde, den ein zweideutiges Wort in Gegenwart einer Kellnerin beschämt, der Zoten auch unter Männern nicht ausstehen kann, ich, dessen ganzes Leben immer von der reinsten Ehrfurcht vor der Frau beseligt blieb, schon weil doch auch auf der niedrigsten für mein Gefühl noch irgendein letzter leiser Abglanz von der Gottesmutter Maria liegt, unserer lieben Frau, deren Licht mir auch in der tiefsten Nacht meiner Gottesferne niemals ganz erlosch.

Mein bester Kamerad war damals Emanuel Reicher. Die Bewunderung für den Schauspieler übertrug sich gleich bei der ersten persönlichen Begegnung auch auf den Menschen, und wenn man mir vorwarf, daß ich ihn künstlerisch überschätzte, der Mann selber in seiner arglosen Begeisterung, seiner tapferen Zuversicht, seiner quellenden Lebensfrische, die noch heute den Siebziger unerschöpflich planen und immer wieder hoffen und, bald in Berlin, bald in Newyork, immer wieder was Neues unternehmen läßt, immer im größten Stil, niemals zum eigenen Vorteil, dieses Wunder unverzagten Glaubens an die eigene Sendung, unermüdlichen Vertrauens zur eigenen Kraft, unüberwindlichen Beharrens auf der eigenen Pflicht spottet jeder Schätzung, es wird von keiner auch nur erreicht. Kein deutscher Schauspieler hat jemals so produktiv gewirkt, weder vorher, noch nachher: wer mit ihm auf der Bühne stand, gab dreimal mehr von sich her als sonst. Von keinem andern deutschen Schauspieler ging so viel stilbildende Kraft aus. Nicht bloß Rosa Bertens, Rudolf Rittner und Josef Jarno, seine Kollegen in dem kleinen Residenztheater, können das bestätigen, seine Wirkung griff weit über die Macht unmittelbarer Berührung hinaus, und Brahm wird nicht kleiner durch das Zugeständnis, daß sein Stil, Brahms Ibsenstil, der zehn Jahre lang die deutsche Bühne beherrscht hat, eigentlich in Reicher, in Reichers Persönlichkeit noch mehr als in seinen ungestüm verkündigten Postulaten, wurzelte. Die magnetische, ja fast magische Gewalt, die Reicher unmittelbar ausstrahlte, menschlich noch mehr als durch seine Kunst, erhielt nun aber noch einen eigenen Reiz von der Arglosigkeit des großen Kindes, das er bis auf den heutigen Tag geblieben ist. Seiner Kunst und seiner persönlichen Magie maß er bei weitem nicht die Bedeutung bei, die seinen »Erfindungen« zukam. Sonst so bescheiden, war er als »Erfinder« von empfindlichster Eitelkeit; und kein Tag verging ohne den Ruhm einer neuen Erfindung, er war unerschöpflich: Spazierstöcke, die nicht bloß einen Degen enthielten, sondern auch einen scharf geladenen Revolver, ferner Manschettenknöpfe, die zugleich noch Geldtäschchen und Notizbücher waren, aber auch Hosenträger, die sich, abends entrollt, als Nachthemden gebrauchen ließen – doch in meiner Erinnerung mögen sich seine wirklichen mit den von uns Spöttern erfundenen Erfindungen vermischen.

Auch mit Harden, der in der »Nation« M. Kent zeichnete, in der »Gegenwart« als Apostata berühmt ward, stellte sich ein zögerndes Verhältnis gegenseitigen freundlichen Mißtrauens her. Der Reiz seiner knabenhaften Anmut, seiner fast frauenhaften Empfänglichkeit für jeden Eindruck bestrickte mich, wenn ich mich auch anfangs einer gelinden Eifersucht nicht ganz erwehren konnte. Wir waren ja sozusagen Konkurrenten. Er war der erste Deutsche, der sich auf die Kunst einer ganz persönlichen, nervösen, gar nicht beckmessernden, sondern innerlich erlebten, einer »lyrischen« Kritik, Kunstkritik wie Zeitkritik, verstand; seine Kritiken waren Gedichte in Prosa. Niemand empfand ihre Schönheit stärker als ich, der ja, seit Paris, auch den Ehrgeiz hatte, dem kritischen Handwerk den Adel der Wortkunst zu verleihen. Aber nicht leicht ward mir das Eingeständnis, daß, wenn wir beide dasselbe versuchten, doch sein Talent dazu weit stärker war als das meine. Mich darein zu finden, kostete Mühe genug; als ich mich aber erst so weit hatte, belohnte mich das schönste Verhältnis neidloser Anerkennung, und in den dreiunddreißig Jahren, die das nun her ist, hab ich mir meine Bewunderung seiner Kunst, auch wenn ich ihm, was zuweilen vorkam, in der Sache noch so heftig innerlich widersprach, niemals mehr trüben lassen. Immer schwach zu werden beim Anblick einer echten Begabung ist vielleicht nicht meine beste, doch sicherlich die meinem Wesen eigenste Kraft.

Übrigens weiß Harden gar nicht, daß ich ihm bald die Flasche weggetrunken hätte, die Bismarck dann mit ihm anbrach. Fischer hatte gleich bei Beginn meiner kurzen Tätigkeit in der »Freien Bühne« den Einfall, ich müßte den, Alten im Sachsenwald »interviewen«, Brahm, einverstanden, sprach mit Kainz, der mit Schweninger sprach, so ward's an Bismarck geleitet, der nur, auf eine Bemerkung, ich sei Österreicher, für ein Gebot der Höflichkeit hielt, bei der österreichischen Botschaft anzufragen, ob ich ihr genehm sei. Ich war ihr nicht genehm; das hätt ich ihm voraussagen können. Ich bin mein ganzes Leben im Ausland niemals von einer österreichischen Behörde gefördert worden außer in London von dem charmanten geistreichen Grafen Mensdorff, der mir zu meiner Verblüffung bewies, daß man österreichischer Botschafter und dennoch liebenswürdig gegen österreichische Bürger sein kann. Zur selben Zeit aber hatt ich dort einmal auf dem österreichisch-ungarischen Konsulat zu tun und konnte feststellen, daß dem hochmütigen Herrn, der mich empfing, nicht bloß mein Name, sondern auch der der k. u. k. Kammersängerin Anna Bahr-Mildenburg, der, da sie damals in Coventgarden Isolde und Klytemnästra sang, einen Monat lang jede Woche dreimal auf den Zetteln an allen Straßenecken stand, gänzlich unbekannt war. Beschämt, nicht für mich, sondern für mein Vaterland, schlich ich weg und kam auf dem Heimweg am Times Book Club vorbei. Diese große Buchhandlung lockte mich, ich trat ein, ließ mir von einem artigen jungen Gehilfen allerhand zeigen und wählte mir einen Stoß von Schriften aus, zu schwer, um ihn selber zu schleppen, weshalb ich bat, ihn mir ins Hotel zu schicken. Ich schrieb auf: Bahr, de Keysers Hotel. Der Gehilfe las es und sagte: Da darf ich Ihnen vielleicht noch etwas zeigen, was Ihre Frau interessieren dürfte! Und er brachte mir eine Londoner Ausgabe des Rings, von Rackham illustriert. Das ist der Unterschied zwischen einem altösterreichischen Konsul und einem englischen Kommis.

Mein Berliner Leben verlor immer mehr an Reiz. Der Betriebsmensch kündigte sich schon deutlich an, zu dem mir jedes innere Verhältnis fehlt; ich kann einfach nicht verstehen, daß er sich erträgt. Ganz sinnlos kam mir mit der Zeit alles vor. Das Beste waren noch die Stunden an unserem Stammtisch im Kaiserhof. Harmonist, ein Tänzer von der Königlichen Oper, im Nebenamt Schachspieler, präsidierte da terroristisch. Er war der lauteste Rufer im Streit für Gerhart Hauptmann, er hat Reicher zum Herrscher über die neue Schauspielkunst ernannt, er gab die Losungen für das künstlerische Berlin aus, und wenn wir uns insgeheim über ihn belustigten, empfanden wir doch, daß geistige Moden ungehemmte Willenskraft allein entscheidet. Als wir später in Wien die Schlachten um die Sezession schlugen, hab ich im stillen oft nach einem Harmonist geseufzt; der Wiener, der für etwas einsteht, weiß zu gut, was dagegen spricht, vor lauter Gerechtigkeit ist sein Herz immer beim Gegner.

An unserem Stammtisch und dem noch mächtigeren nebenan, dem Philipp Steins von der Frankfurter Zeitung, nach dem hin wir auf die Witze Grünfelds horchten, wurden damals die Stichworte für den Berliner Geist ausgegeben. In allen Großstädten wird der öffentliche Geschmack durch ein Dutzend lebhafter Geister bestimmt, die selber kaum wissen, was eigentlich sie zusammengeführt hat, durch eine Freimaurerei des Zufalls; das Bedürfnis der Städte, sich lenken zu lassen, scheint so stark, daß ihm willkommen ist, wer immer sich nur als Lenker zu fühlen weiß. Nur auf dieses Gefühl kommt's offenbar an; und das hatten wir reichlich. Auch dem jüngsten, dem stillsten unter uns sah man es an, den wir alle so gern hatten, weil er mit dem seltensten Talent begabt war, mit dem Talent, den anderen zuzuhören. Ich kann mich kaum eines anderen Jünglings von solcher Beredsamkeit horchenden Schweigens entsinnen, in das gehüllt, lauschend vorgebeugt, ganz Ohr, damals Felix Hollaender unter uns saß, jeden Blick, jedes Wort, allen Geist gleichsam einsaugend, aufsaugend und selber nur antwortend durch ein Aufleuchten innerer Erregung. Er hat dann später beim Theater schon auch dreinreden gelernt, aber die Kraft der unbeschreiblichen Intensität, Geist aufzunehmen und in eigenes Leben, persönliches Erleben umzusetzen, ja sozusagen sich davon durchbluten zu lassen, ist ihm geblieben. Noch die letzte Nacht, bevor ich von Berlin schied, saß er, während ich packte, bei mir, und unvergeßlich ist mir das Fieber, das den in Gier geduckt lauschenden Jüngling zu verzehren schien.

Ich hatte mich plötzlich entschlossen abzureisen. Reicher ging nach Petersburg gastieren. Ich fuhr mit. Mir war jeder Vorwand recht, wegzukommen. Ich konnte mich über Berlin nicht beklagen, was fehlte mir denn? Ich hatte Freunde, war »berühmt«, ja berüchtigt und gehörte schon völlig mit dazu. Mir kam nur dies alles, was »sich da tat«, mit mir und um mich, so furchtbar sinnlos vor, ich glich für mein Gefühl einem Schauspieler, der, schon auf der Bühne, plötzlich gewahr würde, daß er unversehens in ein falsches Stück geraten ist, für eine Rolle geschminkt, die darin gar nicht vorkommt, voll Angst, was jetzt eigentlich geschehen wird, wenn das Publikum es erst merkt! Mein Gewissen sagte mir, daß ich hier fehl am Ort war. Ich hatte freilich Stunden, wo mir vorkam, vielleicht überall in der Welt fehl am Ort zu sein; noch heute hab ich solche Stunden. Aber zunächst war ich jedenfalls sehr vergnügt, als ich mit Reicher im Zug nach Petersburg saß; ein blutjunges Ding aus Elberfeld fuhr auch gastieren mit, Fräulein Lotte Witt.


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