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Der Brand von Reutlingen.

Es war spät abends am 23. September 1726. Die Schatten der Nacht hatten sich über Reutlingen, die Stadt, gesenkt. Auf den Straßen war es still geworden, und in den Häusern schickten sich die Leute an, zur Ruhe zu gehen. Da wurde es mit einem Male wieder lebendig in den Gassen. Es ertönte der Ruf: »Feuer! Feuer!« Die Glocken auf dem hohen Turme der Marienkirche begannen zu läuten, und angstvoll liefen die Leute auf die Straße, um zu fragen, wo es brenne. Drunten, beim untern Tor, durch das die Straße nach Metzingen und Stuttgart führte, war ein Brand ausgebrochen. Einem Mädchen, das zu Bett gehen wollte, war der brennende Lichtstumpen durch den spaltigen Boden ihrer Kammer gefallen und hatte Heu, das darunter lag, entzündet. Der Schuhmacher Dürr, dem das Haus gehörte, hatte unseligerweise gemeint, das Feuer selber löschen zu können. So war es gewachsen, und bis Hilfe herbeikam, schon so groß geworden, daß es nicht mehr zu löschen war. Jetzt stand das Haus in vollen Flammen.

Die Reutlinger Bürger hatten schon manches Feuer in ihren Mauern gedämpft, und auch jetzt taten sie ihre Schuldigkeit. In Eile wurden die Feuerspritzen aufgestellt. Männer und Weiber trugen aus dem Stadtbach, der damals offen durch die Straßen lief, in Eimern und Gölten Wasser herbei. Prasselnd fielen die Wasserstrahlen in die feurige Glut. Aber die Wut der Flamme konnte nicht erstickt werden. Sie wuchs von Minute zu Minute, so daß es schien, als ob der Dachstuhl des brennenden Hauses ganz abgehoben und das ganze Haus eine lautere Flamme wäre. Infolge des Luftzugs und der Hitze sprang das Feuer über die enge Straße hinweg, ergriff den Giebel des gegenüberliegenden Hauses und bildete einen Bogen, dessen feuerspeiender Regen die Löschmannschaft zurücktrieb.

Alsbald zündeten die beiden brennenden Häuser auch die in ihrem Rücken gelegenen Häuserreihen an, so daß es nun auch in der Metzger- und in der Gerbergasse brannte. Diese drei Gassen waren eng; die Giebel der Häuser sprangen weit vor, so daß sie einander über der Straße beinahe berührten. Dazu waren die Gebäude fast alle von Holz, die Stuben getäfelt, die Böden mit schlecht gefugten Brettern belegt, alle Häuser angefüllt mit den Gaben eines reichen Jahres, mit Frucht, Futter, Stroh und Holz. So hatte das feurige Ungetüm Speise genug. Und es fraß nach allen Richtungen der Stadt: abwärts die kurze Strecke gegen das untere und aufwärts die lange Zeile gegen das obere Tor.

Am Himmel hatte bis jetzt ein gelinder Südwind geweht. Nun aber schuf sich das Feuer seinen eigenen Luftzug, der nach und nach zum Sturm wurde und die Flammen vorwärts trieb, so daß die Häuser nicht mehr einzeln, sondern reihenweise in Brand gerieten. Wenn das Feuer eine Straße durchrast hatte, dann drehte sich der Wind, als ob er eigens dazu bestellt wäre, und jagte die Lohe eine andere Straße wieder hinab. Da an ein Löschen mit Wasser nicht mehr zu denken war, so versuchte man durch Niederreißen von Häusern dem Glutstrom seine Nahrung zu rauben. Aber auch diese Mühe war umsonst: die Haken und Leitern zerbrachen oder verbrannten.

Da verlor die sonst so mutige und rüstige Reutlinger Bürgerschaft den Mut. Während die einen noch zu retten suchten, flüchteten die andern unter Jammergeschrei. Beladen mit Habseligkeiten aller Art füllten sie die Gassen, die aus der Stadt führten, und drängten sich unter den Toren so sehr, daß es oft eine Stunde dauerte, bis der eine zum Tor hinaus, der andere wieder herein gelangte. Kranke und Alte wurden in Betten, oder was der Zufall an die Hand gab, erst nach den noch unversehrten Stadtteilen und dann, wenn hier das Feuer nachstürmte, vor die Tore geschleppt. Da draußen auf dem Felde, beleuchtet vom Glutschein der brennenden Stadt, war alles voll von Menschen. Hunderte und Tausende lagerten hier unter freiem Himmel und starrten tränenden Auges auf das Flammenmeer. Viele erkrankten tödlich in der nassen Kälte. Eltern und Kinder suchten einander, kläglich rufend, und stürzten in die Stadt zurück oder zerstreuten sich stundenweit in der Nachbarschaft. Tiere irrten zwischen den obdachlosen Menschen umher und rannten in blindem Schrecken alles nieder oder winselten nach ihren Herren. Zahllose Habe ging nicht bloß im blinden Drang des Flüchtens, sondern auch durch untreue Hände zugrunde, indem schlechte Menschen sich die Verwirrung zunutze machten.

Der anbrechende Morgen sah den dritten Teil der Stadt in Asche und Flammen, und noch immer spottete das Feuer aller menschlichen Gegenwehr. Es hatte inzwischen nach dem Marktplatz heraufgebrannt, und eben jetzt mit Tagesanbruch loderte das schöne Rathaus mit seinen gemalten Fenstern und seinem denkwürdigen Sturmbock (s. W. Volksbücher, Bd. 2, Sagen und Geschichten). Wer über den eigenen Jammer noch hinausdenken konnte, der zitterte nun für die Marienkirche, das Kleinod der Stadt. Man riß die größten Gebäude an der Kirche ein. Aber das Feuer hatte kein Erbarmen. Die fürchterliche Glut, vor deren Atem das Wasser in den Brunnen sott, die hölzernen Staffeln im Stadtbach verbrannten und die dicksten Fässer in den Kellern zu Asche wurden, hauchte auch nach der Spitze des Turmes empor, und von oben herab wurde die Kirche ein Spiel der Flammen. Am Abend des zweiten Tages sah man kleine Lichter im Gebälke des Glockenstuhls erscheinen. Sie liefen hin und her und flossen zusammen. Auf einmal schlugen die Flammen zu den Bogenfenstern heraus. Ein stürmender Wirbelwind erhob sich, und die ganze Kirche samt allen angrenzenden Häusern stand im Feuer. Zum letztenmal bewegten sich die Glocken, aber nicht von Menschenhand. Sie läuteten sich selbst zu Grabe, bis sie mit furchtbarem Krachen herabstürzten und in dem Feuerofen zerschmolzen. Nächtelang stand der Turm schneeweiß glühend, dann schwarz und ausgebrannt über der weiten Schuttstätte. Die Röte am Himmel sah man noch in weiter Ferne, und die Umgegend war so stark erleuchtet, daß man in stundenweiter Entfernung mitten in der Nacht einen Kreuzer vom Boden auflesen konnte.

In den Morgenstunden des dritten Tages hatte das Feuer auch den obersten Stadtteil von der Kirche bis zum oberen Tor vollends verzehrt. Dort sprang es über die Stadtmauer und wollte die große Vorstadt ergreifen, die ihm jedoch wegen ihres weiteren Raumes glücklich widerstand. Nun aber wandte es sich rächend abwärts und fraß an der Stadtmauer eine große Strecke entlang Gassen und Gäßchen, die es noch verschont hatte, bis es zu den bereits in Asche gelegten Stadtvierteln zurückkehrte und dort erstarb.

Die Bewohner, die nun zurückkehrten, fanden von der Stadt nur mehr einen kleinen Teil unversehrt vor. Er glich einem Halbkreis und begann wunderbarerweise mit seinem breitesten Stück gerade da, wo der Brand ausgebrochen war. Als ein Wunder staunte man, hart daneben, die Nikolauskapelle an. Sie stand, ohne Glocken zwar, doch sonst unversehrt in einem Kreise von Schutthaufen. Daß der Kaiser Maximilian auf dem Marktbrunnen den Brand überdauert hatte, war gleichfalls allen ein Rätsel. Nur drei bis vier öffentliche Gebäude waren dem Verderben entgangen. Unter ihnen befand sich das alte Franziskanerkloster (jetzt Gymnasium), das seit seiner Aufhebung als Schwörhof bei den Ratswahlen diente. Dort richtete sich die Obrigkeit ein und begann die unterbrochene Regierung (Reutlingen war damals eine Reichsstadt) mit der schwierigen Ausscheidung des Eigentums, das dem Schutt etwa noch abzugewinnen war. Die stehengebliebene Kapelle wurde zur Kirche gemacht. Statt der Glocken rief die Trommel zum Gottesdienst, der mit einem Buß- und Fasttage begann. Die Fruchtvorräte waren vernichtet; doch standen die Trauben noch am Stock und gewährten diesmal einen reichen Ertrag. Die Witterung blieb mild, daß man bis tief in den Winter an den Neubauten arbeiten konnte. Mangel und Teuerung blieben abgewendet, und die auflebenden Bürger hatten zu rühmen, daß ihnen von allen Seiten »ritterlich« zugeführt worden sei. Namentlich die Reichsstädte, dann aber auch der Herzog von Württemberg, der schwäbische Kreis und das Reich griffen der heimgesuchten Stadt unter die Arme. So konnte das Werk der Herstellung freudig vorwärtsschreiten und auch die Erneuerung der Hauptkirche in Angriff genommen werden. Dies war ein schwieriges Geschäft, denn ihr Turm war ausgeschält, die Schwibbogen zersprengt, ein Teil des Gewölbes lag am Boden, die zierlich gewundenen Säulen waren geborsten, die Kanzel mit dem großen Simson verbrannt, die bunten Chorfenster zersprungen und der prächtige Altar mit Schmuck und Zier vernichtet. Aber indem man sich auf das Notdürftigste beschränkte, kam man mit den Arbeiten so weit voran, daß am ersten Jahrestag des Brandes wieder der erste Gottesdienst, noch ohne Glocken, in der Kirche gehalten werden konnte. So erstand die Stadt Reutlingen, von der mehr als 900 Gebäude durch den Brand zerstört worden waren, langsam wieder aus der Asche. Es waren Zeiten verhältnismäßiger Ruhe, die nun folgten; in ihnen konnten die Wunden des Brandes allmählich vernarben. Eifrige Gewerbetätigkeit erzeugte neuen Wohlstand, der sich um so mehr steigerte, als die Not größere Sparsamkeit gelehrt hatte. So baute der Mensch, was die Natur mit einem Schlage in den Staub warf, langsam wieder auf, ihre Gewaltstreiche überbietend durch zähe Geduld und Ameisenfleiß.

 

Nach H. Kurz, Gayler und M. Fischer von R.


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