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Der Flötenspieler

Der Fürst von Tsin hatte eine junge Tochter, bei deren Geburt man dem Fürsten einen Stein brachte, der, als er ihn zerschlug, einen Klumpen grünen Edelsteins enthielt. An seinem ersten Geburtstage nun war eine Schautafel für das Kind hergerichtet worden, die mit den mannigfaltigsten Dingen bedeckt war, die Kleine aber langte nach nichts als nach diesem Stein, spielte nur mit ihm und wollte ihn gar nicht mehr aus den Händen lassen, so daß sie davon den Namen Spieledelstein erhielt. Als sie heranwuchs, wurde sie lieblicher an Gestalt und Antlitz als irgend etwas in der Welt, war begabt und mit keiner andern zu vergleichen. Da sie schön auf der Syrinx spielte und, ohne gelernt zu haben, von selbst die Melodien zu bilden verstand, hieß der Fürst von Tsin den geschicktesten Künstler eine Syrinx aus dem grünen Edelsteine schlagen. Wenn das Mädchen darauf blies, tönte es wie das Singen des Phönix; darum ehrte und liebte der Fürst das Kind und ließ einen Palast mit vielen Stockwerken errichten, um es darin zu hüten. Der Palast erhielt den Namen Phönixpalast, der hohe Turm, der sich davor erhub, hieß Phönixturm. Als Spieledelstein fünfzehn Jahre alt war, wollte der Fürst von Tsin einen Gatten für sie suchen. Spieledelstein aber beschwor ihn und sprach: »Kein anderer soll es sein, als der lieblich auf der Syrinx zu blasen versteht, damit sein und mein Spiel zusammenklingen. Diesen will ich nehmen, aber einen anderen möchte ich nicht.« Da ließ der Fürst allüberall nach einem Syrinxbläser suchen, es fand sich aber keiner, der ihm entsprochen hätte.

Eines Tages nun befand sich Spieledelstein auf ihrem Palaste. Sie rollte den Vorhang auf, der Himmel war klar und wolkenrein und das Mondlicht glänzte wie ein Spiegel. Da befahl sie den Mädchen, Weihrauch zu zünden, nahm die grüne Edelsteinsyrinx zur Hand und hub am Fenster sitzend an zu spielen. Töne und Melodik waren so klar und hoch, es war, als müßte man sie bis in den Himmel vernehmen können. Der leise Windhauch wehte immerzu, da schien es plötzlich, als begleite draußen jemand ihre Melodien: bald klang es nah, bald fern und setzte Spieledelstein heimlich in Verwunderung. Sie hörte auf zu blasen, da schwieg auch das Spiel des anderen still, nur was von den Tönen übriggeblieben, hallte noch leise schwebend in der Nacht. Spieledelstein stand im Fenster: eine Trauer überkam sie wie um etwas Verlornes. So starrte sie hinaus, bis es Mitternacht geworden. Der Mond war gesunken, der Weihrauch herabgebrannt. Da legte sie die Syrinx in ihr Bett und ging widerwillig schlafen.

Da aber träumte ihr, das Tor des südwestlichen Himmels habe sich weit geöffnet, und fünffarbiger Wolkenglanz, taghell spiegelnd und leuchtend, ströme daraus hervor. Ein schöner Jüngling mit einem Storchfedernhute kam auf einem bunten Phönix aus den Himmeln herabgeritten, stand bei dem Phönixturm und sprach zu ihr: »Ich bin der Geist vom Taihuagebirge und dir vom Himmel zum Gatten bestimmt. Am Mittherbsttag werden wir uns wiedersehen.« Er sprach nicht mehr: vom Hüftgürtel löste er eine rote Edelsteinflöte und begann am Geländer lehnend zu spielen. Da schlug der bunte Phönix die Flügel, sang und tanzte mit, und Phönixsingen und Flötenton klangen harmonisch zusammen durch alle Höhen und Tiefen: süß drangen die Töne ins Ohr und füllten es an mit berückendem Schall. Spieledelsteins Seele und Gedanken verwirrten sich: »Wie heißt diese Melodie?« fragte sie. »Es ist die Melodie des Taihuagebirges, der erste Satz davon«, entgegnete der schöne Jüngling. »Kann man sie lernen?« fragte Spieledelstein. »Bist du nicht schon mein Weib? Warum sollte ich sie Dich nicht lehren können?« sprach der Jüngling. Er schwieg, ging auf sie zu und faßte sie bei der Hand. Darüber erschrak das Mädchen so sehr, daß sie erwachte. Aber ihre Augen waren noch ganz voll von Traum.

Als es Tag geworden war, sagte sie es dem Fürsten. Der Fürst erzählte es wieder seinem Minister Meng Ming und sandte diesen aus nach dem Taihuagebirge, die Sache zu erforschen. Dort sprach ein Dorfschulze zu Meng Ming: »Seit Mittjuli ist ein seltsamer Mensch hier in der Gegend erschienen. Er hat sich eine Hütte auf dem funkelnden Sternberg geflochten und wohnt allein daselbst. Jeden Tag pflegt er herabzukommen, um Wein einzukaufen, den trinkt er dann in der Einsamkeit. Ununterbrochen spielt er die Flöte bis zum Abend, ihre Töne sind an jedem Ort in unserer Gegend vernehmbar. Wer sie hört, vergißt seine Müdigkeit. Woher er aber gekommen ist, weiß man nicht.« Da stieg Meng Ming auf das Gebirge. Als er den funkelnden Sternberg erreicht hatte, wurde er wirklich eines Mannes ansichtig, der einen Federhut mit einer Storchenfeder trug. Sein Antlitz war wie aus Edelstein gemeißelt, seine Lippen rot und der Ausdruck seines Gesichtes so frei und überirdisch heiter, als lebe er in einer Welt jenseits der Menschen. Meng Ming ahnte sogleich, daß er nicht gewöhnlicher Art sein könne, beugte sich und fragte nach seinem Namen. »Mein Vatersname ist Schao,« entgegnete der Jüngling, »mein Vorname Sche. Wer seid Ihr? Wozu kommt Ihr her?« »Ich bin des Landes Minister,« sprach Meng Ming. »Mein Herr steht im Begriffe, einen Gemahl für seine Tochter zu suchen. Da sie trefflich die Syrinx bläst, so will sie keinen andern nehmen, als der mit ihr gemeinsam zu spielen vermöchte. Nun vernahm der Fürst, daß Ihr viel von der Musik versteht, und dürstet, Euch einmal zu sehen. Deshalb hat er mich ausgeschickt, um Euch zu holen.« »Ich verstehe kaum etwas von den Tonarten,« erwiderte jener, »außer diesem geringen Flötenspiel besitze ich keinerlei Kunst. Ich wage es gar nicht, dem Befehle zu folgen.« »Laßt uns zusammen zu unsrem Herren gehen,« sagte Meng Ming, »dann wird sich alles erweisen.«

So fuhr denn Meng Ming mit ihm in einem Wagen zurück, erstattete zuerst Bericht und führte Schao Sche dann dem Fürsten von Tsin vor, damit er ihm huldige. Der Fürst saß auf dem Phönixturm, Schao Sche aber warf sich nieder und sprach: »Ich bin ein Untertan vom Land und Gebirge und ein unwissender Mensch. Ich verstehe nichts von den Zeremonien, erbarme Dich meiner und verzeihe mir!« Der Fürst von Tsin betrachtete Schao Sche und gewahrte den freien und heiteren Ausdruck seines Gesichtes, der wahrhaft überirdisch schien. Schon freute er sich lebhaft des Ankömmlings, ließ ihn neben sich sitzen und fragte: »Ich höre, du wissest trefflich die Flöte zu spielen. Kannst du auch auf der Syrinx blasen?« »Ich kann nur die Flöte spielen, aber nicht die Syrinx«, entgegnete Schao Sehe. »Ich habe einen Syrinxbläser gesucht,« sagte der Fürst, »die Flöte aber ist nicht dasselbe.« »Er ist kein Partner für meine Tochter«, wandte er sich an Meng Ming und befahl, den Fremden fortzuführen. Da sandte Spieledelstein eine Dienerin zu dem Fürsten und ließ ihm sagen; »Flöte und Syrinx – sie haben beide das gleiche Gesetz. Wenn der Gast so trefflich die Flöte spielt, warum läßest Du ihn nicht seine Kunst zeigen?«

Der Fürst von Tsin ließ sich den Rat gefallen und befahl Schao Sche, zu spielen. Schao Sche nahm die rote Edelsteinflöte zur Hand: der Edelstein war leuchtend und fettig, sein roter Schein spiegelte sich in den Augen der Menschen. Er war wirklich eine seltene Kostbarkeit. Schao Sche spielte den ersten Satz: langsam erhob sich ein klarer Wind. Beim zweiten Satz kamen aus den vier Himmelsrichtungen bunte Wolken dahergeflogen, beim dritten gewahrte man weiße Störche in der Luft gegeneinander tanzen. Pfauen saßen paarweise auf den Bäumen, hunderterlei Vögel sangen harmonierend mit. Nach einer Weile waren sie auseinandergeflogen.

Der Fürst von Tsin war höchlich ergötzt. Unterdessen hatte Spieledelstein hinter dem Vorhang das ganze Wunder mit angesehen, freute sich und sprach: »Wahrlich, das ist er, der mit mir spielen soll.« Der Fürst fragte Schao Sche: »Welches ist der Ursprung und der Unterschied zwischen Flöte und Syrinx?« »Im Anfang«, erwiderte Schao Sche, »wurde die Syrinx erfunden. Dann aber lernte man größere Einfachheit und erzeugte aus der vielröhrigen die einröhrige Flöte.« »Und wie kommt es,« fragte der Fürst von Tsin abermals, »daß Du mit Deinem Spiel die Vögel herzulocken vermagst?« »Die Flötentöne«, entgegnete Schao Sche, »ähneln dem Gesange des Phönix. Der Phönix aber ist König der hunderterlei Vögel. Deshalb glaubten sie alle, den Phönix singen zu hören, und flogen daher. Einst hat der Kaiser Sun die Tonart Schao Schao erfunden, da ist der Phönix selber auch erschienen. Kann man aber den Phönix herlocken, warum nicht auch die übrigen Vögel?« Der Fürst von Tsin vernahm, daß des Sprechers Stimme groß und tönend war, wurde immer freudiger und sagte: »Ich habe eine Lieblingstochter, namens Spieledelstein. Sie versteht viel von der Musik, ich möchte sie keinem tauben Mann geben. So soll sie denn Deine Gattin sein.« Schao Sche's Gesicht wurde ernst, er beugte sich viele Male und sprach: »Ich bin ein Bauersmann vom Gebirge. Wie wagte ich es, mich mit dem Adel der Fürstin zu verbinden?« »Schon als meine Tochter noch klein war,« erwiderte der Fürst, »schwur sie, nur einen Syrinxbläser zum Manne zu nehmen. Deine Flöte aber dringt durch Himmel und Erde und bezwingt alle Kreatur, sie ist weit besser als die Syrinx. Auch hatte meine Tochter einmal einen Traum: heute ist just Mittherbsttag, es ist wahrlich des Himmels Wille. Darum weigre Dich nicht!« Da warf Schao Sche sich zur Erde und dankte.

Nun wollte der Fürst durch seinen Wahrsager einen glückverheißenden Tag auswählen lassen. Aber der Wahrsager sprach: »Heut ist Mittherbsttag, die Zeit ist günstig. Voll steht der Glanz des Mondes auf dem Himmel, alle Menschen auf Erden atmen beglückt.« Da ließ der Fürst sogleich ein Bad bereiten und Schao Sche hinführen, damit er sich reinige. Als er sich umgezogen hatte, brachte man ihn nach dem Phönixschloß, wo er mit Spieledelstein zusammengegeben wurde. Tags darauf ernannte der Fürst Schao Sche zum Beamten, Schao Sche aber kümmerte sich nicht um sein Amt, ob er auch Beamter geworden, sondern hauste tagaus, tagein im Phönixschloß. Er aß keine Speisen, die auf dem Feuer bereitet waren, und trank nur zuweilen einige Schalen Weins. Spieledelstein lernte von ihm das Geheimnis seines Atmens, so daß am Ende auch sie selbst ohne Speise zu leben vermochte. Außerdem lehrte er sie eine Melodie, mit der man den Phönix herbeilocken konnte.

Ein halbes Jahr war verflossen, als eines Nachts die beiden Gatten im Mondschein auf ihrer Flöte spielten. Da erschien mit einem Male ein violetter Phönix und stand links vom Phönixturm, ein roter Drache wickelte sich auf und stand rechts vom Phönixturm, Schao Sche aber sprach: »In der oberen Welt war ich ein Geist. Da sandte mich der Himmelsgott herab, als die Bücher der Geschichte in Unordnung geraten waren, damit ich sie ordne. So wurde ich im siebzehnten Jahre des Kaisers Djou Schüan-Wang auf Erden geboren als ein Sohn der Familie Schao. Bis zum Tode Schüan-Wangs waren die Geschichtsschreiber unfähig. Ich habe die Geschichtsbücher vom Anfang bis zum Ende der Zeit gereiht und geordnet, um sie fortzuführen. Wegen meiner Arbeit an den Geschichtsbüchern nannte mich das Volk Schao Sche. Dies aber ist nun schon über hundert Jahre her. Der Himmelsgott befahl mir, als Berggeist im Huagebirge zu herrschen. Weil aber die Ehe mit Dir schon vorbestimmt war, deshalb hat er uns durch die Töne der Flöte zusammengebracht. Nun jedoch dürfen wir nicht länger auf dieser Welt verweilen, Drache und Phönix sind gekommen, uns abzuholen. Wir müssen fort.«

Spieledelstein wollte noch von ihrem Vater Abschied nehmen, Schao Sehe aber sprach: »Nein. Wer sich vergeisten will, muß alle seine Gedanken vom Irdischen lösen. Wie vermöchte er sich noch an Verwandte zu binden?« Nun bestieg Schao Sche den roten Drachen, Spieledelstein den violetten Phönix: so ritten sie vom Phönixturm hinweg durch das Gewölk. In derselben Nacht aber hat man im Taihuagebirge den Phönix singen hören.

Als am nächsten Morgen die Schlafmagd dem Fürsten berichtete, was geschehen war, versagte diesem die Sprache. Dann rief er jammernd: »So gibt es in Wahrheit dergleichen Erlebnisse mit Geistern und Genien? Wenn jetzt ein Drache oder Phönix käme, mich fortzuholen, ich ließe mein Land, wie man einen zerrissenen Schuh fortwirft!« Er sandte viele Menschen aus nach dem Taihuagebirge, die beiden zu suchen. Aber sie blieben verschwunden, und niemand hat sie mehr gesehen, noch je von ihnen gehört.


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