Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Der Augenkranke

Ein Mann aus dem Lande südlich des Flusses, namens Ku, wurde, während er auf Reisen in Tsi weilte, von einer schmerzhaften Augenkrankheit befallen. Beide Augen waren ihm dick geschwollen, stöhnend lag er Tag und Nacht, aber weder Ärzte noch Arzneien halfen. So vergingen zehn und mehr Tage, ohne daß seine Qualen sich verminderten. Wenn er die Augen schloß, tauchte stets ein mächtiges Gebäude vor ihm auf: er blickte in vier oder fünf Höfe, Tor hinter Tor stand flügelweit geöffnet und ganz hinten schien es, als bewegten sich allerlei Menschen daselbst durcheinander. Aber sie waren zu weit entfernt, man vermochte nicht zu unterscheiden, was sie trieben. Eines Tages sah er mit scharf gesammelten Gedanken in das Bild hinein: da war es ihm mit einem Male, als befinde er sich inmitten des Gebäudes. Er durchschritt drei Höfe hintereinander. Alles war menschenleer. Dann kam er an Sälen vorbei, die waren einander gegenüber gen Norden und Süden gebaut und mit roten Teppichen bedeckt. Kaum aber hatte er dies in acht genommen, als ihm auffiel, daß die Zimmer erfüllt waren von einer Schar kleiner Kinder, von denen einige aufrecht saßen, andere auf Knien krochen, und waren so viele, daß keine Zahl sie zählen konnte. Ku staunte und wußte nicht, was er davon denken solle, da kam ein Mensch aus dem Hause hinten hervor, sah sich suchend um und sprach: »Der junge Königssohn sagte soeben, irgendwo fern muß ein Gast an der Türe stehen. Wahrhaftig, da ist er.« Sogleich lud er ihn ein, hineinzukommen, doch wagte es Ku nicht, der Einladung Folge zu leisten. Der andere aber nötigte ihn so sehr, daß er zuletzt mit ihm hineinging. Er fragte, wo er sich befände? »Im Schlosse des neunten Königssohns«, erwiderte der Führer, der Prinz sei eben von einem fieberhaften Leiden neu gesundet, da kämen nun Verwandte und Freunde, Glück zu wünschen. »Ihr habt es gerade gut getroffen«, setzte er hinzu. Noch hatte er seine Rede nicht geendet, als schon ein zweiter herbeigelaufen kam und die beiden zur Eile antrieb. Endlich gelangten sie in eine Gegend, wo sich, einem geschnitzten Fenster mit rotem Geländer gegenüber, ein Saal erhub, der nach königlicher Art von neun Säulen getragen wurde. Dort stiegen sie die Treppe hinauf und sahen, daß die Tafel schon voll von Gästen war. Ein Jüngling, der mit dem Gesicht gen Norden saß, fiel Ku in die Augen: er erkannte sogleich, daß dieser des Königs Sohn sein müsse, und warf sich unverzüglich auf die Knie nieder. In dem überfüllten Saale hatten sich alle erhoben, der Prinz aber hieß Ku, sich neben ihn mit dem Gesicht nach Osten setzen. Der Wein hatte schon gekreist, Trommeln und Musik erschollen, dann erschien eine Schar Schauspielerinnen, um das Stück »Hua Fung Tsu« aufzuführen.

.

Drei Akte des Schauspiels waren vorüber. Da vernahm Ku plötzlich die Stimme des Wirtes, bei dem er wohnte, und seines Dieners: sie riefen ihn zum Mittagsmahl. Sie standen am Bettkopf und riefen mehrere Male. Seine Ohren hörten den Ruf sehr deutlich, er setzte ihn in Verlegenheit, denn er fürchtete, der Prinz werde etwas davon merken. Doch niemand schien den Laut zu hören. Da gab Ku vor, sich umziehen zu wollen, und ging hinaus. Er schlug die Augen auf und merkte, daß die Sonne sich eben im Zenith befand. Sein Diener stand vor dem Bette. Er sah es, dann wurde ihm bewußt, daß er die Herberge ja gar nicht verlassen hatte: ein Schmerz durchdrang ihn, rasch wollte er noch einmal zurück. So befahl er denn dem Diener, die Tür zu schließen und zu gehen, und machte wieder die Augen zu.

Da tauchte das prächtige Gebäude wieder vor ihm auf, genau wie vorher. Hastig begab er sich hinein und schritt die alten Wege dahin. Aber wo zuvor die vielen kleinen Kinder gewesen waren, gab es deren nicht mehr. Statt ihrer gewahrte er zahllose Greise in den Zimmern: sie hatten Haare wie Seegras, ihre Hand war gedörrt wie Fischrücken, und saßen oder lagen rings in dem Saale umher. Als sie Ku's ansichtig wurden, greinten sie ihn an: »Was ist denn das für ein Hergelaufener? Kommt er nicht daher, uns anzugaffen und auszuhorchen?« Ku erschrak, wagte gar nicht zu antworten und lief schnell nach den hinteren Trakten des Schlosses. Als er in den Saal gelangt war, nahm er Platz. Des Königssohnes Kinn, merkte er, war nun mit einem Barte von mehr als Fußeslänge bewachsen. Als er Ku erblickte, fragte er ihn lachend, wo er gewesen? Das Spiel des Stückes war unterdessen über sieben Akte fortgeschritten, so befahl er ihm denn einen großen Becher zur Strafe zu leeren. Als dann das Schauspiel zu Ende war, reichte man ihm die Liste der Stücke, aus der er »Fung Tsu's Hochzeit« auswählte. Dann kredenzten die Schauspielerinnen mit Wein gefüllte Kokosschalen von fünf oder mehr Maß Inhalt, Ku aber erhob sich und lehnte ab, mehr zu trinken, indem er sich auf die Krankheit seiner Augen berief, die ihm verbiete, über Maß zu zechen. »Ihr seid augenkrank?« sagte der Prinz. »Hier ist ein Arzt mit an der Tafel, laßt Euch von ihm untersuchen.« Sogleich erhob sich am Osttisch einer der Gäste, verließ seinen Platz und kam zu Ku: mit den Fingern öffnete er ihm die Lider, dann träufelte er ihm mit einer Edelsteinnadel eine weiße, unschlittartige Salbe hinein. Darauf hieß er ihn, die Augen schließen und ein wenig schlafen. Sogleich befahl der Prinz einigen Hofdienern, ihn ins Hinterzimmer zu führen und ruhen zu lassen. So lag er einige Zeit, er spürte, daß der Bettumhang weich und wohlriechend war, und schlief endlich ein. Als er kurze Zeit so geschlummert hatte, hörte er wieder die Musik: Kling, klang! und erwachte. Er vermeinte, das Theater sei noch nicht zu Ende, schlug die Augen auf und blickte um sich: er befand sich in der Herberge, ein Hund leckte an dem Öltrichter, der sich kling, klang! in der Kanne bewegte. Aber die Augenkrankheit war wie fortgewischt. Noch einmal machte er die Augen zu: doch von jenem Hause war nichts mehr zu sehen.


 << zurück weiter >>