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Ein Glockenraub.

Das jetzige Oberamt Heilbronn war im Jahre 1693 wiederholt der Tummelplatz feindlicher Truppen. Rauchende Trümmerhaufen, ausgeplünderte Häuser und verwüstete Felder zeigten an, welchen Weg die Franzosen genommen hatten. Besonders in Bonfeld setzten sie sich einen unrühmlichen Denkstein.

Die Ortsstraßen, auf welchen sonst fröhliche Kinder spielten, kecke Burschen und bescheidene Mädchen heitere Lieder sangen, gereifte Männer nach des Tages Last miteinander plauderten, sahen einsam und verlassen aus. Die Dorfmusikanten, Hühner, Enten und Gänse, fehlten. Zur Tränke wanderten weder Kuh noch Pferd; den beutelustigen Kriegsleuten fielen die kleinen und großen Haustiere zum Opfer. Jeder Winkel konnte sich rühmen, einen oder mehrere Besuche landfremder Menschen erhalten zu haben.

Eines Tages mischten sich die sanften Töne der Mittagsglocke, die zu läuten der Mesner nicht vergessen hatte, in den Kriegslärm. Sie schienen zu sagen: »Des Jammers ist genug!« Wie konnten aber die harten Kriegsleute eine solche Sprache verstehen! Unrecht zu tun, war ihnen zur zweiten Natur geworden. Und so erzeugten die Friedensklänge bei den Soldaten nur ein Gesicht voll teuflischer Freude. Der pflichttreue Mesner hatte, ohne es zu wollen, die Räuber auf einen wertvollen Gegenstand aufmerksam gemacht. »Zum Turm, zum Turm!« ließen sich mehrere rauhe Stimmen vernehmen. Die Tür stand offen. Mit großem Gepolter ging es die alte Holztreppe hinauf. In wenigen Minuten war die vier Zentner schwere Glocke von raubgierigen Kriegern umringt und aus dem Glockenstuhl auf den morschen Bretterboden herabgehoben. Nachdem das starke Glockenseil um die Haube und den Henkel geschlungen und die Läden an den Schallöffnungen weggerissen waren, mußte die Glocke von ihrem erhabenen Platze herabsteigen. Langsam glitt das Seil durch mehr als 20 Hände, und nach kurzer Zeit war das unrühmliche Werk, der Glockenraub, gelungen.

Über die weiteren Schicksale der Glocke schweigt die Chronik. Ob sie an einen Glockengießer oder eine andere Gemeinde verkauft oder gar eingeschmolzen wurde, hat wenig Bedeutung. Der Gewinn, den die Räuber einstrichen, ist auf keinen Fall so nachhaltig gewesen als der Verlust der Gemeinde. Wenn man bedenkt, mit welcher Liebe die Gemeindeglieder an ihrer Bet- und Mittagsglocke, an der Kirchen- und Totenglocke hängen, wie andächtig dem ehernen Munde in allen Wechselfällen des Lebens gelauscht wird, so kann man verstehen, wie schwer das Glockengeläute in den folgenden Wochen und Monaten vermißt wurde. Vor allem den Sonn- und Festtagen fehlte der metallne Klang, der sonst zum Gottesdienste rief.

Am tiefsten ging der Glockenraub aber dem Mesner zu Herzen. Er konnte das Gefühl nicht los werden, als ob sein Vorgehen die Franzosen auf die Spur der Glocke geführt hätte. Sein Bestreben war nun darauf gerichtet, einen Teil der vermeintlichen Schuld wieder gut zu machen. Einen passenden Weg fand er durch den Büttel. Er sagte sich im stillen: »So gut der Diener des Schultheißen durch seine Glocke in der Hand auf wichtige Vorgänge in der Gemeinde hinweist, kann ich auch am Sonntag den Beginn des Gottesdienstes ankündigen.« Der Prediger fand das Vorhaben des Mesners ganz in der Ordnung und verständigte am Schluß des nächsten Gottesdienstes die andächtigen Zuhörer davon. Manch freundliches Auge traf den Mesner bei dieser Mitteilung. Am kommenden Sonntag aber schritt der brave Mann noch 10 Minuten früher, als es ausgemacht war, durch die Gassen des Dorfes und machte mit der Glocke des Büttels auf den Anfang der Vormittagspredigt aufmerksam. Auch nach dem Mittagessen waltete er seines Amtes in der gleichen Weise. Mit inniger Freude überblickte er jedesmal die versammelte Gemeinde, die seinem außergewöhnlichen Rufe folgte. In derselben Weise ging es den ganzen Winter hindurch fort, und mancher Einwohner konnte sich mit der neuen Einrichtung befreunden.

Andere aber wünschten doch den früheren Zustand wieder herbei. Zu den letzteren gehörten einige Bürger, die in Friedenszeiten eine schöne Einnahme von ihren Feldern hatten und als vermögliche Leute galten. Sie unterhandelten insgeheim mit dem Heilbronner Glockengießer, welcher auf Pfingsten eine Glocke zu liefern versprach, dagegen mit der Bezahlung bis zum Verkauf der neuen Frucht zuwarten wollte. Die Glocke wurde rechtzeitig abgeliefert und machte am Pfingstmorgen des Jahres 1694 die Notglocke des Mesners überflüssig. Die Namen der Stifter hat die Chronik aufbewahrt.

Gewiß haben die schwergeprüften Einwohner bei den ersten Klängen der neuen Glocke dieselben Gefühle gehabt, die Schiller mehr als 100 Jahre später mit den herrlichen Worten ausdrückte: »Freude dieser Stadt bedeute, Friede sei ihr erst Geläute!«

 

G. A. V.


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