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An Tsou Ping Shou

Lieber Herr Tsou,

ich möchte dieses Buch nicht der Öffentlichkeit übergeben, ohne es dankbaren Geistes noch einmal mit Ihrem Namen verknüpft zu haben. Wenn es mir möglich war, kraft Ihrer stets geduldig lächelnden Hilfeleistung in gemeinsamer Anstrengung diese Arbeit zu vollenden, ohne mich des Zwischenbehelfs einer andern europäischen Sprache zu bedienen, so konnte dies nur geschehen, nicht allein weil ich durch Ihre eigenen dichterischen Hervorbringungen in meinem Vertrauen auf Ihr künstlerisches Mitverständnis gesichert war, sondern auch, weil unsere praktische Arbeit bei jeder Gelegenheit erwies, daß Sie neben einem suchenden, fast traumhaften Gefühl für die zitternde Feinheit Ihrer eigenen Sprache zugleich die taktvollste Rücksicht für die Vielfältigkeit und Zartheit des Ihnen wesensfremden Deutschen besaßen. Die großen Kurven die der Geist beschreiben muß, ehe er aus dem Labyrinth der chinesischen Ausdrucksformen ins Europäische hinausfindet, nahmen Sie stets mit Sicherheit und respektvoller Vorsicht, indem Sie gleichsam mit geschlossenen Augen den Weg innerlich abtasteten, der Sie aus den verschlungenen Gängen und Fluchten des chinesischen Sprachgeistes ins Freie führen sollte. Ich schätze mich daher glücklich, Sie durch Aufnahme einer Dichtung aus Ihrem eigenen Schaffen, dem es glücklicherweise an jedem halb europäisierten Mestizentum mangelt, noch inniger an dieses Buch binden zu können.

Diese unsere Arbeit entstand, während Sie, durch allerlei unglückliche Umstände nach Europa geführt, unter dem Schicksal Ihres Vaterlandes litten. Sie lieben Europa nicht, ob es Sie gleich fasziniert, aber indes ich von Ihnen lernte, weshalb Sie es nicht lieben, verband sich mir mit dem Gedanken an die Vermischung, die Ihre so strenge, vielfach ummauerte Kultur soeben mit europäischem Geiste eingeht, der fast schmerzliche Wille, von jener rein in mich hineinzuretten, wie viel immer ich daraus zu begreifen fähig war: zu meiner Verwunderung erkannte ich, wie frisch und wahrhaft regenerierend dieselben Elemente des Geistes auf uns wirken könnten, deren Erstarrung bei Ihnen zur Lockerung alles uralt Festen geführt hat, und wie voll heroischen Anreizes sie sind, unsere zuchtlos schweifenden Kräfte in neue und kühne Formen zu binden. So bildet dieses Buch nur einen Bruchteil des Gewinns, den wir aus gemeinsamen Gesprächen, Studien und Arbeiten erlangten. Wo wir auf unseren Kreuz- und Querfahrten innehielten, entstand gleichsam als ein Wahrzeichen eine der nachfolgenden Geschichten, ohne daß wir uns gern an einen Weg gebunden oder irgendeinem System unterworfen hätten. Das Material lieferten uns zum größeren Teile zwei Ihrer (romantischen) Geschichtsschreiber, die ihre Wissenschaft im Tung Djou Lie Kuo Tse und im Schau Kuo Yien J niedergelegt haben und in deren breite Darstellung die schönsten Novellen und scheinbar unwillkürlich formal geführten Erzählungen von Abenteuern und auffallenden Geschehnissen eingesprengt sind, die für unsere Zwecke freilich aus dem wuchernden Gestein erst herausgeschlagen werden mußten. Doch auch jene Sammlungen von Wundergeschichten, das Liao Tsai Tse J und das Kin Ku Ki Kuan, versorgten uns mit manchen kühnen oder zarten Stoffen, nicht, zu gedenken der mündlichen Überlieferung, aus der wir neben der kleinen Sintflutsage das Verwandlungsmysterium von der »Lehre der Gottmenschen« gewannen. Ich wünsche, daß es durch diese Vielfältigkeit, durch die Verwebung des Märchen-, Traum- und Geisterhaften mit den festeren Gegebenheiten der Ethik und Politik gelungen sein möge, in diesem Buche nicht nur den der Erde abgewendeten, im Schatten liegenden Teil der chinesischen Seele, sondern auch ihre erhellte, irdischere Seite sichtbar werden zu lassen, zugleich mit dem herzlichen Anteil, den ich, von Tag zu Tage lebhafter angeregt und gefangengenommen, an Ihnen und Ihrem Wollen zu nehmen bemüht war.

Mauth im bayrischen Wald, August 1913
Leo Greiner

 

Neun namenlose Jahre ist es her, seit ich in den obenstehenden Zeilen meinem chinesischen Freunde und Arbeitsgenossen, dem Dichter Tsou Ping Shou, einen geringen Teil des Dankes abtrug, den ich seinem Ernst und seiner Unermüdlichkeit schuldig geworden war. Aber wie an allen Dingen, in denen ein Geheimnis ist, das Zeit arbeitet, nicht indem sie das Geheimnis lüftet, doch sein Dasein offenbarer macht und es näher an die Sphäre des Lebens heranrückt, so scheint es mir, als hätte sich auch an den unveränderten Geschichten dieses Buches eine Wandlung vollzogen, so, als wären sie wie von selber anders geworden. Zwar haben sie nichts eingebüßt an jenem romantischen Reize, den noch der höchste Geist als schönen Luxus verschwendet, doch die Zauber der Exotik scheinen weiter zurückgewichen vor jener tieferen Faßlichkeit, mit der unser heutiger Sinn das Chinesische, nicht wie etwas nur interessant Fremdes, sondern ihm auf eine traumhafte und dennoch wesentliche Weise Zugehöriges und fast wie einen Teil seiner eigenen Welt umgreift. Ich denke dabei nicht an jene Strömung, die unter dem Namen der ›östlichen Orientierung‹ den Exotismus ins Philosophische hinüberwendet; ich denke dabei an nichts als an uns selber und unsre (europäische) Fähigkeit, uns zu prüfen und uns der Kräfte, die unser Leben bestimmen, bewußt zu werden. Dann steigt in uns, ohne daß wir uns aus uns selber zu entfernen brauchten und ohne Zutun von Wissen oder Intellekt, die Sicherheit auf: daß China uns fremd ist in seinem Einzelnen (und so weit es dieses ist, von höchstem romantischen Zauber); daß aber darüber hinaus auch China, durch Jahrtausende von uns abgeschnitten, nichts andres suchen konnte, als was auch Europa gesucht hat: Die große Gleichung von Leib und Geist, die Durchdringung der Wirklichkeit mit schöpferischem Geheimnis, die breite Flut ohne Anfang und Ende. Wir fühlen, uns abgrenzend: es gibt noch andre Wege zu dem gleichen Ziele der Seele als diesen, den China beschritten hat (und unsrer ist ein andrer); aber wir fühlen auch, uns vereinigend, wie Chinas Weg uns mustergültig sein darf für die Art, wie der Geist eines ewigkeitsuchenden Volkes sich verwirklicht. Die Geschichten dieses Buches sind nur geringe Splitter jenes Spiegels, in dem das Bild des chinesischen Geistes erscheint. Würden sie trotzdem als ein Ganzes gelesen, so könnten sie uns vielleicht nicht bloß erfreuen, sondern zugleich in einem höheren Sinne hinnehmen: in dem Sinne, hinter dem das große China selbst mächtig und nebelvoll heraufsteigt.

Herbst 1922
Leo Greiner


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