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Die Heilige

Kin Ta-Yung, ein Sohn aus alter Familie, heiratete die Tochter des Bürgermeisters Yu, namens Keng Niang, ein liebliches und tugendhaftes Mädchen, das ihn ebenso herzlich liebte wie er sie. Als nun infolge der Räuberwirrnisse die ganze Familie zersprengt wurde, nahm Kin Vater, Mutter und Weib mit sich, um nach Süden zu fliehen. Unterwegs traf er mit einem Manne zusammen, der sich gleichfalls mit seiner Frau auf der Flucht befand und sich mit Kin bekannt machte. Er nannte sich Wang aus Kuang-Ling, der achtzehnte Sohn seiner Familie, und erbot sich als Wegführer. Kin war darüber sehr erfreut, und sie wanderten nun und rasteten gemeinsam, bis sie an den Fluß gelangten. Da sprach Kins Frau heimlich zu Kin: »Laß uns nicht mit dem Manne auf einem Schiffe fahren! Er sieht oft heimlich nach mir, bewegt die Augen und verfärbt sich. In seinem Herzen lauert etwas Böses.« Kin wollte ihr willfahren, als aber Wang höchst dienstfertig ein großes Schiff mietete, selbst Kins Gepäck auflud und sich keine Mühe und Geduld verdrießen ließ, wagte Kin nicht, es abzuschlagen, zumal er dachte, jener habe auch eine Frau bei sich und es werde weiter nichts Übles geschehen. Die Frau bezog mit Keng Niang dieselbe Kajüte und war in Worten und Gedanken gleich freundlich und angenehm. Unterdessen saß Wang auf dem Vorderdeck des Schiffes und flüsterte leise mit dem Steuermann, mit dem er bekannt oder verwandt zu sein schien. Nach einiger Zeit ging die Sonne unter; die Fahrt auf dem Strome schien sich ins Uferlose zu bewegen, finster lag das Gewässer, Norden und Süden waren nicht mehr zu unterscheiden. Kin blickte um sich, alles war einsam und schreckenvoll und bedrängte die Seele mit Zweifeln und Bildern. Spät erst erhob sich der klare Mond am Himmel, doch weithin war nichts zu sehen als Schilf und Gras. Als sie landeten, lud Wang Kin und seinen Vater ein, aus der Tür zu treten, um der frischen Luft zu genießen. Dabei ergriff er die Gelegenheit und stieß Kin in den Strom. Kins Vater, der dies gesehen, wollte schreien, da schlug ihn der Steuermann mit dem Ruder nieder, daß er in das Wasser stürzte und ertrank. Kins Mutter hatte den Schrei vernommen, eilte hinaus und sah, was geschehen war. Da traf auch sie das Ruder des Steuermanns, und sie fand den Tod bei ihrem Gatten. Nun rief Wang: »Zu Hilfe!« da trat Keng Niang heraus. Sie wußte sogleich, was sich zugetragen. Als nun Wang vorgab, alle ihre Angehörigen seien ertrunken, schien keinerlei Schrecken sie zu befallen. Sie weinte nur und klagte, daß sie nun nicht wisse, wohin sich wenden. Wang ging hinein zu ihr und sprach: »Junge Frau, laßt von Eurer Betrübnis! Kommt mit mir nach King-Ling, zu Hause habe ich Äcker und Häuser und reichlich zu leben. Ich versichere Euch, daß Ihr keine Not leiden sollt.« Da ließ sie ab zu weinen und sagte: »Wenn mir dies vergönnt ist, so bin ich glücklich.« Wang freute sich sehr und pflegte ihrer mit Sorgfalt. Als es wieder Nacht geworden, zog er sie mit sich fort und flehte um ihre Liebe. Die Frau entschuldigte sich mit Unwohlsein. So ging er zu seiner eigenen Frau und übernachtete bei ihr. Eben hatte die erste Nachtglocke geschlagen, da geriet das Ehepaar in Streit, Keng Niang wußte nicht, aus welchem Grunde. Sie hörte die Frau nur sagen: »Der Donner wird Dich erschlagen um eine solche Tat.« Da schlug Wang das Weib. »Lieber sterben,« rief sie laut, »als mit dem Mordbuben im Ehebett liegen.« Wang ward zu Tode zornig, schleppte die Frau hinaus. Dann vernahm Keng Niang einen plumpenden Laut, wie wenn etwas Schweres ins Wasser schlüge.

Nicht lange, so kamen die Schiffahrer in King-Ling an, und Wang führte Keng Niang in sein Haus. Seine Mutter wunderte sich sehr, daß er eine andere Frau mit sich brachte, als die er zuvor gehabt, doch Wang sagte, jene sei in den Strom gestürzt und ertrunken, er habe sich nun mit dieser verheiratet. Dann kehrte er in sein Zimmer zurück und begann sie aufs neue zu bedrängen. Da lachte Keng Niang und sagte: »Ein Mann, schon über dreißig Jahre alt, und kennt noch nicht die gemeine Sitte! Jeder hat seinen Becher Weins in der Brautnacht, nur Dir, der Du reich und wohlhabend bist, sollte dies schwer fallen? Wie sollten wir voreinander bestehen, ohne daß zuvor der Wein die Scham betäubte?« Da freute sich Wang und ließ einen Trunk bereiten, um mit ihr zu trinken. Keng Niang ergriff den Becher, redete ihm zu, zu trinken, und feuerte ihn an mit vielerlei Reden und Zärtlichkeiten, so daß Wang allmählich trunken wurde und sich weigerte, mehr von dem Weine zu sich zu nehmen. Aber Keng Niang nahm einen noch größeren Becher, drängte sich an ihn, schmeichelte und sprach ihm zu. Da wagte er nicht, Nein zu sagen, und leerte den Becher nochmals. Nun war er völlig trunken, zog sich aus und bat sie, schnell zu Bett zu kommen. Keng Niang deckte den Tisch ab und verlöschte das Licht. Sie wendete vor, daß sie sich die Hände waschen wolle, ging aus dem Zimmer und kehrte dann mit einem Küchenmesser zurück. Im Finstern tastete sie nach Wangs Halse, Wang griff noch nach ihrem Arm und stöhnte wollüstig. Da schnitt Keng Niang mit Todeskraft zu, aber er lebte noch und erhob sich brüllend. Noch ein Schlag, dann fiel er tot zu Boden.

Seine Mutter schien etwas vernommen zu haben, kam herein und wollte fragen, was geschehen sei. Die Frau tötete auch sie. Unterdessen war Wangs neunzehnter Bruder erwacht. Keng Niang wußte, daß sie ihm nicht entfliehen könne, und wollte sogleich sich selber töten. Aber das Messer war stumpf und schnitt das Fleisch nicht an. Da öffnete sie die Tür und entfloh. Der neunzehnte Bruder verfolgte sie, aber sie stürzte sich in einen Teich. Er rief die Nachbarschaft, um sie herauszuholen. Doch sie war schon gestorben und sah im Tode lieblich aus und wie lebendig.

Als nun alle hingingen, Wangs Leichnam zu untersuchen, sahen sie auf dem Fenster einen Brief liegen. Sie öffneten ihn und lasen: Da erzählte die Frau ihr ganzes Unglück darin. »Sie ist eine Heilige!« riefen alle und beschlossen, Geld zu sammeln, um sie zu beerdigen. Als es tagte, drängten sich zahllose Zuschauer herzu, betrachteten ihr Gesicht und fielen vor ihr nieder. An einem einzigen Tage kamen hundert Taëls zusammen, und so begrub man sie im Süden der Stadt. Einige ruhmliebende Leute hatten ein Perlendiadem und prunkvolle Gewänder geschenkt, und alles, was zu der Bestattung vonnöten war, floß in Fülle und Reichtum herbei.

Als Kin ins Wasser gestoßen worden war, gelang es ihm, ein Brett zu fassen, so daß er dem Tode entging. Als der Abend nahte, gelangte er an den Huaifluß, wo er von einem kleinen Boote an Land gerettet wurde. Das Boot gehörte einem reichen Manne, dem greisen In, der es zu keinem andern Zwecke ausgerüstet hatte, als um Ertrinkende darin zu retten. Als Kin wieder zu sich selber kam, begab er sich zu dem Greise, um ihm zu danken. Der Alte sah ihn freundlich an und behielt ihn bei sich, als Lehrer seiner Söhne. Da Kin aber keinerlei Nachricht von den Seinen besaß, wäre er gerne fortgezogen, um nach ihnen zu forschen, und konnte sich nicht entschließen. Kurz darauf kam die Botschaft, ein alter Mann und eine alte Frau seien ertrunken aufgefunden worden. Kin gedachte seiner Eltern, lief hin und sah, sie waren es wirklich. Der Alte ließ ihnen Särge anschaffen, Kin befand sich in Verzweiflung, da kam abermals Botschaft, ein junges Weib sei aus dem Wasser gerettet worden und sage selber aus, sie sei die Frau des Herrn Kin. Kin wischte sich die Tränen von den Wangen, erstaunte und ging hinaus. Da kam eben das Weib des Weges daher, es war aber nicht Keng Niang, sondern die Frau jenes achtzehnten Sohnes. Heftig begann sie zu weinen, als sie Kins ansichtig wurde, und flehte ihn an, sie nicht von ihm gehen zu lassen. »Mein eigenes Herz ist schon verwirrt,« sagte Kin, »wie vermöchte ich noch andern zu raten?« Da weinte sie noch heftiger. Als nun In die ganze Sache erfuhr, freute er sich, denn dies sei ein Gewebe des Himmels, und redete Kin zu, das Weib zu sich zu nehmen. Doch Kin weigerte sich der Trauer wegen, dann aber auch, weil er den Tod der Seinen zu rächen gedachte und fürchtete, das schwache Weib würde ihm zur Last fallen. »Wenn Keng Niang nun aber noch lebte?« sagte da die Frau, »würdet Ihr auch sie wegen Eurer Trauer und der Rache von Euch gehen lassen?« Der Alte, dem ihre gütigen Reden gefielen, bat nun Kin, sie wenigstens vorläufig zu behalten. Damit war Kin denn einverstanden. Bei der Bestattung von Kins Eltern trauerte und weinte das Weib, als ob sie ihre eigenen Schwiegereltern verloren hätte.

Nach der Beerdigung aber nahm Kin Messer und Topf, um sich nach King-Ling aufzumachen. Da hielt das Weib ihn zurück und sagte: »Ich heiße Tang, schon meine Vorfahren haben in King-Ling gelebt und ich bin mit dem Sohn des Wolfes aus derselben Gegend. Wang aus Kuang-Ling ist ein Betrüger und die Räuber auf Flüssen und Seen sind fast alle seine Genossen. Suche keine Rache, denn Du wirst nur Unheil finden.« Nun wußte sich Kin keinen Rat mehr.

Zu dieser Zeit verbreitete sich die Kunde von der Frau, die ihren Feind getötet, und wurde weit und breit unter genauer Nennung aller Namen erzählt. Auch Kin kam die Geschichte zu Ohren, seine Freude war groß, aber größer noch sein Schmerz. Er gab dem Weibe eine Absage und sprach: »Dem Himmel sei Dank, ich bin um nichts beraubt worden. Eine Heilige hat sich unter den Meinen befunden, diese Frau, wie ertrüge ich es gegen mein Herz, mit einer andern zu leben?« Die Frau aber meinte, er habe ihr ein Versprechen getan und wollte nicht, daß es mitten im Zuge gebrochen würde. Sie war es zufrieden, seine Magd oder Nebenfrau zu sein, wenn er sie nur behielt.

Nun lebte zu dieser Zeit ein General, namens Yüan, ein Bekannter von In, der, als er nach Westen fahren wollte, bei In Aufenthalt nahm und den jungen Kin kennen lernte. Er gefiel ihm sehr wohl, Yüan bat ihn sich zum Schreiber aus. Kurz darauf machten Räuber einen Ausfall, Yüan vollbrachte eine gewaltige Heldentat, und da Kin ihn bei dem Geschäfte gut beraten, ernannte er ihn zum Hauptmann und kehrte zurück. Dann feierte Kin die Hochzeitsgebräuche mit Tang und nahm sie mit sich nach King-Ling, um Keng Niangs Grab zu besuchen. Sie kamen über den Djinfluß, beabsichtigten, zuvor die schöne Gegend des Kinschan zu besehen, und fuhren eben mitten auf dem Strome. Da fuhr ein kleines Boot an ihnen vorbei, in dem sich eine alte und eine junge Frau befanden. Kin wunderte sich sehr, wie ähnlich die Jüngere Keng Niang sei, doch das Boot fuhr rasch vorüber. Währenddessen sah die jüngere Frau durch das Fenster nach Kin hin, da schienen ihm ihre Gesichtszüge noch bekannter. Staunend und zweifelnd wagte er es nicht, zu fragen, schnell rief er laut: »Die Entenschar fliegt über den Himmel!« Die junge Frau vernahm dies und antwortete gleichfalls mit lauter Stimme: »Will die gefräßige Gans die Fische fressen, nach denen die Katze schnuppert?« Dies nämlich waren Scherzworte gewesen, die sie sich in vergangenen Zeiten heimlich im Zimmer zugeworfen hatten. Kin erschrak heftig, ließ das Schiff umkehren und näherte sich dem Boote. Es war in Wahrheit Keng Niang. Die ältere im schwarzen Kleide stützte sie, um ihr beim Hinübersteigen behilflich zu sein: Dann umarmten sich Keng Niang und Kin und weinten vor Freude und Leid. Alle Mitreisenden wurden gerührt. Tang näherte sich der Frau, indem sie ihr alle Ehren erwies, die der Hauptfrau zukommen. Keng Niang wunderte sich darüber und fragte, was es zu bedeuten habe. Kin erzählte nun alles, wie es sich zugetragen, da faßte Keng Niang Tangs Hand und sagte: »Nur einmal haben wir auf dem Schiffe miteinander gesprochen, aber im Herzen mußte ich oftmals Deiner gedenken. Du hast meine Schwiegereltern begraben helfen, ich selbst bin Dir zu großem Danke verbunden. Was sollen mir gegenüber diese Ehrengebräuche?« Es sollte nach dem Alter gehen, Tang war ein Jahr jünger als Keng Niang, deshalb nannte diese sie ihre jüngere Schwester.

Lange schon hatte Keng Niang im Grabe gelegen und wußte selber nicht, wie viele Jahre darüber hingegangen waren. Plötzlich rief eine Stimme: »Keng Niang, Dein Mann ist nicht gestorben, Du kannst Dich wieder mit ihm vereinigen!« Sogleich erwachte sie wie aus einem Traume, fühlte zu allen vier Seiten nichts als Wände, glaubte, ihr Leib sei gestorben und begraben: sie empfand nur eine leichte Dumpfheit, aber keinerlei Leid. Nun gab es in der Gegend einige Elende, die hatten gesehen, wie reich und wertvoll die Gaben waren, die mit ihr begraben worden, öffneten das Grab und zerschlugen den Sarg. Eben wollten sie suchen, was es zu rauben gab, da fanden sie Keng Niang, zu ihrem Schrecken, noch am Leben und wurden von Furcht befallen. Keng Niang hatte Angst, sie würden sie töten, bat und sprach: »Dank Euch, daß Ihr gekommen seid und ich noch einmal Himmel und Sonne sehen darf! Nehmt allen Schmuck von meinem Haupte! Dann geht hin und verkauft mich an ein Kloster, so könnt Ihr zu Gelde kommen. Ich aber werde Euch nicht verraten.« Die Räuber warfen sich mit der Stirn zur Erde und sagten: »Heilige und heldenhafte Frau, Geister und Menschen ehren Euch allesamt! Wir sind kleine Leute, arm und haben nichts zu leben, deshalb taten wir dieses Unmenschliche. Verratet uns nur nicht, so wollen wir schon zufrieden sein. Wie wagten wir es, Euch an ein Kloster zu verkaufen!« »Aber ich will es selbst«, entgegnete Keng Niang. Da antwortete einer von den Räubern: »Es gibt hier eine Frau, Keng aus Djin Kiang mit Namen, verwitwet und kinderlos. Wenn sie Euch sieht, wird sie sich sicherlich von Herzen freuen.« Keng Niang dankte ihm für den Rat, nahm selbst ihre Perlen und Schmuckgegenstände vom Haupte und schenkte alles den Räubern. Die Räuber wagten nicht, die Geschenke anzunehmen, sie aber drang sie ihnen auf: da fielen sie vor ihr zur Erde und nahmen an. Dann brachten sie sie sogleich nach Frau Kengs Hause und gaben vor, der Sturm habe ein Schiff zerbrochen und vernichtet. Frau Keng entstammte einer wohlhabenden Familie, war Witwe und lebte allein. Sie war erfreut, als sie Keng Niang erblickte, und hielt sie wie ihr eigenes Kind. Jetzt hatten Mutter und Tochter eben vom Kinschan nach Hause kehren wollen. Keng Niang erzählte die Geschichte mit allen Einzelheiten. Dann begab sich Kin auf das Boot, um die Mutter zu begrüßen, die ihn sogleich wie ihren Schwiegersohn ansah. Er lud sie zu sich in sein Haus, sie verharrte einige Tage und kehrte dann zurück. Sie blieben Zeit ihres Lebens in ununterbrochenem Wechselverkehr.


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