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Die Sintflut

In uralter Zeit gab es einmal ein Brüderlein und ein Schwesterlein, nicht älter als sechs, sieben Jahre, die mitsammen in die Landschule gingen. Dabei mußten sie an einem alten Tempel vorbei, wo sie eines Tages einen greisen Priester fanden, der vor dem Tempel saß. Er hatte einen verschwollenen Kopf und schwielige Füße und schien an einer schweren Krankheit zu leiden. »Ich habe schon drei Tage lang nichts gegessen,« sagte er zu den Kindern, »bin krank und hungrig und dem Tode nah. Sättigt mich!« Als die Kinder dies sahen, erbarmten sie sich seiner und gaben ihm alles, was sie Eßbares mitgebracht hatten. Am andern Tage trafen sie den Priester wieder, und abermals geschah es, wie am Tage zuvor, und also einige Male hintereinander, ohne daß selbst auch nur die Mienen ihres Gesichts die Gabe verweigert hätten. Einige Tage später fanden sie den Priester sitzend wie zuvor, aber seine Augen waren geschlossen, sein Kopf gebeugt und seine Lippen stumm. Er sprach kein Wort. »Seid Ihr nicht hungrig, Priester?« fragten ihn die Kinder. Der Priester öffnete ein wenig die Lider, blinzelte nach ihnen hinauf und sagte: »Ich habe nicht gegessen, was auf dem Feuer bereitet wird, mehr denn zehn Jahre lang. Was Ihr mir zu essen gegeben habt, liegt noch aufbewahrt in meinem tuchenen Sack. Aber ich empfinde Euer kindlich barmherziges Mitleid und will Euch aus der Not erretten.« Da erwiderten die beiden Kleinen: »Die Welt ist ruhig und friedlich. Wo gäbe es Not?« Er entgegnete: »Ich habe den Himmel betrachtet, nicht viele Tage werden vergehen, so wird die Welt sich in ein Wasserreich verwandeln. Bereitet ein Schifflein und nehmt Speise und Brennzeug für neunundvierzig Tage mit hinein! So könnt Ihr dem Unheil entgehen.« »Und an welchem Tage wird dies geschehen?« fragten die Kinder. »Ihr seht den steinernen Löwen,« sprach der Priester, »der vor dem Tempel steht. Wenn aus seinem Haupte Blut rinnt, so besteigt schnell Euer Schifflein, doch darf es nicht früher noch später geschehen.« Die Kleinen empfingen sein Geheiß, nahmen kniend Abschied von dem Priester und wollten gehen. »Denkt daran!« wiederholte er nochmals, »denkt daran!«

Als sie nach Hause kamen, bereiteten sie das Schifflein, die Speisen und alles, wie es ihnen der Priester befohlen. Jedesmal, wenn sie nun an dem alten Tempel vorüberkamen, kletterten sie hinauf und sahen nach dem Löwenkopf. Die Landleute, die vorbeigingen, wunderten sich darüber und fragten sie nach dem Grund. Da erzählten die Kinder die ganze Geschichte. Es befand sich aber ein Witzbold unter den Landleuten, der hörte die Sache: zur Zeit, als die Kinder aus der Schule kommen sollten, nahm er etwas Paprikabrei und bestrich damit den Löwenkopf, um sie zu betrügen. Als Brüderlein und Schwesterlein kamen, kletterten sie hinauf und sahen, daß es von dem Löwenkopf wie Blut so rot heruntertroff. Da eilten sie feuerschnell zurück, packten die Speisen zusammen und bestiegen das Schiff. Gleich darauf veränderte sich der Himmel und der Regen goß wie aus Fässern. Im Nu stand das Wasser einige Djang hoch und das Geschrei von Menschen und Tieren erschallte schauervoll, daß man es nicht ertragen konnte. Gebirge, Wälder, Städte und Dörfer ertranken, nur das Schifflein der beiden Kinder stieg mit dem Wasser, so daß es außer Gefahr blieb.

Als neunundvierzig Tage vorüber waren, ging die Flut zurück und das Schifflein blieb auf dem trockenen Lande sitzen. Sie suchten und sammelten nur ein, was irgend übrig geblieben, um davon ihr Leben zu fristen. Hunger, Durst, Kälte und Krankheit, nichts Bitteres blieb ihnen erspart.

Zehn Jahre waren vergangen und Brüderlein und Schwesterlein herangewachsen. Da sagte der Bruder zu der Schwester: »Kein Mensch lebt mehr auf der Welt, nur ich und du. Wenn wir sterben, stirbt die Welt. Dies kann nicht nach dem Herzen und dem Zwecke Himmels und der Erde sein. Wenn wir Mann und Frau würden, möchte die Welt aufs neue erstehen. Nichts könnte wohltätiger sein.« Aber die Schwester bekümmerte dies um der Blutsverwandtschaft willen. Als einige Tage vorüber waren, bat sie der Bruder noch heftiger. Doch die Schwester sagte: »Es würde uns verwirren und wir wären einander nicht mehr verwandt. Es wäre denn, daß der Himmel selbst es wollte. Ich darf es Dir nicht versprechen. Geh hin, nimm zwei Mühlsteine, bringe sie, wo eine Schlucht abstürzt, und lege die beiden einander gegenüber auf die Ränder der Schlucht. Dann wollen wir sie im gleichen Augenblick hinunterrollen lassen, und wenn die Mühlsteine einander unten wieder so begegnen, daß Mitte gegen Mitte paßt, so will ich Dein Weib sein.« So wurde denn der Versuch gemacht: da rollten die Steine zusammen.

»Des Himmels Wille ist sichtbar geworden,« sagte der Bruder, »was kannst Du nun noch dawider reden?« Da entgegnete die Schwester schweren Herzens: »Dies kann zu leicht geschehen, daß die Steine zusammenrollen. Ob es wirklich des Himmels Wille ist? Nimm Du einen Faden, so will ich eine Nadel nehmen. Von den beiden Rändern der Schlucht werfen wir sie dann zugleich gegen die Mitte. Trifft der Faden in das Öhr, so will ich es als himmlisches Gebot betrachten und nichts mehr dawider reden.« So versuchten sie es zum zweiten Male: und wieder traf der Faden das Ohr. Da beteten sie Himmel und Erde an und wurden Mann und Weib. Alle Menschen, die auf der Welt leben, sind ihre Nachkommen.


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