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Die Musik des Untergangs

Zur Zeit, als der Fürst von We, Ling Kung, eben neu gekrönt worden war, begab er sich persönlich zu dem Nachbarfürsten Ping Kung von Djin, um ihm seinen Besuch abzustatten. Denn dieser hatte einen Palast von solcher Pracht aufführen lassen, daß die Fürsten aller Länder zu ihm kamen, ihm Glück zu wünschen. Der Palast aber hieß Se Ki. Als nun Ling Kung auf seiner Fahrt an den Pufluß kam, nahm er in einem Gasthof Nachtquartier. Doch vermochte er nicht einzuschlafen, obwohl es schon mitten in der Nacht war. Es klang ihm in den Ohren, als höre er die Töne einer Zither. Er warf einen Mantel um, saß im Bette auf, lehnte sich in die Kissen und horchte hinaus. Die Klänge waren sehr leise, aber wohl zu unterscheiden. Niemals hatte er dergleichen gehört, es war eine Tonart, die nie zuvor von Menschenohren vernommen worden. Er fragte das Gefolge, aber alle sagten aus, sie hörten nichts.

Ling Kung war der Musik gewohnt und liebte sie. Nun besaß er einen Hofmusikus, Küan mit Namen, begabt, neue Tonarten zu erfinden und die Melodie der vier Jahreszeiten zu setzen, daß es Frühling, Sommer, Herbst und Winter schien, wenn er spielte. Deshalb liebte ihn Ling Kung sehr und nahm ihn überall mit, wo immer er sich aufhielt. So schickte er denn auch jetzt das Gefolge, Küan zu rufen. Küan kam. Das Lied draußen war noch nicht zu Ende. »Hörst du es?« fragte Ling Kung, »es klingt wie die Musik der bösen Geister.« Küan lauschte gespannt, nach einer Weile wurde es still. »Ich kenne die Melodie schon im allgemeinen«, sagte Küan. »Noch eine Nacht brauche ich, so kann ich sie aufschreiben.« So blieb denn Ling Kung noch eine Nacht am Orte. Um Mitternacht begann das Lied der Zither wieder zu tönen. Der Hofmusikus nahm seine Zither und übte, bis er zuletzt des Liedes Schönheiten vollkommen in sich aufgenommen hatte.

Als sie nun in Djin ankamen, huldigten und glückwünschten und die Zeremonien beendet waren, ließ Ping Kung auf der Se Ki-Terrasse ein Festmahl rüsten. Man hatte schon reichlich vom Weine genossen, da sagte Ping Kung: »Längst hörte ich, daß Ihr in We einen Musikus namens Küan habt, der begabt sein soll, neue Tonarten zu erfinden. Ist er jetzt nicht hier?« »Er ist im Erdgeschoß unter der Terrasse«, erwiderte Ling Kung. »So bitte ich Euch, ihn um meinetwillen herzurufen«, entgegnete Ping Kung. Ling Kung rief, da kam Küan auf die Terrasse herauf. Gleichzeitig ließ Ping Kung auch seinen eigenen Hofmusikus Kuang kommen; dieser war blind, ein Führer geleitete ihn hinauf. Die beiden warfen sich an der Treppenschwelle nieder und begrüßten die Fürsten. Da fragte Ping Kung: »Sagt an, Küan, welcherlei neue Tonarten gibt es in letzter Zeit?« Küan berichtete: »Unterwegs«, sagte er, »vernahm ich gelegentlich etwas Neues. Gern hätte ich eine Zither, um es Euch vorzuspielen.«

Sogleich befahl Ping Kung dem Gefolge, einen Tisch bereitzustellen, die alte lackbaumhölzerne Zither herbeizubringen und vor Küan hinzulegen. Küan stimmte zuerst die sieben Saiten, dann begann er die Finger zu regen und spielte. Schon nach wenigen Tönen lobte Ping Kung die Melodie. Diese aber war noch nicht zur Hälfte gediehen, da legte der blinde Musikus Kuang die Hand auf die Zither und sprach: »Diese Melodie des Reichsunterganges sollt Ihr nicht spielen. Laßt ab davon!« »Was meint Ihr damit?« fragte Ping Kung. Da antwortete Kuang: »Als die Zeit der vergangenen Dynastie zu Ende ging, erfand ein Musiker namens Yiang eine Tonart, die den Namen Meme trägt. Es ist diese. Der Kaiser Djou hörte sie und vergaß darüber seine Müdigkeit. Aber bald darauf wurde er von dem Fürsten Wu Wang gestürzt, da floh der Musiker Yiang mit seiner Zither gen Osten und sprang in den Pufluß. Wenn nun einer, der die Musik liebt, dort vorüberkommt, so tönt diese Melodie aus dem Wasser herauf. Hat Küan sie unterwegs gehört, so kann es nur am Puflusse gewesen sein.«

Ling Kung wunderte sich heimlich über die Wahrheit dieser Rede. Ping Kung aber fragte: »Was kann es schaden, dieses Lied einer gestürzten Dynastie zu spielen?« »Djou verlor das Reich durch sinnliche Musik,« erwiderte Kuang, »dies ist eine Melodie des Unheils, man soll sie nicht spielen.« »Ich aber liebe die neue Musik«, rief Ping Kung. »Küan soll mich das Lied zu Ende hören lassen.« Da stimmte Küan abermals die Saiten und beschrieb in seinem Spiel alle Zustände der Seele zwischen Ruhe und Bewegung. Es war wie Reden und Weinen. Ping Kung, freudig erregt, fragte Kuang: »Wie nennt sich diese Tonart?« »Sie nennt sich Tsing Schang«, erwiderte Kuang. »Tsing Schang ist wohl die traurigste von allen?« fragte Ping Kung. »Tsing Schang ist wohl traurig,« entgegnete Kuang, »aber noch trauriger ist die Tonart Tsing Tse.« Da fragte Ping Kung: »Kann ich Tsing Tse zu hören bekommen?« »Unmöglich«, fiel ihm Kuang ins Wort. »Wenn frühere Herrscher Tsing Tse zu hören bekamen, so waren es tugendhafte und aufrechte Männer. Heute ist der Herrscher Tugend gering, sie dürfen diese Tonart nicht vernehmen.« »Ich aber brenne in Leidenschaft für neue Musik,« rief Ping Kung, »du darfst es mir nicht verweigern.«

Da konnte Kuang nicht anders, nahm die Zither und spielte. Kaum war der erste Satz zu Ende, so kam eine Schar schwarzer Störche von Süden herangeflogen und sammelte sich auf den Toren und dem Gebälk des Palastes. Man konnte sie zählen, es waren acht Paare. Kuang spielte weiter. Da schlugen all die Störche die Flügel und sangen. Dann ließen sie sich in Reihen auf der Treppe zur Terrasse nieder, und standen acht und acht auf jeder Seite. Kuang spielte den dritten Satz. Die Störche reckten die Hälse, sangen, schlugen die Flügel und tanzten. Hochauf schallte die Melodie bis zum Himmel und der Milchstraße. Ping Kung klatschte in die Hände in großartigem Ergötzen, all die menschenvollen Tische schwollen vor Freude, oberhalb und unterhalb der Terrasse tanzten und sprangen alle Zuschauer, das Schauspiel zu bewundern. Ping Kung ergriff einen Becher von weißem Edelstein, angefüllt mit dem köstlichsten Weine, und reichte ihn eigenhändig dem Kuang, der ihn leerte. Dann seufzte Ping Kung und sprach: »Bis zum Tsing Tse geht es, Höheres aber gibt es nicht.« »Noch Höheres gibt es,« erwiderte Kuang, »es ist dies die Tonart Tsing Kiao.« Ein tiefer Schrecken durchfuhr Ping Kung: »Gibt es noch Höheres als Tsing Tse, warum lässest du mich's nicht hören?« »Tsing Kiao«, sagte Kuang, »kann wieder nicht mit Tsing Tse verglichen werden. Ich wage nicht, es zu spielen. In grauer Vorzeit sammelte der Kaiser Huang Ti Dämonen und Geister auf dem Gebirge Taischan. Er fuhr auf seinem Elefantenwagen und hatte Krokodile und Drachen da vorgespannt. Der Paladin Pi-Fang war sein Begleiter, der Paladin Tse-Yu saß vorn. Der Windfürst fegte den Staub vor ihm, der Regenmann begoß ihm die Straßen, Tiger und Wölfe schritten voran, Dämonen und Geister folgten dem Zuge. Riesige Schlangen lagen auf dem Weg, Phönixe bedeckten den Himmel. Da ersann eine große Versammlung der Dämonen und Geister die Tonart Tsing Kiao. Seither hat sich die Tugend der Fürsten vermindert, sie vermögen nicht mehr, die Dämonen und Geister zu ketten, und das Menschenreich ist vom Geisterreiche gänzlich abgetrennt. Wenn man nun diese Tonart spielt, so sammeln sich wieder die Dämonen und Geister und es gibt Unheil und kein Glück mehr.« Ping Kung aber rief: »Bin ich nun schon so alt, so will ich wahrlich einmal die Tonart Tsing Kiao vernehmen. Ist es mein Tod, so werd' ich es nicht bereuen.« Kuang weigerte sich hartnäckig. Ping Kung jedoch sprang auf und zwang ihn zwei- und dreimal.

Da vermochte Kuang nicht länger zu widerstehen, nahm wieder die Zither und spielte. Beim ersten Satze kamen schwarze Wolken aus der westlichen Himmelsrichtung heran, beim zweiten erhob sich ein jäher Sturm, zerriß die Vorhänge und Decken und warf die Becher und Teller vom Tisch. Dachziegel flogen durcheinander, die Säulen der Terrasse zerbarsten. Dann erscholl ein schneller Donner und ein Schlag. Ein gewaltiger Regen ergoß sich und setzte die Terrasse einige Fuß tief unter Wasser. Im Innern der Terrasse verbreitete sich Flut, und das Gefolge floh vor Schrecken. Ping Kung und Ling Kung verbargen sich ängstlich hinter der Tür eines Nebenzimmers. Endlich hörte der Sturm und Regen auf. Das Gefolge sammelte sich allmählich wieder und stützte die beiden Fürsten, als sie die Terrasse bestiegen. In der gleichen Nacht aber befiel Ping Kung ein tiefer Schrecken, sein Herz begann zu pochen, er verfiel in Krankheit, seine Gedanken verwirrten sich, sein Wille wurde gelähmt, bis ihn bald darauf der Tod überfiel und tötete.


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