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Zinnober im Schnee

Ein Jüngling aus Taian, namens Tao, machte sich auf, das Septemberfest mitzufeiern, und stieg, mit Wein wohl versehen, in das Taischan Schan = Gebirge. hinauf. Inmitten seiner Wanderung geriet er in eine Gegend voll schroffer Wände und spitzer Gipfel, wunderlicher Fichten und bösartiger Felsbildungen: alte Tempel standen auf dem Gefilde und zerbrochene Denkmale lagen umher. Alles schien so mannigfaltig, seltsam, glänzend und außerordentlich, als läge es nicht mehr in der Menschenwelt. Als die Sonne auf der Höhe stand, ergriff Müdigkeit den Wanderer. Auf einen kleinen Gipfel gelangend, nahm er einen Fels zum Sitz, griff nach seinem Weine und trank allein. Ein klarer Wind blies ihm ins Gesicht, all seine Gedanken schwanden. Unten lag sichtbar das Pemeer, Wasser und Himmel berührten einander. Fast schien es ihm, als sei er nur ein Leib in einem gemalten Bilde. »Wie«, sprach er zu sich selber, »vermöchte der Mensch zu bewirken, daß sein ganzes Leben nicht anders wäre als dieser Augenblick!«

Nach einiger Zeit, als der Wein ihn trunken gemacht, erhob er sich wieder und gelangte, ein wenig mühsam, in ein tiefes Tal, in welchem ein alter Buddhatempel stand. Äußeres und inneres Gemäuer war halb verfallen, die geborstenen Torflügel standen beide offen. Davor befand sich ein steinernes Denkmal mit verwitterten und verwischten Schriftzügen, aus denen das Jahr der Erbauung nicht mehr zu erkennen war. Durch die nach der Bergseite gerichtete Tür trat er ein: in einem dunstigen Nebel lagen da verworrene Gräser, rundes Moos, und der Mist von Vögeln hatte weithin den Hof und das Pflaster bedeckt. Er sah sich nach allen vier Seiten um, alles war einsam und kein Mensch in der Nähe. Nur einige Raben schrien laut von dem hohen Fichtenbaum, der inmitten des Vorhofs stand. Er trat in das Innere des Tempels: alle vier Wände waren mit Malereien überdeckt, aber die Spinnen hatten sie mit ihren Netzen und Fäden zugesponnen Die aus Lehm gemachten Buddhabilder waren einst mit Gold und Weiß gemalt worden, doch die Farben waren abgebröckelt oder erloschen. Als er gerade im Begriffe stand, sie zu betrachten, und bald hierin, bald dorthin blickte, hörte er plötzlich das Lachen einer Menschenstimme. Er eilte hinaus, um vor der Tür nachzusehen, doch keines Menschen Spur war zu entdecken: nur einige graue Fichten und greise Tannen standen da, sonst nichts. Eben wollte er wieder umkehren, da rief eine Stimme hinter einem der Bäume hervor: »Hat Augen und kann nicht sehen! Ihr seid wohl blind?« An der Zartheit des Tones erkannte er, daß es eine Mädchenstimme war. Er lief und entdeckte bald eine Sechzehnjährige, die noch offenes Haar und ein violettes Kleid mit gesticktem Brustbesatze trug. Sie hatte den Mund mit dem Ärmel bedeckt, während sie das errötete Gesicht zur Erde geneigt hielt. Sie schämte sich so sehr, es war zum Erbarmen. Als Tao dies sah, schwoll sein Herz von Trunkenheit. Er verbeugte sich tief und sagte denn: »Dicht ist der Wald, hoch wächst das Gras in dieser Gegend. Fürchtet Ihr Euch nicht vor den Tigern und Wölfen, daß Ihr so allein hier umhergeht?« »Wer sich vor Tigern und Wölfen fürchtet, muß nicht hierherkommen«, erwiderte das Mädchen scherzend. Er merkte, daß sie Scherz mache, näherte sich und wollte sie am Arm berühren. Aber da stob sie davon, als ob sie flöge, der Jüngling immer hinter ihr drein, durch ein größeres Gebäude, über viele Höfe, zuletzt durch ein Parktor. Darin befanden sich einige junge Mädchen und unterhielten sich mit Schaukeln. »Ei,« riefen sie der Heranstürmenden zu, »ei, kleine Magd, was gibt es so Dringendes? Was läufst Du so?« Sie hatte noch keine Zeit gehabt, zu antworten, als auch schon der Jüngling nachgestürmt kam. Ein wunderbarer Wohlgeruch, dessen der Park voll war, schlug ihm entgegen und drang ihm jäh in Lunge und Herz hinab. Von den vier Mädchen war das eine in Weiß, das andere in Lichtrot, das dritte purpurn gekleidet, während das vierte ein Gewand von dem Rosa einer Eierschale trug, und waren alle schön und lieblich ohnegleichen und da und dort mit Perlen und Edelsteinen geschmückt, deren Glanz die Augen blendete. Eine Ahnung ergriff ihn, daß diese nicht gewöhnliche Menschen seien, flehend warf er sich auf die Knie zur Erde und sprach: »Ich bin noch jung, bin vom Wein trunken und weiß nicht, was ich tue. Ich verlief mich im Park, verzeiht, ich will zehntausend Tode darum erleiden.« Da entgegnete Weißkleid: »Hier seid Ihr in dem Schlosse der vielen Farben. Kein Mensch vermag hierherzukommen, auch Ihr kamt nicht aus Willen, sondern weil der glückliche Zufall Euch geführt. Wir wollen für heute abend etwas Wein und Speisen zurichten und all unsere jüngern und ältern Schwestern zu einem hübschen Feste laden. Wenn Ihr es nicht verwehrt, so bemüht Euch, bitte, uns zu begleiten.« »Ist es nicht schon tausendfältiges Glück, Verzeihung empfangen zu haben,« erwiderte Tao, »wie wagte ich es, Euch auch noch Umstände zu bereiten?« »Wir halten Euch für einen Mann von edler Bildung,« sagte die Schöne, »deshalb bitten wir Euch zu uns, hoffend, Ihr werdet es nicht übel aufnehmen.« Damit drängten oder zogen die vier Mädchen ihn mit sich fort, nach rückwärts, wo das Haus stand, in dem es Treppen von Edelgestein und kristallene Böden gab, so daß der Fuß stets nahe daran war, auszugleiten. Vor der Tür standen vier Dienerinnen, öffneten den gestickten Seidenvorhang und ließen die Ankömmlinge ein. Die Einrichtung der Zimmer war wunderbarer, als er je dergleichen gesehen: an dem Fuß der Wände stand Topf bei Topf, und die herrlichsten Blumen und Prachtpflanzen waren dareingesetzt.

Als der Tag zur Neige ging, flammten die Lampen und Feuer auf und verbreiteten ihren Schimmer. Die Edelsteine und Geschmeide funkelten wie Strahlen der Sterne. Bald war auch die Tafel gedeckt, eine Dienerin erschien und verkündete die Ankunft der Gäste. Die vier Jungfräulein eilten die Treppe hinab zum Empfang, ihre Geschmeide klirrten und gaben, eines mit dem andern, das Bild einer lieblichen Melodie. Dann kamen sie wieder in das Zimmer zurück: es waren zehn oder mehr junge Mädchen, und jedes von ihnen trug ein Kleid von anderer Farbe. Weißkleid stellte den Jüngling ihren Schwestern vor, unter denen befand sich aber eine Lilafarbene, die sagte sogleich: »Ich dachte, wir seien zu einem einfachen Feste hierher geladen, nun zeigt es sich, daß wir zu einer Hochzeit Glück wünschen sollen.« Damit drehte sie sich um und rief einer Magd zu, sie möge schnell Wein bringen, damit das neue Paar den Hochzeitsbecher miteinander trinke. Da sagte eine im dunkelgelben Kleid zu der Sprecherin: »Nun bist Du schon achtzehn Jahre, Pfirsichgesicht, und immer noch leichtfertig und ausgelassen wie ein Kind. Hast doch dein Lebtag noch keinen Mann gesehen, aber wie man den Hochzeitsbecher trinkt, darüber weißt du vortrefflich zu reden.« »Laßt uns nicht länger sprechen,« fiel ihnen die Hellrote ins Wort, »die Tafel ist gedeckt und fertig. Laßt uns unsere Plätze einnehmen, trinken und essen und ein liebliches Fest begehen!« Nun führte Weißkleid den Jüngling und ließ ihn an ihrer Seite sitzen, er spürte, wie ein Dufthauch von ihr kam, fein wie eine Nadel, deren Stich ihm bis in Mark und Bein hinunterdrang. Welches von den Mädchen er immer ansah, es war keins darunter, vor dem ihm nicht die Sinne vergehen wollten. Eine von ihnen trug ein goldenes Gewand, sie mochte fünfzehn bis sechzehn Jahre zählen, ihr langes Haar hing bis über den Nacken hinab, ihr Aussehen war zart und schmeichlerisch, und sie schien ihm lieblicher als die Frau im Monde. Er betrachtete sie, und seine Augen starrten wie bewußtlos. Weißkleid forderte ihn auf, ihr zuzutrinken, er aber hörte nicht. Da tauchte Weißkleid den kleinen Finger in den Wein, schnellte ihm einen Tropfen an die Stirn und sagte: »Bist Du um den Verstand gekommen?« Der Jüngling geriet in Verlegenheit: »Sie ist eine Fee,« antwortete er, »wahrlich, sie ist eine Fee.« Da zeigte Pfirsichgesicht mit dem Finger auf das Mädchen im goldenen Kleid und sprach zu Weißkleid: »Nun ist es kaum einen halben Tag her, daß unser Schneefräulein einen Mann bekommen hat, und schon wandelt sich seine Liebe. Schämst Du Dich nicht?« Weißkleid entgegnete nichts, heimlich aber faßte sie mit ihrer Hand des Jünglings Arm und sprach ihm zu, zu trinken. Er lehnte ab, er wolle nicht mehr trinken, er spürte nur die flaumige Zartheit ihrer Haut wie frische Keime und feine Knospen und dachte bei sich selber: »Bekäme ich ein Weib wie dieses, ich müßte sie in einem goldenen Zimmer verschließen.« Da sagte Weißkleid: »Eben noch hat er um ein verwirktes Leben Gnade erhalten und schon wachsen ihm die Gedanken ins Phantastische. Magd, bringe einen großen Becher her, Herr Tao muß zur Strafe trinken!« Der Jüngling wehrte sich, sie aber bestand auf ihrem Willen, und so trank er denn.

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Als der Morgen nahte, die Nachtwache aufhörte zu trommeln und der Wein getrunken war, verabschiedeten sich alle Schwestern, und Schneefräulein befahl einer kleinen Magd, den Jüngling ins Schlafzimmer zu führen. Kissen und Decken, dies fühlte er, waren wohlriechend und weich wie Pfirsiche, Blumen oder die Blüten des Weidenbaums. Aber der Wein, den er getrunken, ließ ihn nicht schlafen, er ging hinaus. Wolkenschatten glitten am Himmel dahin, der Glanz des Mondes war wie Wasser. So ging er allein in dem stillen Hof auf und ab, ließ den Kopf hängen und seufzte leise. Mit einem Male stieß er an eine junge Magd, die dort neben dem Wege stand: ihre schwarzen Haare flossen lang herab, ihr Kleid war zinnoberrot mit weißen Sprenkeln, ihr Gesicht traurig und die ganze Erscheinung voll tiefen Jammers. »Was stehst Du hier«, fragte der Jüngling, »in dünnen Kleidern bei tiefer Nacht? Fürchtest Du Dich nicht vor Reif und Tau?« »Ach,« entgegnete die junge Magd, »mein Glück ist von je so ärmlich gewesen. Vater und Mutter verlor ich schon, als ich noch ein Kind war. So wurde ich neben den Weg geworfen, niemand erzog mich, niemand erbarmte sich mein. So stehe ich immer hier in tiefer Nacht und stöhne lange gegen den Mond. Mir wäre besser, zu sterben, wie sollt' ich mich da fürchten vor Reif und Tau?« Der Jüngling betrachtete die Züge ihres Gesichts und ihre Gestalt: sie war fein und gebrechlich, lieblich und zart. Ihre Augen waren wie Herbstwasser, ihr Antlitz gleich den Blüten des Pfirsichs, und die zwei Reihen ihrer Tränen glänzten darauf wie Morgentau auf Frühlingsblumen. Schon als er ihre traurig-kalten Worte vernommen, war es ihm gewesen, als schwänge seine Seele sich gen Himmel, denn ihre Stimme zitterte vor Leid, daß man sie gar nicht zu Ende hören mochte. Nun faßte er das Mädchen am Arm und sprach: »Zwanzig Jahre bin ich alt und noch nicht verheiratet. Bekäme ich eine Frau wie Dich, ihr mein Herz mitzuteilen, die mich begleitet und mit mir liest, wär' ich ein Fürst, ich wollte keine andere. Sprich, möchtest Du es mit mir wagen?« – »Wenn Du mich rettest,« entgegnete sie, »entflöh' ich dem Meer der Bitternis, darein ich versunken bin. Und würde ich nichts als Deine Magd und Dienerin, so wollt' ich es auch von Herzen tun. Wie tät' ich es nicht als Frau und Freundin?« Da umfing er sie, zog sie an seine Brust und wischte ihr mit seidenem Tuch die Tränen fort. Eben wollte er noch etwas sagen, da hörte er sich beim Namen gerufen und eine kleine Magd hieß ihn, zu Schneefräulein zu kommen, sie warte seiner schon lange in ihrem Schlafzimmer. »Nachher magst Du wieder andere Mädchen belästigen«, sagte die Magd. Der Jüngling erschrak heftig über dieses Wort, und der Schweiß brach ihm in Tropfen aus aus allen Poren.

Mit einem Male erwachte er aus dem Traum und fand sich schlafend immer noch auf dem Felsen droben. Nur von jenem Wohlgeruch war etwas übriggeblieben, sein Ärmel und Vorkleid dufteten. Er wunderte sich darüber, stand auf und sah nun, daß schon die Abendröte an den Gebirgen fraß. Die Luft war kühl. Er wanderte einige Meilen weit vorwärts und wählte einen alten Tempel, der dort stand, zum Nachtquartier. Darin waren die Tische voll von Gästen, und einer sagte: »Fünfzehn Meilen nach Südwesten befindet sich der Park und das Landhaus der Familie Tan, die dort wohl viele tausend Arten Chrysanthemum gepflanzt hat. Jetzt ist die Zeit der Hochblüte. Drei Tage vor und nach dem Septemberfest aber ist es gestattet, das Wunder anzusehen und zu betrachten.« Der Jüngling war von Kindheit an ein leidenschaftlicher Liebhaber der Chrysanthemen gewesen und freute sich über die Kunde, doch war er immer noch von jenem Traum wie befangen. Schon hatte die Uhr viermal geschlagen, aber er vermochte immer noch nicht einzuschlafen.

Morgens erhob er sich früh, nahm Abschied von seinem Wirt und machte sich auf nach dem Blumenpark der Familie Tan. Als er sich bereits seinem Ziele näherte, kam er an einem verfallenen Tempel vorbei und bemerkte, daß es genau der gleiche war, den er in seinem Traum gesehen. Darob staunte er, noch mehr und ging weiter. Da spielten vier Mädchen auf einer Schaukel, genau an demselben Traumort. Verwundert ging er auf den Fußwegen umher und betrachtete die Blumen, da gab es rote, gelbe, violette, weiße, keine Farbe fehlte. Der Park war mehrere Morgen groß und allüberall mit Chrysanthemen bestanden. Weit sandte er seine Blicke aus, um die Herrlichkeit anzusehen, die wie eine Stickerei aus bunter Seide den Boden bedeckte, aber von dem Traum waren ihm seiner Seele Gedanken wie benommen, und es duldete ihn nicht, überall stehen zu bleiben. An Geländern ging es vorbei, um Bäume herum, stets auf dem Wege. Als er so in Gedanken vor sich hinschritt, sah er neben dem Kiespfad ein vereinzeltes Chrysanthemum stehen, das eine einzige ärmliche Blüte trug. Sie war zinnoberrot mit weißen Sprenkeln, wie roter Sand, auf den es geschneit hat. Die Vorübergehenden hatten sie zertreten, und sie war dem Tode nah. Da faßte den Jüngling Liebe zu der Blume. Er ging und wollte den Besitzer des Parkes um sie bitten. »Ihr seid ein Mann von edler Bildung,« sagte dieser, »wenn Ihr Chrysanthemen liebt, so will ich Euch einige auswählen und zum Geschenke machen. Diese eine unter allen ist wild neben dem Wege gewachsen und weder gepflegt noch begossen worden. Wie sollte ich es wagen, Euch ein so erbärmliches Stück zu schenken?« Da entgegnete Tao: »Ich liebe nur diese.« Der Besitzer war es zufrieden, Tao empfing die Blume und nahm sie mit sich nach Hause. Dort pflanzte er sie in einen Porzellantopf, stellte sie auf seinen Büchertisch, wartete ihrer und begoß sie sorgfältig. Aber es waren kaum zehn Tage vergangen, so schoß die Blume in Blüten auf, deren sie zwanzig, dreißig so groß wie Schüsseln trug. Von fern und nah strömten die Menschen herbei, sie zu betrachten, sie aber blühte ohne Unterlaß. Jene Chrysanthemumart, die jetzt in der Ostprovinz den Namen Zinnober im Schnee trägt, ist fast ausschließlich aus der Familie Tao hervorgegangen.

 

Gedruckt in der Didot-Antiqua in der
Spamerschen Buchdruckerei, Leipzig, im Herbst 1922


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