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Das Mädchen mit dem grünen Kleid

Ein Jüngling, namens Yü King aus Itu mit dem Beinamen Sung der Jüngere, lebte als Schüler in dem Tempel von Litsüan. Es war Nacht, er saß gerade beim Lesen, da vernahm er plötzlich eine Mädchenstimme draußen vor dem Fenster, die lobte ihn und sprach: »Ihr lest fleißig, Herr Yü!« Betroffen fuhr er in die Höhe und sah nach: das Mädchen trug ein grünes Kleid und einen langen Rock und war zierlich und fein ohnegleichen. Ahnungsvoll, daß sie nicht von Menschenart sei, fragte er sie eindringlich nach Ort und Wohnung. Sie aber entgegnete: »Bin ich nicht da? Sehe ich aus, als bisse oder fräße ich Menschen? Was müht Ihr Euch so mit Forschen und Fragen?« Yü liebte sie von Herzen und sie blieb die Nacht bei ihm. Ihr Unterkleid war von durchsichtiger Seide, und als er es aufgenestelt hatte, waren ihre Hüften so schmal, eine Hand hätte sie umfassen können. Als aber die Nachtuhr abgelaufen war, flatterte sie vom Lager und entschwand.

Von nun an verging kein Abend, daß sie nicht gekommen wäre. Eines Abends saßen sie beieinander, tranken und aßen dazu und redeten über dies und das. Er merkte, daß sie viel von den Tönen und Melodien verstand: »Deine Stimme ist so zart und dünn,« sprach er, »wenn Du ein Lied singst, muß von Deinem Singen die Seele entfliehen.« Sie lächelte: »Ich wage kein Lied zu singen,« erwiderte sie, »ich fürchte, die Seele entflöhe Dir davon.« Als er sie aber immer dringlicher bat, sagte sie: »Ich bin nicht geizig. Aber mir ist bang, andere Menschen möchten mich hören. Doch da Du es nicht anders wünschest, so will ich Dir gern mit meinen armen Künsten dienen.« Dann klopfte sie mit den Seerosenhaken den Takt, lehnte am Bette und sang:

Der schwarze Falk im Baume hier
bei tiefer Nacht mich nicht schlafen läßt
und ruft und singt mich zu Dir!
Ich denk nicht an meine seidenen Schuh,
wie sie der Regen mir ganz durchnäßt,
ich denke nur: Wie allein bist Du!
und laufe, laufe zu.

Ihre Stimme war dünn wie Seide, man vernahm und unterschied sie kaum. Doch reglos hörte er zu, wie Tiefe und Höhe wechselten und die Melodie lief oder zerbrach: sie schmeichelte dem Ohr, sie schüttelte das Herz. Als das Mädchen geendet hatte, öffnete sie die Tür, blickte hinaus und sagte: »Mir ist so bang. Es sind Menschen draußen vor dem Fenster.« Sie sah sich um, rings um das Haus und überall, und ging dann wieder hinein. »Was zweifelst Du?« fragte der Jüngling, »was ängstigt Dich so sehr?« »Das Sprichwort sagt: Geister leben verstohlen und fürchten den Menschen«, entgegnete sie lächelnd. »So ist es wohl auch mit mir.«

Als sie darauf zu Bette schlafen gegangen waren, seufzte sie viel und kläglich. »Das Glück zu leben,« sagte sie, »wer weiß, vielleicht ist es nun zu Ende.« Hastig fragte Yü, sie aber antwortete: »Mein Herz klopft. Wenn mein Herz klopft, muß ich sterben.« Er tröstete sie und redete ihr zu, wenn das Herz klopfe oder das Auge zucke, dies sei nichts Schweres. »Warum denkst Du nun so darüber?« fragte er. Da wurde sie wieder froher und sie verbrachten die Nacht zusammen und liebten einander.

Als aber mit dem nahenden Morgen die Wasseruhr aufhörte zu rinnen, erhob sie sich, kleidete sich an und wollte eben die Tür öffnen, als sie langsam und zögernd wieder zurückkam. »Ich weiß nicht, warum,« sprach sie, »aber mein Herz ist voll Angst. Ich flehe Dich an, geleite mich hinaus!« Yü stand auf und begleitete sie bis vor die Tür. »Bleibe hier stehen«, sagte sie, »und sieh mir nach! Und kehre nicht wieder ins Haus zurück, als bis ich um die Mauer verschwunden bin.« »Wohl«, entgegnete Yü, dann sah er das Mädchen um die Ecke des Hauses verschwinden. Als sie nicht mehr zu sehen war, gedachte er umzukehren, plötzlich aber vernahm er ihre Stimme wieder: ein lauter Hilferuf drang an sein Ohr. Ein Schmerz durchfuhr ihn, rasch eilte er nach der Stelle, aber soviel er sich auch umsah, keines Menschen Spur war zu entdecken. Der Laut kam unter dem Vordach herab: er hob den Kopf, um genauer hinaufzuspähen, da gewahrte er, wie eine Spinne, groß wie eine Kugel, eben im Begriffe war, ein Insekt zu fangen. Traurig klang der Ruf herab und war schon im Erlöschen. Da zerriß Yü das Netz, nahm das Tierlein in die Hand und befreite es von den Fäden und Hüllen. Es war eine kupfergrüne Biene, kraftlos und dem Tode nah. Er nahm sie mit sich zurück in die Stube und setzte sie auf den Tisch. Ausgeruht, erholte sie sich nach einer Weile und begann bereits wieder mit Füßen zu gehen. Langsam kroch sie auf die Tuscheplatte, versank fast in der flüssigen Tusche, hub sich aber wieder nach dem Rand und kroch auf den Tisch zurück. Im Gehen schrieb sie das Zeichen, das »Dank« bedeutet, dann aber lüpfte sie die Flügel und war im nächsten Augenblicke durch das Fenster davongeflogen. Seither ward sie nicht wieder gesehen.


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