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Dschang J und der Minister

Dschang J aus dem Lande We war ein hochbegabter Mann und vortrefflicher Redner. Als er nach beendigten Studien im Lande Tsu weilte, wurde er eines Diebstahls bezichtigt und erhielt so heftige Schläge, daß sein ganzer Leib voll von Wunden war. Da der Richter sah, daß er beinahe gestorben wäre, sprach er ihn frei. Einige Leute erbarmten sich seiner und brachten ihn nach seinem Hause. Als seine Frau ihn so elend und jämmerlich zugerichtet erblickte, begann sie bitterlich zu weinen: »Daß Du heute so der Verachtung preisgegeben bist, das kommt alles nur von dem Studieren und Reden. Wärst Du in der Heimat geblieben und hättest als ein Bauer Dein Feld bestellt, wie würdest Du je so tief ins Unglück geraten sein?« J machte seinen Mund auf und fragte seine Frau, ob seine Zunge noch da wäre? Die Frau mußte lächeln und sagte: »Nun ja, die ist noch da.« »Solange meine Zunge noch da ist,« entgegnete J darauf, »brauchen wir keine Furcht vor Armut zu haben.«

Als seine Wunden halbwegs verheilt waren, kehrte er nach seiner Heimat We zurück. Da vernahm er, daß sein Mitschüler und bester Freund Su Tsin im Lande Tsiao Minister geworden sei, und gedachte hinzugehen und ihn aufzusuchen. Eines Tages traf J einen Kaufmann vor seiner Haustür. Er fragte ihn nach Namen und Herkunft, da erwiderte jener, er heiße Kie und komme aus dem Lande Tsiao. »Ich hörte,« fragte ihn J nun sogleich, »daß Su Tsin Minister in Tsiao geworden, ist es auch wirklich wahr?« »Wer seid Ihr?« erwiderte Kie. »Seid Ihr ein Verwandter oder Bekannter unseres Ministers? Weshalb fragt Ihr danach?« Da antwortete J: »Wir waren Schulgenossen und so innig befreundet wie Brüder.« »Wenn dem so ist,« meinte Kie, »warum geht Ihr nicht zu ihm hin? Er wird Euch sicherlich dem Fürsten von Tsiao empfehlen können. Mein Geschäft hier ist erledigt und ich bin eben im Begriffe, nach Tsiao zurückzukehren. Wenn es Euch nicht unangenehm ist, so reiste ich gerne mit Euch zusammen.« Da freute sich Dschang J und fuhr mit ihm fort.

Als sie im Lande Tsiao ankamen, sagte Kie zu J: »Meine Familie wohnt außerhalb der Stadt, und da ich zu Hause einiges zu erledigen habe, so muß ich mich vorläufig von Euch verabschieden. In der Stadt gibt es überall Gasthöfe, so könnt Ihr in irgendeinem von ihnen Herberge nehmen. Nach einigen Tagen suche ich Euch dann wieder auf.«

Dschang J stieg aus dem Wagen, nahm Abschied von Kie und quartierte sich, in die Stadt gekommen, in einem Gasthof ein. Tags darauf schrieb er eine Namenskarte und machte sich auf, Su Tsin zu besuchen. Die Wächter meldeten ihn aber nicht, und es vergingen fünf Tage, ehe sein Name in die Listen eingetragen war. Doch Tsin war sehr beschäftigt und ließ ihm sagen, er möge an einem anderen Tage wiederkommen. J geriet darüber in Zorn und wollte die Stadt verlassen. Sein Wirt jedoch hielt ihn zurück und sagte: »Zwar habt Ihr trotz Eurer Anmeldung noch keinen Bescheid von dem Minister bekommen. Läßt er Euch nun aber rufen, was soll ich sagen, wenn Ihr mir zuvor davongegangen seid? Ihr müßt hier bleiben, und dauerte es länger als ein Jahr, so wagte ich doch nicht, Euch fortzulassen.« Da wurde Dschang J sehr traurig und fragte, wo Kie wohne? Doch niemand wußte es ihm zu sagen.

Als nun wieder einige Tage vergangen waren, schrieb Dschang J einen Abschiedsbrief an den Minister. Darauf ließ Su Tsin ihm sagen, er wolle ihn am nächsten Tage empfangen. J borgte sich Kleider und Schuhe von dem Gastwirt und ging, kaum daß es Morgen geworden war, hin, um den Empfang zu erwarten. Su Tsin hatte schon vorher das Gefolge seine Plätze einnehmen lassen und befohlen, die Mitteltür, durch welche geehrte Gäste eingelassen werden, zu verschließen, so daß der Besuch durch den Nebeneingang eintreten mußte. Eben wollte Dschang J die Treppe hinaufsteigen, als ihn die Dienerschaft bedeutete der Herr Minister habe Besuch, er müsse noch ein weniges warten. So blieb J am Fuße der Treppe stehen, oben vor dem Saal sah er zahlreiche Beamte sich beugen, dann kamen wieder allerlei Leute vorüber, die amtliche Berichte abzustatten hatten. Endlich nach langer Zeit, als die Sonne schon gegen Westen ging, vernahm man im Saale eine Stimme rufen: »Wo ist nun der Gast?« Dann kamen einige Diener und sagten, der Minister lasse den Besuch zu sich bitten. J brachte seine Kleider in Ordnung und stieg die Treppe hinauf. Er hatte gehofft, Su Tsin würde aufstehen, um ihn zu begrüßen, aber dieser rührte und regte sich nicht. J ertrug stumm sein Leid und verbeugte sich. Nun erst erhob sich Tsin von seinem Platze und streckte ihm ein wenig die Hand entgegen, als Erwiderung auf seinen Gruß. Dann fragte er J, ob er bei guter Gesundheit geblieben, seit sie sich nicht mehr gesehen.

J's Zorn wuchs immer höher und er gab keine Antwort, unterdessen meldete die Dienerschaft, daß zum Essen gerichtet sei. Da sagte Tsin zu J: »Beschäftigt, wie ich bin, mußte ich Dich lange warten lassen. Ich fürchte, Du wirst hungrig sein. Deshalb habe ich für Dich etwas zum Essen bereiten lassen, nach der Mahlzeit können wir weiter miteinander sprechen.« Darauf ließ Tsin für J einen Tisch außerhalb des Saales decken, er selbst aber speiste im Saal und seine Tafel war voll von allerlei Speisen und Gerichten. Vor J jedoch wurde nichts hingesetzt als ein Fleisch und Gemüse. Am liebsten hätte er nichts gegessen, aber er war sehr hungrig, auch dachte er, daß er dem Wirte nun so viel schuldig sei, und hoffte, wenn er mit Su Tsin zusammenkäme, etwas Geld von ihm zu erhalten, um damit Aufenthalt und Heimreise zu bezahlen, falls Tsin ihn schon nicht empfehlen mochte. So gehorchte er denn der Not, würgte seine Scham hinunter und hob die Stäbchen. Von weitem sah J, wie auf Tsins Tisch sich die Gläser und Teller häuften. Was er übrig ließ, um es an die Diener zu verteilen, war immer noch besser, als was man J zu essen gegeben. In J's Herzen wuchsen Zorn und Schmerz zugleich: als Tsin ihn nach der Mahlzeit wieder in den Saal rufen ließ und er ihn abermals nicht aufgestanden fand, war seine Geduld zu Ende. Er ging auf Tsin zu und sagte scheltend: »Ich glaubte, Du würdest unsrer alten Freundschaft nicht vergessen haben, deshalb bin ich so weit hierhergekommen. Wer hätte ahnen sollen, daß Du so niedrig mit mir verfahren würdest! Wo ist denn die Liebe geblieben, die einst zwischen den Schulgenossen bestand?« Su Tsin blieb regungslos. »Deiner Begabung nach«, antwortete er, »hättest Du um vieles früher hochkommen müssen als ich. Nie hätte ich gedacht, daß Du so arm werden würdest. Ich könnte Dich allerdings dem Fürsten von Tsiao empfehlen, damit Du zu Reichtum und Ansehen gelangtest, allein ich fürchte, Du hast kein festes Ziel und lässest deine Kräfte verkommen, so daß die Schuld auf mich gefallen wäre, wenn Du dem Lande nichts geleistet hättest.« »Ein großer Mann vermag sich selber durchzusetzen,« rief Dschang J, »wozu bedürfte es noch Deiner Empfehlung?« »Kannst Du Dir aus eigener Kraft Reichtum und Ansehen erwerben,« erwiderte Su Tsin, »was willst Du dann noch bei mir? Doch weil ich unserer alten Liebe gedenke, so will ich Dir ein Stück gelben Goldes schenken, das nimm und tue dann, was Dir gefällt.«

Sogleich ließ er durch die Diener Dschang J das Gold überreichen, doch dieser sprang jäh auf, warf das Gold auf den Boden und entfernte sich voll Zorn. Su Tsin hielt ihn nicht zurück.

Als J in den Gasthof zurückkehrte, sah er, daß man sein Gepäck schon vor die Tür gestellt hatte. Als er sich erkundigte, weshalb dies geschehen sei, meinte der Wirt, da J nun den Minister zu sehen bekommen, habe dieser sicherlich eine andere Unterkunft für ihn besorgt, so hätte er denn das Gepäck gleich hinausgestellt. Dschang J schüttelte den Kopf und murmelte mehrmals hintereinander: »Es ist, um außer sich zu geraten.« Sogleich zog er Kleider und Schuhe aus und gab sie dem Wirte zurück. Da sagte dieser: »Vielleicht seid Ihr gar kein Mitschüler unseres Ministers und habt uns nur etwas vorgelogen?« Dschang J faßte die Hände des Wirtes, hielt sie in den seinen und erzählte ihm dann ausführlich von seiner gewesenen Freundschaft mit Su Tsin und wie verächtlich ihn dieser bei der heutigen Zusammenkunft behandelt habe. »Er ist vielleicht zu hochmütig,« entgegnete der Wirt, »aber wo die Stellung bedeutend und die Macht groß ist, da stellt sich Hochmut von selber ein. Aber er ist dennoch gütig, hätte er Euch sonst das Gold geschenkt? Würdet Ihr's angenommen haben, so hättet Ihr Eure Schuld bei mir bezahlen können und überdies Zehrgeld für die Heimreise übrig behalten. Weshalb habt Ihr es fortgeworfen?« »Ich war erregt und konnte nicht anders,« sagte Dschang J, »deshalb warf ich es fort. Nun habe ich kein Stück Geldes in Händen, was soll denn nur geschehen?« Während sie so miteinander sprachen, kam plötzlich der Kaufmann Rie daher, um sich nach J zu erkundigen: »Ich habe Euch die letzten Tage nicht besucht,« sprach er, »wollet es, bitte, entschuldigen. Habt Ihr inzwischen mit dem Minister gesprochen?« J geriet aufs neue in Zorn, schlug mit der Faust auf den Tisch und schalt Su Tsin einen Treulosen. »Herr,« sagte Kie, »Ihr redet doch wohl gar zu scharf. Was erregt Euch so?« Da erzählte der Wirt sogleich das ganze Erlebnis, das J mit dem Minister gehabt hatte. »Nun kann ich meine Schuld nicht bezahlen und auch nicht nach Hause fahren,« rief Dschang J, »o wie traurig und elend bin ich doch!« Da sagte der Kaufmann: »Ich war es, der Euch damals zugeredet hat, hierherzukommen. Nun habt Ihr's hier übel getroffen, die ganze Schuld ist mein. Von Herzen gern will ich den Aufenthalt hier für Euch bezahlen und Wagen und Pferd anspannen lassen, um Euch wieder nach We zu bringen. Wie denkt Ihr darüber?« »Mir steht das Gesicht nicht mehr nach We,« entgegnete J, »ich möchte lieber nach dem Lande Tsin reisen, nur fehlt es mir leider am Reisegeld.« »Also nach Tsin wollt Ihr reisen?« fragte Kie forschend. »Habt Ihr vielleicht auch dort einen Mitschüler?« »O nein,« antwortete J, »aber unter den sieben Ländern im Reiche der Mitte ist gegenwärtig keines so mächtig wie das Land Tsin, und seine Macht kann dem Lande Tsiao obsiegen. Ich gehe nach Tsin, denn wenn ich dort einen staatsmännischen Posten erhielte, so würde ich mich an Su Tsin für die erlittene Unbill rächen.« »Wenn Ihr nach einem andern Lande gehen wolltet,« entgegnete darauf Kie, »so könnte ich wenig für Euch tun. Wollt Ihr aber nach Tsin, da paßt mir wahrlich nichts besser. Denn eben beabsichtige auch ich nach Tsin zu fahren, um dort einen Verwandten zu besuchen, so könnt Ihr wieder mit mir reisen. Es ist doch angenehm, wenn wir einander Gesellschaft leisten können.« »Es ist kein Mensch auf der Welt so gut wie Ihr,« rief Dschang J, »Su Tsin würde sich zu Tode schämen müssen.« Sogleich schloß er Brüderschaft mit Kie, achtmal beugten sie das Knie voreinander. Kie bezahlte die ganze Wirtsschuld für Dschang J, dann fuhren sie zu Wagen miteinander nach Tsin.

Unterwegs ließ Kie Kleider für Dschang J fertigen, kaufte ihm Sklaven und bezahlte mit Freuden alles, dessen J bedurfte. In Tsin angekommen, verteilte er viel Gold und Seide unter die Diener und Beamten des Königs von Tsin, damit sie Dschang J empfehlen und vor den Ohren des Königs loben möchten. Der König bereute eben sehr, daß Su Tsin ihm und seinem Lande entgangen war. Da er nun hörte, wie alle Diener und Beamten Dschang J empfahlen und lobten, ließ er ihn sogleich zu sich rufen, machte ihn zum Gastbeamten und beriet mit ihm alle Fragen der Politik und der Staatskunst. Eines Tages nun wollte sich Kie von Dschang J verabschieden, da sprach Dschang J unter Tränen: »Früher war ich so arm und elend, und nur durch Deine Kraft und Hilfe bin ich im Lande Tsin zu gutem Ansehen gekommen. Vergönne mir, mich vorerst für Deine Wohltaten dankbar zu erweisen, warum willst Du so früh von hier fort?« Da lachte Kie und sprach: »Ich habe früher nicht gewußt, welch ein ausgezeichneter Mann Du bist. Einer aber hat Dich früh erkannt: das ist der Minister Su Tsin.« Dschang J konnte vor Verwunderung über diese Rede kein Wort hervorbringen, und es verstrich eine ganze Weile, ehe er zu sprechen anhub: »Du warst es, der mir in allen Dingen geholfen hat,« sagte er zu Kie, »und nun sagst Du, der Minister Su Tsin habe mich erkannt?« Da entgegnete Kie: »Als unser Minister den Plan gefaßt hatte, alle Länder des Reiches von Osten bis nach Westen miteinander zu verbünden, fürchtete er, das Land Tsin könnte das Land Tsiao bekriegen wollen und so die Vollendung des Werkes verhindern. Deshalb dachte er, keiner außer Dir dürfe die Zügel im Lande Tsin in die Hände bekommen. So sandte er mich, als Kaufmann verkleidet, nach We, um Dich durch mich nach Tsiao zu locken. Doch da er fürchtete, Du würdest Dich mit einer geringen Stellung begnügen, tat er absichtlich so hochmütig und verachtend, um Deinen Ehrgeiz zu reizen. Du aber hast dadurch wirklich den Gedanken bekommen, nach dem Lande Tsin zu gehen. Der Minister war es, der mir dann soviel Geld gab und auftrug, Dich ausgeben zu lassen, wieviel immer Du bedurftest, doch sollte es stets zu dem Zwecke geschehen, daß Du Dir auf diese Weise die Macht in Tsin erwürbest. Nun bist Du in Tsin in hohem Amte, ich aber muß jetzt zurück, unserem Minister Bericht zu erstatten.« Da seufzte Dschang J und sprach: »Ach, ich war von Su Tsins List umgeben und wußte es nicht, wie weit bin ich doch hinter Su Tsin zurück! Danke Du, bitte, Eurem Minister und sage ihm: solange er im Lande Tsiao herrsche, werde ich es nicht wagen, das Wort ›Krieg gegen Tsiao‹ auszusprechen. So hoffe ich, mich für den Edelmut dankbar zu erweisen, der meines Glückes Begründer war.«


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