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Der Rächer

Am Ende der Dynastie Han lebte ein Minister, namens Tsao Tsao, der durch Gewalttaten auf den Königsthron von We gelangte. Er vergiftete die Kaiserin und zahlreiche Hofdamen und Prinzessinnen und zwang zuletzt den Kaiser, ihn zum Herrscher über We zu machen. Als er dies erlangt, ließ er einen eigenen Palast für den König von We errichten und fahndete, als dieser vollendet war, allüberall nach den wunderbarsten Blumen und seltsamsten Früchten, um sie im hinteren Parke des Palastes anzupflanzen. So sandte er auch einen Beamten nach dem Lande Wu, damit er Orangen herbeischaffe. Der Fürst von Wu suchte die größten Orangen aus, an die achtzig Körbe voll, und ließ diese Tag und Nacht nach der Stadt Ye schaffen.

Als die Träger nun inmitten ihres Weges waren, wurden sie müde und hielten Rast in der Nähe eines Gebirges. Da sahen sie einen Herrn auf sich zukommen, der einäugig war, an einem Fuße hinkte und einen weißen Rohrhut auf dem Kopfe trug. Er hatte ein bequemes Kleid von schwarzer Farbe an, machte eine Verbeugung und fragte: »Seid Ihr ermüdet von Eurer Schulterlast? Ich armer Freund des Tao will gern für jeden von Euch sein Gewicht ein Stück Weges tragen. Wie denkt Ihr darüber?« Die andern freuten sich sehr, da trug der Herr eines jeden Traglast fünf Meilen weit, aber jedes Stück, das er getragen hatte, war leichter geworden, so daß sich die Leute sehr darüber wunderten. Ehe er sich nun entfernte, sprach er zu den Beamten: »Ich bin ein alter Freund des Königs von We, noch aus seiner Heimat her. Mein Zuname ist Tsuo, mein Vorname Tse, mein Ehrenname Yüan Fang. Im Tao bin ich der Herr vom schwarzen Horne genannt. Wenn Ihr in die Stadt Ye kommt, so bitt' ich Euch zu sagen, Tsuo Tse ließe grüßen.« Dann schwang er die Ärmel und war sogleich verschwunden.

Als die Orangen in die Stadt Ye gebracht worden waren, öffnete Tsao Tsao eigenhändig die Körbe, aber es fanden sich nur die Schalen darin. Tsao war sehr bestürzt und fragte die Beamten, die nunmehr ihr Erlebnis mit Tsuo Tse erzählten. Tsao wollte ihnen keinen Glauben schenken, als der Wächter plötzlich meldete, ein Herr, der sich Tsuo Tse nenne, wünsche den großen König zu sprechen. Der König ließ ihn hereinführen, da sagten die Beamten: »Dies ist derselbe, den wir unterwegs getroffen haben.« »Mit welchem Zaubermittel hast Du meine schönen Früchte verschwinden gemacht?« fragte Tsao scheltend. »Dies ist nicht möglich«, erwiderte Tse, nahm eine Orange und öffnete sie: da waren alle wohl gefüllt und überdies von besonders süßem Geschmacke, und nur die Tsao selber öffnete, waren sämtlich leer und bloße Schale. Tsao erstaunte darob noch mehr, ließ Tse niedersitzen und begann, ihn auszufragen. Tse verlangte vorerst nach Wein und Fleisch, Tsao ließ sie ihm bringen. Da trank er des Weines fünf Scheffel, ohne betrunken, und aß das Fleisch eines ganzen Schafes, ohne satt zu sein. »Welch ein Mittel besitzest Du,« fragte Tsao, »um solches zustande zu bringen?« »Ich armer Freund des Tao«, erwiderte Tse, »wohnte in Li in der Provinz Si-Tsüan im Kreise Kie-Ling, auf dem Uo-Megebirge, und hatte mich dreißig Jahre mit dem Tao beschäftigt, als ich eines Tages plötzlich eine Stimme aus der Felswand vernahm, die meinen Namen rief. Als ich zusah, war nichts zu finden. So ging es mehrere Tage, da wurde die Felsenwand von einem Donner gesprengt. Darin fand ich drei Himmelsbücher, ihr Name ist ›die Himmelsbücher Ten Kie‹. Das erste heißt ›Im Himmel verschwinden‹, das andere heißt ›In der Erde verschwinden‹, das dritte heißt ›Vor den Menschen verschwinden‹. In dem Buche ›Im Himmel verschwinden‹ steht geschrieben, wie Du mit den Wolken fliegen und mit dem Winde fahren magst, leise im Fliegen steigst Du hinein in den Raum des Himmels. In dem Buche ›In der Erde verschwinden‹ steht geschrieben, wie Du durch Gebirge und Felsen gehst. In dem Buche ›Vor den Menschen verschwinden‹ steht geschrieben, daß Du gleich den Wolken wandern kannst mit der ganzen Welt, Deinen Leib unsichtbar machen und Deine Gestalt verwandeln. Schwerter lässest Du fliegen und schleuderst Dolche, daß sie das Haupt dessen vom Rumpfe mähen, der vor Dir steht. Du, Fürst, bist von Stande doch schon der Höchste unter den Mandarinen, warum trittst Du nicht zurück und gehst mit mir nach dem Uo-Megebirge, um Dich zu vergeisten? Ich werde Dir die drei Himmelsbücher zu eigen geben.« »Schnell möchte ich weiterfließen, lange schon,« entgegnete Tsao, »und rasch abwerfen, was mich hindert. Aber es ist im Palaste nicht einer, der mich vertreten könnte.« Da lachte Tse: »Liu Pe aus J-Djou ist ein Nachfahr aus kaiserlichem Stamme, warum lässest Du ihn nicht an Deine Stelle treten? Denn tust Du es nicht, so lasse ich mein Schwert fliegen, daß es Dir das Haupt vom Rumpfe mäht.« Da fuhr Tsao wütend auf und rief: »Er ist sicherlich ein Spion des Liu Pe!« und ließ ihn durch das Gefolge festnehmen. Da lachte Tse noch gewaltiger und wollte gar nicht damit enden. Tsao befahl, mehr als zehn Amtsknechte sollten ihn festhalten und prügeln. Tsuo Tse aber schlief dabei ein und schnarchte behaglich, er hatte keinerlei Schmerz davon verspürt. Tsao wütete, ließ ihm einen großen Holzring mit eisernen Nägeln um den Hals legen und zuschließen und ihn so in den Kerker werfen. Aber der Mann, den er ihm eigens zur Bewachung nachsandte, gewahrte, daß das Schloß abgefallen war und Tse auf der Erde ausgestreckt lag, ohne im geringsten verletzt zu sein. So hielt ihn Tsao sieben Tage lang gefangen, ohne ihm zu essen und trinken zu geben. Aber als man ihn wieder zu Gesichte bekam, saß Tse hoch aufgerichtet auf der Erde und seine Wangen waren röter als zuvor.

Da sah Tsao, daß er ihm nichts anhaben konnte, und ließ ihn vor sich bringen. Nun war es gerade ein Tag, da alle Beamten nach dem Palaste kamen, um ein Festmahl daselbst zu feiern. Da erbot sich Tse, der zur allgemeinen Verwunderung Holzschuhe trug, für die Gäste herbeizuzaubern, was immer der König wünschen mochte. »Laß Drachenleber zur Suppe kommen«, rief Tsao. Da malte Tse mit Pinsel und Tusche einen Drachen an die weiße Wand und strich einmal mit dem Ärmel darüber hin: da öffnete sich des Drachen Leib und er entnahm ihm die Leber. Darauf wünschte Tsao, weil es just um die Jahreszeit war, da alle Blumen verwelkt sind, Pfingstrosen zu sehen, und schon wuchs eine doppelt blühende aus einem goldenen Blumentopf, den sie hereingebracht hatten. Mit solchen und ähnlichen Zaubereien verstrich unter dem Staunen aller Gäste die Zeit, da ergriff Tsuo Tse einen edelsteinernen Becher, schenkte ihn voll Wein und rief Tsao zu: »Großer König, wenn Du diesen Becher Wein zu trinken vermagst, so wirst Du tausend Jahre leben.« »Trink zuerst!« rief der König. Da nahm Tse eine edelsteinerne Nadel aus dem Hut und teilte damit den Wein in dem Pokal in zwei Teile. Dann trank er die eine Hälfte und gab die andere dem König. Da begann dieser zu schelten, daß er vor dem König zu trinken gewagt, im selben Augenblick verwandelte der Becher sich in einen weißen Falken und flog um den Palast. Während nun die Beamten alle in die Luft starrten, war Tsuo Tse plötzlich verschwunden.

Als die Diener meldeten, daß Tsuo Tse aus dem Tor gegangen war, rief der König: »Dergleichen Zaubervolk muß aus dem Wege geräumt werden, soll es nicht Schaden stiften!« und sandte sogleich einen Offizier mit Soldaten nach, um ihn zurückzubringen. Der Offizier war zu Roß und ritt vor den Soldaten her. Tsuo Tse in seinen Holzschuhen ging langsam vor ihm her, fliegend trieb der Offizier sein Roß, doch vermochte er nicht, ihn einzuholen. Als Tsuo Tse in die Nähe eines Gebirges kam, ging er mitten hinein in eine Herde. Der Offizier nahm einen Pfeil hervor und wollte schießen, Tse war aber plötzlich nicht mehr zu sehen. Da ließ der Offizier allen Schafen den Kopf abschneiden und kehrte zurück.

Als nun der Hirtenknabe seine Schafe tot sah, begann er heftig zu weinen. Mit einem Male vernahm er, daß der Kopf eines Schafes, der auf der Erde lag, anhub zu sprechen und sagte: »Du kannst die Köpfe der Schafe wieder zurück auf ihre Hälse setzen.« Der Knabe erschrak, schlug die Hände vors Gesicht und lief davon. Plötzlich hörte er jemand hinter ihm drein rufen: »Fürchte Dich nicht! Da hast Du Deine Schafe wieder«, und als er sich umwandte, waren alle Schafe wieder lebendig. Er wollte noch fragen, wie dies zugegangen, aber Tsuo Tse entfernte sich bereits, sein Gang war wie ein Fliegen.

Da kehrte der Knabe nach Hause zurück und erzählte es seinem Herrn, der Herr wieder berichtete es dem Tsao Tsao. Da ließ Tsao Tsao Tsuo Tse's Bildnis malen, damit er darnach gefangen werden könnte. Schon binnen drei Tagen hatte man in und außerhalb der Stadt drei- bis vierhundert Menschen festgenommen, die allesamt das Aussehen Tsuo Tse's hatten. Da führte der König persönlich fünfhundert gepanzerte Soldaten nach der Richtstätte und ließ die Gefangenen sämtlich enthaupten. Da aber stieg aus jedem der Hälse ein schwarzer Rauch, wirbelte in die Luft, sammelte sich und rann zu einem einzigen Tsuo Tse zusammen. Dieser winkte in der Luft einen weißen Storch zu sich heran, daß er ihm als Reittier diene, klatschte in die Hände und lachte: »Bald wird kommen die Zeit, daß der Böse an sein Ende gelangt.« Tsao ließ mit Bogen nach ihm schießen, da erhob sich plötzlich ein heftiger Sturm, die Leichen standen alle auf, hielten ihren Kopf in den Händen und hüpften daher, um sich auf Tsao zu stürzen. Die Beamten erschraken und keiner kümmerte sich mehr um den andern. Als dann der Sturm sich legte, waren die Leichname verschwunden. Tsao aber war vor Schreck erkrankt, keine Arzte und Heilmittel vermochten ihm zu helfen.

Drei Jahre später verschlimmerte sich Tsao's Krankheit. Eines Tages lag er in seinem Schlafzimmer, bis zur dritten Nachtglocke. Da fühlte er einen Schwindel im Kopf und vor den Augen. Er stand auf und lehnte sich an einen Tisch. Plötzlich hörte er im Palaste ein Geräusch, wie wenn man Seide zerreißt. Erschrocken blickte er sich um, mit einem Male sah er die Kaiserin, die Hofdamen und die Prinzessinnen alle, die er getötet, die Leiber von Blut besudelt, in den schwarzen, traurigen Wolken stehen. Er hörte sie rufen, sie wollten ihr Leben wieder haben. Da zog er rasch sein Schwert und hieb in die Luft. Ein heftiger Krach erdröhnte, die südwestliche Seite des Palastes war eingestürzt. Vor Schreck fiel Tsao zur Erde und wurde von seinen Dienern in einen anderen Palast getragen. In der nächsten Nacht aber vernahm er draußen vor dem Palaste unaufhörlich die Laute wehklagender Männer und Weiber. Dann, als es tagte, rief er alle seine Beamten zu sich und sprach: »An dreißig Jahre habe ich unter Kriegern und Rossen zugebracht, doch habe ich nie an die höheren Mächte geglaubt. Jetzt ist es anders geworden, mein Leben geht zu Ende, aber der Himmel wird mir nicht vergeben.« Darauf stöhnte er einmal laut auf, Tränen entstürzten wie Regen seinen Augen, und war im gleichen Augenblicke tot.


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