Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Es sprach der junge Tag in meinen Traum:
»Wach auf! Sieh! Meines Mantels goldner Saum
      
 Ist über dunkle Dächer ausgegossen,
      
 Und tausend Ströme sind geflossen
      
 Und wurden Morgenlicht und heller Tag.
      
 Nur Du noch ruhst im Traumeshag
      
 Wo alle Wünsche wie lebendig scheinen
      
 Und sich zu wechselbunten Spiele einen. –
      
 Blick auf! Hörst Du aus fernen Dämmern
      
 Den Rythmus der Arbeit mit ehernen Hämmern
      
 Wach auf! – Aus allen Poren bricht das Weltgetriebe,
      
 Kein Glied, das ohne Kraft und Schaffen bliebe
      
 Und jedes schmiegt sich wieder sorgsam ein
      
 In meiner Lande unbegrenzte Reihn
      
 Und keiner ruht. – Nur Du allein!« –
Und tiefer kroch das Leuchten an der Wand.
      
 Auf meinen Augen lag's, wie eine heiße Hand 
      [59]
Und schnell war Lid und Wimper offen
      
 Von goldner Flut des frohen Lichts getroffen.
Und wieder klang die leise Stimme mir:
»Mit erlesenen Gaben komm ich zu Dir.
      
 Mein Kleid ist weit. Doch seine tausend Falten
      
 Vermöchten nicht der Gaben reiche Zahl enthalten,
      
 Die meine Arme Dir entgegenbreiten.
      
 Ich bringe Dir Ehre und Glück aus den Weiten
      
 Ich habe Dir alle Wege geweitet,
      
 Drauf purpurne Rosen und Blüten gebreitet,
      
 Was Deine Gedanken nur betend erwähnt,
      
 Was Deine Wünsche mir Thränen ersehnt,
      
 Was kaum Du erhofft in schüchternem Denken,
      
 Das will ich Dir heute, heute noch schenken.
      
 Ich will Dir den ungeborenen Willen
      
 In leuchtenden Farben zur Wahrheit erfüllen
      
 Und für das Leid aus fernen, schweren Tagen
      
 Werd' ich Dir wunderweiche Worte sagen,
      
 Und Glück und Sorge, was Dich nur umflicht,
      
 Dir wird es wesenlos und lebt nur im Gedicht. –
      
 Ich mache Dir zaubergewaltig den Arm
      
 Ich führe Dich weg von dem neidischen Schwarm,
      
 Der jedes Streben sinnberauscht verlacht.
      
 Ich nehm Dir alles, was Dich ihnen ähnlich macht.«
So sprach der Tag. Ich aber horchte fort
      
 Und schlürfte gierig Wort für Wort. 
      [60]
»Doch geb' ich nicht die überreiche Spende
      
 In schlummermüde, arbeitsträge Hände
      
 Und werfe Dir nicht die Gaben dahin. –
      
 Steh' auf und sieh sie im 
      Leben erblühn!
      
Ich bin der Tag und bin dem Leben gleich
      
 Erfüllung harrt für jeden Wunsch in meinem Reich,
      
 Nicht wirst Du 
      bittend meine Gunst erringen
      
 Nein! Wie ein Weib mußt Du mich zwingen,
      
 Das nicht für weiche Worte seine Gaben giebt
      
 Und nur die Kraft, den starken Willen liebt,
      
 Der sie mit seiner Wucht errungen.«
So sprach der Tag mit leisen, weisen Zungen
      
 Und flammte heiß mit grellen, gelben Lichtern,
      
 Und still ward da mein Herz und schüchtern
      
 Bei dieser Worte wahrheitsschweren Klang
      
 Allein der Tag fuhr fort und sang:
»Doch hat Dich das Schaffen dann müde gemacht,
      
 Führ' ich Dich neu in die Arme der Nacht.
      
 Durch des Abends blütenrote stille Weiten
      
 Will ich Dich zum Traume heimgeleiten;
      
 Diesem schenkst Du, was ich Dir errungen,
      
 Glück und Glanz und echte, große Lieder
      
 Und er giebt es tausendfach Dir wieder
      
 Durch der Traumessänge seligsüße Weise.
      
Und so dreht sich Tag und Nacht im Kreise
      
 Bist Du bei mir stark und stolz geworden,
[61]
Löst die Nacht mit ihres Lieds Accorden
      
 Wieder Deine Einsamkeit und Eigensucht
      
 Und des steten Wechsels reiche Frucht
      
 Ist: Daß Du des Nachts die Seele sehnend weitest
      
 Und des Tags zur That Dich froh bereitest.
      
 Doch nun laß des Morgendämmerns bleiche
      
 Traumesgärten! Auf! Zieh ein in meine Reiche.«
Und es wuchs in mir ein frohes, heißes Beben
      
 Ich sprang auf, hinein ins volle Leben! 
      [62]