Emile Zola
Der Zusammenbruch
Emile Zola

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4

Die Kammer war ein großer Raum mit Steinfliesen, einfach mit Kalk geweißt, und hatte früher zum Obstaufbewahren gedient. Sie roch noch sehr gut nach Äpfeln und Birnen; als einzige Einrichtung enthielt sie eine eiserne Bettstelle, einen weißgescheuerten Tisch und zwei Stühle, außer einem alten Nußbaumholzschrank mit gewaltigen Seitenwänden, in den eine ganze Welt hineinging. Aber die Ruhe, die in ihm herrschte, war von tiefer Süße, man hörte nichts in ihm als gedämpftes Geräusch vom Stalle her, schwaches Klappern von Holzschuhen und das Brüllen der Rinder. Durch das nach Süden gelegene Fenster fiel heller Sonnenschein. Es bot einen Ausblick nur auf ein Stück Hügel und ein von einem kleinen Holze begrenztes Kornfeld. Und diese verschlossene, geheimnisvolle Kammer war vor allen Augen so wohl verborgen, daß kein Mensch in der Welt ihr Dasein ahnen konnte.

Henriette brachte sofort alles in Ordnung: um allen Verdacht zu vermeiden, wurde abgemacht, nur sie und der Doktor sollten zu Jean hineingehen. Silvine durfte nicht hinein, ohne daß er nach ihr rief. Am frühen Morgen wurde alles durch die beiden Frauen aufgeräumt; von da an blieb die Tür den ganzen Tag wie zugemauert. Wenn der Verwundete nachts irgend etwas brauchte, brauchte er nur an die Wand zu klopfen, denn das benachbarte Zimmer war von Henriette bewohnt. Und so fand sich Jean plötzlich nach so stürmischdrangvollen Wochen von aller Welt abgeschlossen und sah nur noch die junge, sanfte Frau, deren leichter Schritt nicht das leiseste Geräusch verursachte. Jetzt kam sie ihm wieder so vor wie damals das erstemal dort hinten in Sedan, wie eine Erscheinung, mit ihrem etwas großen Munde, ihren feinen Zügen, den Haaren wie reifer Hafer, wenn sie sich mit ihm in ihrer unendlichen gütigen Weise zu tun machte.

Die ersten Tage war das Fieber des Verwundeten so hoch, daß Henriette ihn kaum verlassen durfte. Doktor Dalichamp kam jeden Morgen beim Vorbeigehen herein unter dem Vorwande, sie abzuholen und mit nach dem Lazarett zu nehmen; und dann untersuchte er Jean und verband ihn. Da die Kugel das Schienbein zerschmettert hatte und dann wieder ausgetreten war, wunderte er sich über das schlechte Aussehen der Wunde und befürchtete, ein Knochensplitter sei darin steckengeblieben, der mit der Sonde nicht zu fühlen sei und ihn zu einer Entfernung des ganzen Knochens zwingen könnte. Er hatte mit Jean darüber gesprochen; aber der hatte sich bei dem Gedanken an eine Verkürzung des Beines, durch die er hinken würde, heftig gesträubt: nein, nein! Lieber wollte er sterben, als Krüppel bleiben. Und der Doktor beobachtete die Verwundung weiter und begnügte sich damit, sie mit in Olivenöl und Karbolsäure getränkter Watte zu verbinden, nachdem er ein Drän, ein Gummiröhrchen, in die Wunde gelegt hatte, um den Abfluß des Eiters zu erleichtern. Aber er machte ihn doch darauf aufmerksam, daß die Heilung ohne jeden Eingriff sehr langwierig sein werde. Nach der zweiten Woche ließ das Fieber jedoch nach, sein Zustand besserte sich, wenn er auch noch völlig unbeweglich blieb.

Die Vertraulichkeit zwischen Jean und Henriette geriet nun in geregelte Bahnen. Es bildeten sich bestimmte Gewohnheiten aus, und es schien ihnen, als hätten sie nie anders gelebt und müßten auch zukünftig immer so weiter leben. Sie brachte jede Stunde, die sie nicht im Lazarett war, bei ihm zu, achtete darauf, daß er regelmäßig aß und trank, und half ihm, wenn er sich umdrehen wollte, mit einer Kraft in ihren Handgelenken, die man ihren zierlichen Armen gar nicht zugetraut hätte. Zuweilen plauderten sie zusammen; meistens aber sagten sie gar nichts, vor allem zu Anfang. Aber sie langweilten sich scheinbar nie, das Leben floß ihnen äußerst sanft in dieser tiefen Ruhe dahin, er noch ganz zermartert von der Schlacht, sie in ihrem Witwenkleide mit einem Herzen, das noch ganz zerbrochen war von dem erlittenen Verlust. Zunächst hatte er so etwas wie Scham empfunden, denn er fühlte wohl, wie hoch sie über ihm stand, daß sie fast eine Dame war, während er doch stets nichts weiter als ein Bauer und Soldat gewesen war. Er konnte ja kaum lesen und schreiben. Dann aber wurde er doch etwas sicherer, als er sah, daß sie ihn ganz ohne Stolz wie einen ihresgleichen behandelte, und das ermutigte ihn nun auch, sich so zu geben, wie er wirklich war, klug auf seine Weise, infolge seines ruhigen Nachdenkens. Übrigens wunderte er sich über sich selbst, daß er sich soviel dünner und leichter geworden fühlte und ganz anders dachte: kam das von dem greulichen Leben, das er zwei Monate lang geführt hatte? Er ging aus all den körperlichen und seelischen Leiden tatsächlich verfeinert hervor. Was ihn aber schließlich ganz gefangennahm, war, daß er fand, sie selbst wüßte auch nicht viel mehr als er. Sehr jung war sie nach dem Tode ihrer Mutter zum Aschenbrödel geworden, zum kleinen Hausmütterchen, das für seine drei Männer sorgen mußte, wie sie ihren Großvater, ihren Vater und ihren Bruder nannte, so daß sie für sich selbst keine Zeit zum Lernen behielt. Lesen, Schreiben, etwas Rechtschreibung und Rechnen, mehr konnte man von ihr nicht verlangen. Und so verursachte sie ihm länger keine Furcht und schien ihm nur deshalb über allen andern zu stehen, weil sie so sehr gütig war und so außerordentlich mutig, obwohl sie eigentlich nur wie ein kleines, lediglich in dem Kleinkram ihres Haushaltes aufgehendes Frauchen aussah.

Sobald sie über Maurice zu sprechen anfingen, verstanden sie sich sofort. Wenn sie sich jetzt so hingab, so war es für den Freund, für den Bruder Maurices, den braven, hilfsbereiten Mann, dem sie nun ihrerseits eine Herzensschuld abtrug. Sie war voller Dankbarkeit, und ihre Zuneigung wuchs, je besser sie ihn in seiner schlichten Verständigkeit, seiner festen Denkart kennenlernte; und er, den sie wie ein Kind versorgte, geriet auch seinerseits in eine tiefe Dankbarkeitsschuld; für jede Tasse Brühe, die sie ihm reichte, hätte er ihr die Hände küssen mögen. In der tiefen Einsamkeit, in der sie lebten und in der die gleichen Sorgen sie bewegten, wurde das Band zarter Zuneigung, das sie verknüpfte, jeden Tag enger. Hatten sie alle denkwürdigen Einzelheiten ihres Leidensweges von Reims nach Sedan erschöpft, und sie wurde nie müde, nach ihnen zu fragen, dann trat immer dieselbe Frage wieder hervor: was machte Maurice wohl jetzt? Warum schrieb er nicht? War denn Paris bereits vollständig eingeschlossen, daß sie gar keine Nachrichten mehr bekamen? Nur einen drei Tage nach seiner Abreise in Rouen aufgegebenen Brief hatte sie erhalten, in dem er ihnen in wenigen Zeilen auseinandersetzte, wie er nach einem langen Umwege in dieser Stadt gelandet wäre, um nach Paris zu kommen. Und nun seit einer Woche schon nichts mehr, völliges Schweigen.

Wenn Doktor Dalichamp morgens den Verwundeten verbunden hatte, machte es ihm Spaß, sich ein paar Minuten zu vergessen. Manchmal blieb er auch des Abends, wenn er zurückkam, noch etwas länger; und so stellte er das einzige Band mit der Welt für sie dar, der weiten Welt da draußen, die von verhängnisvollen Umwälzungen durcheinandergerüttelt wurde. Nur durch ihn erhielten sie Neuigkeiten; er besaß ein glühend vaterländisch fühlendes Herz, das vor Zorn und Kummer bei jeder Niederlage überquoll. Er sprach auch kaum von etwas anderm als von dem Einmarsch der Preußen, dessen Flut sich seit Sedan allmählich über ganz Frankreich ausbreitete wie eine schwarze Lache. Jeder Tag machte ihn trauriger, und er blieb niedergeschlagen auf einem der beiden Stühle am Bette sitzen und erklärte die Lage mit zitternden Handbewegungen für ernster und ernster. Zuweilen waren seine Taschen vollgestopft mit belgischen Zeitungen, die er ihnen daließ. Nach einem Zeitraum von Wochen gelangte so der Widerhall jedes Unglücks in diese weltverlorene Kammer und brachte die beiden armen, mit ihrem Leide dort eingeschlossenen Wesen durch gemeinsame Sorge immer noch näher zusammen.

Auf diese Weise las Henriette Jean dann auch aus alten Zeitungen die Vorgänge bei Metz vor, die große, heldenhafte Schlacht, die dreimal nach je einem Tage Zwischenraum wieder aufgenommen wurde. Sie waren schon fünf Wochen alt, aber er kannte sie noch nicht, und beim Hören krampfte sich ihm das Herz aufs neue zusammen, wenn er dort all den Jammer und die Mängel wiederfand, die er selbst durchgemacht hatte. Wenn Henriette mit ihrer etwas singenden Stimme wie eine aufmerksame Schülerin jeden Satz klar herausschälte, dann rollte sich in dem schaudernden Schweigen des einsamen Zimmers die ganze jammervolle Geschichte wieder ab. Nach Fröschweiler, nach Spicheren zauderten im Augenblick, als das vernichtete erste Korps das fünfte in seine Auflösung mit hineinriß, die andern von Metz bis Bitsch gestaffelten Korps und wichen in der Bestürzung über dies Unglück zurück, um sich schließlich in dem befestigten Lager auf dem rechten Moselufer zu sammeln. Aber wieviel kostbare Zeit verloren sie, anstatt sofort auf Paris zu eilen, ein Rückzug, der nachher so schwierig werden sollte! Der Kaiser hatte den Oberbefehl dem Marschall Bazaine abtreten müssen, von dem man den Sieg erwartete. Da kam am 14. Borny, wo die Truppe in dem Augenblick angegriffen wurde, als sie sich für den Übergang auf das linke Moselufer entschieden hatte; sie hatte zwei deutsche Heeresgruppen gegen sich, die Steinmetz', die unbeweglich dem befestigten Lager drohend gegenüberstand, und die des Prinzen Friedrich Karl, der oberhalb über den Fluß gegangen war und nun am linken Ufer hervorkam, um Bazaine von dem übrigen Frankreich abzuschneiden; Borny, dessen erste Schüsse erst nachmittags um drei Uhr losgingen, Borny, dieser Sieg ohne Folgen, der die französischen Korps zwar im Besitz ihrer Stellungen ließ, aber sie rittlings auf beiden Seiten der Mosel festnagelte, während die Umgehungsbewegung der zweiten deutschen Heeresgruppe sich vollzog. Dann am 16. kam Rézonville, wo alle Korps bereits auf dem linken Ufer standen, aber das dritte und vierte zurückblieben, weil die furchtbare Verstopfung an der Straßenkreuzung von Etain und Mars-la-Tour sie aufhielt, der kühne Angriff der preußischen Kavallerie und Artillerie, die diese Straßen am Morgen abschnitten, die langanhaltende, verworrene Schlacht, die Bazaine noch bis zwei Uhr hätte gewinnen können, da er nur eine Handvoll Leute vor sich über den Haufen zu rennen brauchte, und die er wegen der unerklärlichen Furcht verlor, er könne von Metz abgeschnitten werden; die Riesenschlacht, die sich meilenweit über Hügel und Ebenen hinzog, in der die von vorn und in der Seite angegriffenen Franzosen Heldentaten verrichteten, um nicht vorgehen zu brauchen, und dem Feinde Zeit ließen, sich zu sammeln, so daß sie selbst im Sinne der Preußen arbeiteten, die sie zum Zurückgehen auf das andere Flußufer bringen wollten. Am 18. endlich, nach dem Rückzug auf das befestigte Lager, fand dann bei Saint-Privat der letzte Kampf statt, eine Angriffslinie von dreizehn Kilometern, zweihunderttausend Deutsche mit siebenhundert Kanonen gegen hundertundzwanzigtausend Franzosen, die nur fünfhundert Geschütze hatten, die Deutschen mit der Stirn gegen Deutschland, die Franzosen gegen Frankreich, als wären bei der eigenartigen Drehbewegung, die sich vollzogen hatte, die Eindringlinge die Überfallenen geworden, das fürchterliche Handgemenge von zwei Uhr an, in dem die preußische Garde zerhackt und zurückgeworfen wurde und Bazaine lange Zeit siegreich blieb, stark durch seinen unerschütterlichen linken Flügel bis zu dem Augenblick, wo gegen Abend der schwächere rechte Flügel Saint-Privat inmitten eines greulichen Gemetzels aufgeben mußte und das ganze Heer geschlagen mit sich riß, das auf Metz zurückgeworfen wurde und von nun mit einem eisernen Gürtel eingeschlossen war.

Jean unterbrach Henriette alle Augenblicke beim Lesen und sagte:

»Na ja! Und wir warteten schon von Reims ab, daß Bazaine käme!«

Die am 19. nach Saint-Privat aufgegebene Depesche des Marschalls, in der er davon sprach, seine Rückzugsbewegung über Montmédy wieder aufnehmen zu wollen, diese Depesche, die den Vormarsch der Armee von Châlons veranlaßt hatte, erschien jetzt nur noch als der Bericht eines geschlagenen Führers, der seine Niederlage zu beschönigen wünscht; und später noch, am 29., als er die Nachricht vom Anmarsch einer Entsatzarmee durch die preußischen Linien hindurch erhielt, da hatte er bei Roisseville einen letzten Versuch auf dem rechten Ufer unternommen, aber so kraftlos, daß die Abteilung von Metz am 1. September, demselben Tage, an dem die Gruppe von Châlons bei Sedan vernichtet wurde, sich zurückzog und nun endgültig gelähmt, für Frankreich tot dalag. Der Marschall, der bis dahin nur für einen mittelmäßigen Führer gegolten hatte, da er es unterließ, sich die Wege zunutze zu machen, solange sie offenstanden, und dem sie später durch überlegene Kräfte versperrt wurden, sollte von nun an unter der Herrschaft politischer Vorurteile als Verschwörer und Verräter dastehen.

Aber in den Zeitungen, die Doktor Dalichamp mitbrachte, blieb Bazaine der große Mann, der tapfere Soldat, von dem Frankreich noch seine Rettung erwartete. Und Jean ließ sich die Stellen wieder vorlesen, um genau zu verstehen, wie die dritte deutsche Heeresgruppe sie unter dem Kronprinzen von Preußen hatte verfolgen können, während die erste und zweite Metz einschlossen und beide so stark an Menschen und Geschützen waren, daß es möglich geworden war, aus ihnen eine vierte Armee zu bilden und abzusenden, die dann unter dem Befehle des Kronprinzen von Sachsen bei Sedan das Unglück vervollständigte. Nachdem er sich so auf seinem Schmerzensbette, auf dem ihn seine Verwundung festhielt, über alles unterrichtet hatte, blieb er doch voller Hoffnung.

»Also wir waren gar nicht die Stärkeren! ... Einerlei, sie führen doch Zahlen an: Bazaine hat Hundertfünfzigtausend Mann, dreihunderttausend Gewehre, über fünfhundert Geschütze; er wird ihnen schon nach seiner Art verdammt eklig einen beibringen!«

Henriette nickte mit dem Kopfe und schloß sich scheinbar seiner Meinung an, um ihn nicht noch trübseliger zu machen; sie verlor sich gänzlich in diesen mächtigen Truppenbewegungen, aber sie fühlte doch das Unvermeidliche des Unheils. Ihre Stimme blieb klar; sie hätte ihm stundenlang vorlesen können, einfach vor Glücksgefühl, ihm damit ein Vergnügen zu machen. Manchmal aber brachte sie der Bericht über irgendein Gemetzel doch ins Stammeln, und ein plötzlicher Tränenstrom füllte ihre Augen. Zweifellos dachte sie an ihren dort unten erschlagenen Mann, den der bayrische Offizier mit dem Fuße gegen die Mauer gestoßen hatte.

»Wenn Ihnen das soviel Kummer macht,« sagte Jean ganz überrascht, »dann müssen Sie mir von dem Schlachten nichts vorlesen.«

Aber sie gewann sofort ihre freundliche Sanftmut wieder.

»Nein, nein, verzeihen Sie, mir macht das wirklich auch Spaß.«

Eines Abends zu Anfang Oktober als draußen ein wütender Wind heulte, trat sie nach ihrer Rückkehr vom Lazarett ganz bewegt in die Kammer und sagte:

»Ein Brief von Maurice! Der Doktor hat ihn mir eben gegeben!«

Die beiden gerieten jedem Morgen in größere Unruhe darüber, daß der junge Mann gar kein Lebenszeichen von sich gab; und vor allem eine Woche lang, nachdem das Gerücht von der vollständigen Einschließung von Paris umhergelaufen war, da verzweifelten sie daran, noch wieder Nachricht von ihm zu erhalten, und fragten sich besorgt was aus ihm, wohl nach seinem Fortgang von Rouen geworden sein könne. Jetzt klärte sich ihnen das Schweigen auf, denn der Brief, den er am 18. von Paris aus an Doktor Dalichamp gesandt hatte, demselben Tag, an dem die letzten Züge nach Le Havre abgingen, hatte einen gewaltigen Umweg gemacht und war nur durch ein Wunder herübergekommen, nachdem er sich unendlich oft unterwegs verirrt hatte.

»Ach, der liebe Junge!« rief Jean ganz glücklich. »Lesen Sie mir mal schnell vor!«

Der Wind hatte seine Wut noch verdoppelt, das Fenster krachte wie unter Rammstößen. Und nachdem Henriette die Lampe auf den Tisch vorm Bett gestellt hatte, machte sie sich ans Lesen, so nahe bei Jean, daß ihre Haare sich berührten. Es war so milde und schön in dieser Kammer, während draußen der Sturm tobte.

Es war ein langer Brief von acht Seiten, in dem Maurice zunächst auseinandersetzte, wie es ihm gleich nach seiner Ankunft am 16. geglückt sei, sich in ein Linienregiment einreihen zu lassen, dessen Bestände aufgefüllt wurden. Dann wandte er sich den Tatsachen zu; er erzählte mit fieberhafter Erregung alles, was er von den Ereignissen dieses schrecklichen Monats erfahren hatte, wie Paris sich nach dem schmerzlichen Erstarren über Weißenburg und Fröschweiler wieder beruhigt habe, wie es wieder Hoffnung auf einen Ausgleich gewonnen habe, wieder in neue Einbildungen verfallen sei – die sagenhaften Siege der Heere, der Oberbefehl Bazaines, die Massenerhebung, die Massenopfer von Preußen, von denen sogar die Minister von der Tribüne gesprochen hatten. Und wie dann plötzlich zum zweiten Male am 3. September ein Donnerschlag über Paris ertönt sei: alle Hoffnungen zerschmettert, die unwissende, vertrauensselige Stadt unter diesem Schicksalsschlage zusammengebrochen, die Rufe nach: Absetzung! Absetzung! die abends schon, auf den Boulevards ertönt seien, die kurze, düstere Nachtsitzung, in der Jules Favre über die Forderung nach Absetzung durch das Volk gesprochen habe. Wie dann am nächsten Morgen, dem 4. September, eine Welt zusammengebrochen sei, das zweite Kaiserreich durch seine Laster und Fehler in den Zusammenbruch mit hineingerissen sei, das ganze Volk auf der Straße, ein Strom von einer halben Million Menschen im Sonnenscheine dieses schönen Sonntages den Konkordienplatz erfüllt und sich bis an die Gitter der gesetzgebenden Versammlung gewälzt habe, das eine Handvoll Soldaten kaum mit erhobenem Kolben verschließen konnte, wie sie die Türen eingebrochen hätten und in den Sitzungssaal eingedrungen seien, wo Jules Favre, Gambetta und andere Abgeordnete der Linken gerade aufgebrochen seien, um im Stadthause die Republik auszurufen, während sich im Louvre eine kleine, nach dem Platze Saint-Germain-l'Auxerrois hinausführende Tür öffnete, um die schwarzgekleidete Kaiserin-Regentin hinauszulassen, die zitternd, nur von einer einzigen Freundin begleitet, von dannen floh und sich auf dem Rücksitz einer zufällig angetroffenen Mietskutsche verbarg, die nun mit ihr weit von den jetzt durch die Menge durchströmten Tuilerien weghumpelte. Am gleichen Tage verließ Napoleon III. den Gasthof von Bouillon, in dem er die erste Nacht der Verbannung auf seinem Wege nach Wilhelmshöhe zugebracht hatte.

Mit ernster Miene unterbrach Jean Henriette:

»Dann sind wir jetzt also eine Republik? ... Um so besser, wenn es nur dazu hilft, die Preußen zu schlagen!«

Aber er schüttelte den Kopf; sie hatten ihn immer vor der Republik bange gemacht, als er noch Bauer war. Und jetzt vor dem Feinde schien ihm das auch nicht gerade richtig, nicht einig zu sein. Aber schließlich mußte ja wohl irgend etwas anderes an die Reihe kommen, da das Kaiserreich entschieden faul war und niemand mehr was von ihm wissen wollte.

Henriette las den Brief zu Ende, der damit schloß, daß er den Anmarsch der Preußen meldete. Am 13., demselben Tage, an dem sich eine Abordnung der Regierung der Nationalen Verteidigung in Tours einrichtete, hatte man sie östlich von Paris bis Lagny vorrücken sehen. Am 14. und 15. standen sie an den Toren bei Créteil und Joinville-le-Pont. Aber am 18., an dem Morgen, wo Maurice diesen Brief geschrieben hatte, schien er noch nicht an eine vollständige Einschließung glauben zu wollen; es war abermals ein schönes Vertrauen über ihn gekommen, und er betrachtete die Belagerung als einen unverschämten, frechen Versuch, der scheitern müsse, ehe drei Wochen um wären, wenn man sich auf die Entsatztruppen verlassen könne, die die Provinz ganz sicher zu Hilfe schicken würde, wobei die Gruppe von Metz noch gar nicht mitgerechnet sei, die doch schon sicher von Verdun über Reims heranrücke. Aber die Ringe des eisernen Gürtels hatten sich schon ineinandergefügt und Paris umfangen, und jetzt bildete es, von aller Welt abgeschlossen, nichts weiter als ein Riesengefängnis für zwei Millionen Lebewesen, in dem nur noch das Schweigen des Todes herrschte.

»O mein Gott,« flüsterte Henriette bedrückt, »wie lange soll das alles dauern; werden wir ihn wohl je wiedersehen?«

Eine Windsbraut bog die Bäume in der Ferne vornüber und brachte alles alte Gebälk auf dem Hofe zum Knarren. Wenn es einen harten Winter geben sollte, was für Leiden bedeutete das für die armen Soldaten, die sich ohne Feuer, ohne Brot im Schnee schlagen mußten.

»Bah!« schloß Jean, »sein Brief ist sehr nett, und es ist ein Spaß, etwas von ihm zu hören... Man muß nicht immer gleich verzweifeln.«

Nun verrann Tag für Tag des Oktobermonats; der Himmel war grau und traurig, und der Wind führte bald nur immer mehr düstere Wolken heran. Jeans Wunde vernarbte unendlich langsam; der Eiter, den das Drän abführte, war immer noch nicht so, daß der Doktor es hätte weglassen können; und der Verwundete wurde sehr schwach, da er sich in seiner Furcht, verkrüppelt zu bleiben, gegen jede Operation wehrte. Ein ergebenes Abwarten, das nur zuweilen durch plötzliche Angstzustände unterbrochen wurde, ohne daß ihnen eine erkennbare Ursache zugrunde lag, herrschte nun in der kleinen verlorenen Kammer, in der alle Nachrichten nur von weither unbestimmt eintrafen, wie beim Erwachen aus einem Alpdruck. Dort hinten ging der scheußliche Krieg mit seinen Gemetzeln und Unglücksschlägen weiter, irgendwo, ohne daß sie je die reine Wahrheit erfuhren, ohne daß ein anderer Laut zu ihnen drang als das dumpfe Stöhnen des hingemordeten Vaterlandes. Und der Wind trieb die Blätter unter dem bleigrauen Himmel dahin; dann herrschte wieder langes Schweigen über der kahlen Landschaft und wurde nur hin und wieder durch das einen strengen Winter ankündigende Krächzen der Raben unterbrochen.

Das Lazarett, das Henriette nur verließ, um Jean Gesellschaft zu leisten, war zu einem ihrer Unterhaltungsgegenstände geworden. Wenn sie abends zurück war, fragte er sie; er kannte jeden der Verwundeten und wollte wissen, welcher stürbe und welcher geheilt würde; und sie selbst wurde nicht müde, ihm von diesen ihr ganzes Herz erfüllenden Verhältnissen mit allen kleinsten Einzelheiten ihres Tagewerkes zu erzählen.

»Ach!« sagte sie immer und immer wieder, »die armen Jungens, die armen Jungens!«

Das war nicht länger der Verbandplatz während der Schlacht, auf dem frisches Blut floß, wo Gliedmaßen bei gesundem, rotem Fleisch abgenommen wurden. Dies war jetzt das dem Hospitalbrand verfallene Lazarett, das nach Fieber und Tod roch, ganz schlaff von langsamen Genesungsvorgängen und nicht endenwollenden Todeskämpfen. Der Doktor Dalichamp hatte die größte Mühe gehabt, sich die nötigen Betten, Matratzen und Laken zu besorgen; und jeden Tag verlangte der Unterhalt seiner Kranken Brot, Wein, Fleisch, trockenes Gemüse, Binden, Verbandstoffe und Hilfswerkzeuge, neue Wunder von ihm. Die Preußen, die sich im Militärhospital in Sedan eingerichtet hatten, verweigerten ihm alles, sogar Chloroform, so daß er sich alles aus Belgien kommen lassen mußte. Und dabei hatte er verwundete Deutsche ebensogut aufgenommen wie Franzosen und verpflegte vor allem auch ein Dutzend in Bazeilles gefundene Bayern. Die Feinde, die sich einander an die Gurgel gefahren waren, ruhten nun hier Seite an Seite in gutem Einvernehmen, zu dem sie ihre gemeinsamen Leiden führten. Und was für ein fürchterlicher, jammervoller Aufenthaltsort, diese beiden langen ehemaligen Schulsäle von Remilly, in deren jedem etwa fünfzig Betten in dem hellen, bleichen Licht ihrer hohen Fenster standen!

Noch zehn Tage nach der Schlacht wurden Verwundete herangebracht, die man in vergessenen Winkeln aufgefunden hatte. So waren vier ohne jede ärztliche Hilfe in einem leeren Hause in Balan liegen geblieben und lebten noch, ohne daß man wußte wie, ohne Zweifel wohl dank der Barmherzigkeit irgendwelcher Nachbarn; ihre Wunden wimmelten von Ungeziefer und sie starben an Blutvergiftung durch diese unsauberen Wunden. Solche Eiterungen waren es auch, gegen die kein Kampf fruchtete, die über die Reihen der Betten hinhauchten und sie leerten. An der Türe schon packte einen der Geruch nach Brand an der Kehle. Aus den Dräns sickerte tropfenweise der faulige Eiter. Häufig mußte das gesunde Fleisch wieder aufgeschnitten werden, um einen unerkannt gebliebenen Knochensplitter zu entfernen. Dann traten Geschwüre auf, die sich weithin einen Ausfluß bahnten. Erschöpft, abgemagert erlitten die Unglücklichen mit ihren erdfarbigen Gesichtern all diese Qualen. Einzelne verbrachten ihre Tage ganz ohne einen Atemzug auf dem Rücken, die dunklen Augenlider geschlossen, so daß sie wie schon halb verweste Leichen aussahen. Andere konnten keine Ruhe finden und wurden von einer ewigen Schlaflosigkeit gepeinigt; sie waren dauernd naß von Schweiß und so erregt, als habe der Schrecken sie mit Wahnsinn geschlagen. Aber ob sie nun erregt oder ruhig waren, sobald der Schüttelfrost des Wundbrandes sie packte, war es zu Ende, das Gift siegte, es flog von einem zum andern und riß sie in dem einen großen Strom siegreicher Fäulnis davon.

Aber am schlimmsten war es im Saal der Verdammten, wo die an Dysenterie, Typhus oder Blattern Erkrankten lagen. Viele hatten die schwarzen Blattern. Sie wälzten sich und schrien in einem ewigen Fiebertraume, sie richteten sich in ihren Betten auf und standen da wie Gespenster. Andere, deren Lungen angegriffen waren, starben an Lungenentzündung und unter schrecklichem Husten. Wieder andere brüllten und kamen nur unter der Einwirkung eines kalten Wasserstrahles zur Ruhe, mit dem ihre Wunden fortwährend gekühlt wurden. Die Stunde der Erwartung, die Stunde des Verbindens war die einzige, die einige Ruhe hervorbrachte, die die Betten lüftete und die von dem langen Liegen in derselben Stellung steif gewordenen Körper etwas auffrischte. Aber es war auch eine Stunde der Furcht, denn kein Tag verging, an dem der Doktor nicht beim Nachsehen der Wunden zu seinem Kummer auf der Haut irgendeines armen Teufels bläuliche Flecken vorfand, die Anzeichen um sich greifenden Brandes. Am nächsten Tage wurde dann operiert. Wieder wurde ein Stück Bein oder Arm abgeschnitten. Manchmal stieg der Brand auch höher hinauf, und er mußte fortfahren, bis er schließlich das ganze Glied abgeschnitten hatte. Dann ging der ganze Mann hinterher, der Körper wurde mit leichenfarbigen Typhusflecken übersät, und der Kranke mußte taumelnd, wie trunken und halbirr in den Saal der Verdammten gebracht werden, wo er dann dahinsiechte und sein Fleisch, schon ehe der Tod eintrat, abstarb und Leichengeruch ausströmte.

Jeden Abend antwortete Henriette bei ihrer Rückkehr auf Jeans Fragen mit vor Rührung zitternder Stimme:

»Ach! Die armen Jungens, die armen Jungens!«

Die Einzelheiten, die täglichen Qualen dieser Hölle blieben sich stets gleich. Eine Schulter ausgelöst, ein Fuß abgeschnitten, eine Geschwulst entfernt; aber würde der Brand oder das Anstreckungsfieber ihn durchkommen lassen? Oder auch es war wieder einer begraben, häufiger ein Franzose, zuweilen ein Deutscher. Selten ging ein Tag zu Ende, ohne daß verstohlen eine schnell aus vier Brettern hergestellte Bahr in der Dämmerung das Lazarett verließ, begleitet von einem einzigen Pfleger oder oft auch von der jungen Frau selbst, damit ein Mensch doch nicht wie ein Hund verscharrt würde. Auf dem kleinen Friedhof von Remilly waren zwei große Gruben ausgehoben worden; und hier schliefen alle in einer Reihe, die Franzosen rechts, die Deutschen links, Seite an Seite, wieder versöhnt in der Erde.

Ohne daß er sie je gesehen hatte, nahm Jean schließlich Anteil an gewissen Verwundeten. Er verlangte von ihnen zu hören.

»Und was macht das ›Arme Kind‹ heute?«

Das war ein kleiner Soldat vom fünften Linienregiment, der sich freiwillig gestellt hatte und noch nicht zwanzig Jahre alt war. Er hatte den Beinamen »Armes Kind« behalten, weil er diese Worte ohne aufzuhören wiederholte, wenn er von sich sprach; und als er eines Tages nach dem Grunde dafür gefragt wurde, hatte er geantwortet, seine Mutter hätte ihn immer so genannt. Ein armes Kind in der Tat, denn er starb an einer Brustfellentzündung, die ihm durch eine Wunde in der linken Seite beigebracht war.

»Ach, der liebe Junge!« sagte Henriette, die eine mütterliche Zuneigung zu ihm gewonnen hatte; »es geht ihm heute nicht gut, er hat den ganzen Tag gehustet. Es zerreißt mir das Herz, wenn ich ihn so höre.«

»Und Ihr Bär, Ihr Gutmann?« fing Jean mit einem schwachen Lächeln wieder an. »Hat der Doktor bessere Hoffnung?«

»Ja, vielleicht kann er ihn retten. Aber er leidet gräßlich.«

Obwohl das Mitleid mit ihm sehr groß war, konnten sie beide nicht von Gutmann ohne eine gewisse gerührte Heiterkeit sprechen. Als die junge Frau am ersten Tage ins Lazarett gekommen war, war sie ganz erschrocken gewesen, in einem bayrischen Soldaten den Mann mit dem roten Haar und Bart, den blauen Augen und der dicken Nase wiederzufinden, der sie in Bazeilles auf seinen Armen davongetragen hatte, während ihr Mann erschossen wurde. Er hatte sie gleichfalls wiedererkannt; aber er konnte nicht sprechen, denn eine in den Nacken eingedrungene Kugel hatte ihm die halbe Zunge weggerissen. Und nachdem sie zwei Tage lang jedesmal mit einem unwillkürlichen Schauder vor Schrecken zurückbebte, wenn sie sich seinem Bette näherte, wurde sie doch endlich durch die verzweifelten und sanften Blicke überwunden, mit denen er ihr folgte. War er nicht länger das Ungeheuer mit der blutbespritzten Haut und den vor Wut verdrehten Augäpfeln, dessen Andenken sie mit allen Schrecken der Erinnerung quälte? Es kostete sie eine große Anstrengung, dies Untier jetzt noch in diesem Unglücklichen mit dem gutmütigen, anstelligen Wesen bei seinen grausamen Leiden wiederzuerkennen. Der so selten vorkommende Fall rührte durch sein plötzliches Siechtum das ganze Lazarett. Man wußte nicht einmal genau, ob er wirklich Gutmann hieße, aber man nannte ihn so, weil der einzige Laut, den er hervorbringen konnte, in einem Gebrumm zweier Silben bestand, die beinahe diesem Namen glichen. Im übrigen glaubte man nur, er wäre verheiratet und hätte Kinder. Er mußte wohl ein paar Worte französisch verstehen, denn zuweilen antwortete er durch heftiges Kopfnicken. Verheiratet? Ja, ja! Kinder? Ja, ja! Die Rührung, die er eines Tages beim Anblick von Mehl empfand, führte zu der weiteren Annahme, er könne Müller sein. Weiter nichts. Wo mochte die Mühle liegen? In welchem entfernten Orte Bayerns weinten wohl jetzt seine Frau und Kinder? Mußte er unerkannt sterben, namenlos, und die Seinigen dort hinten in ewiger Erwartung zurücklassen?

»Heute«, erzählte Henriette Jean eines Abends, »hat Gutmann mir Kußhände zugeworfen ... Ich kann ihm nicht mehr zu trinken geben oder ihm die geringste Kleinigkeit besorgen, ohne daß er die Finger an die Lippen führt und mir durch seine Bewegungen die glühendste Dankbarkeit ausdrückt ... Sie dürfen nicht lachen, es ist zu schrecklich, wenn man so vor der Zeit lebendig begraben wird.«

Gegen Ende Oktober ging es Jean indessen besser. Der Doktor neigte dazu, das Drän zu entfernen, wenn er auch noch einen gewissen Argwohn beibehielt; und die Wunde schien ganz rasch vernarben zu wollen. Der Genesende konnte aufstehen und brachte Stunden mit Herumlaufen in der Kammer zu, oder indem er vor dem Fenster saß, wo der Flug der Wolken ihn traurig stimmte. Dann ärgerte er sich und redete davon, er müsse sich mit irgend was beschäftigen oder wolle sich auf dem Hofe nützlich machen. Eine der geheimen Quellen seines Unbehagens war die Geldfrage, denn er glaubte, seine zweihundert Francs wären in den sechs langen Wochen längst ausgegeben. Wenn Vater Fouchard weiter gute Miene machte, dann mußte also Henriette ihn wohl bezahlen. Dieser Gedanke war ihm peinlich; er wagte auch nicht, sich mit ihr darüber auseinanderzusetzen, und empfand es als eine wahre Erleichterung, als sie übereinkamen, daß er für einen neuen Knecht ausgegeben werden sollte, der mit Silvine die Sachen im Hause zu besorgen hatte, während Prosper sich mit der Bestellung draußen beschäftigte.

Trotz der scheußlichen Zeiten war ein Knecht mehr gar nicht zuviel für Vater Fouchard, denn sein Geschäft ging ausgezeichnet. Wählend das ganze Land an allen vier Gliedern zur Ader gelassen röchelte, fand er Mittel und Wege, sein Gewerbe als herumziehender Schlachter derartig zu erweitern, daß er jetzt das Drei- und Vierfache an Tieren schlachtete. Man erzählte sich, er habe seit dem 31. August großartige Verkäufe mit den Preußen abgeschlossen. Er, der noch am 30. seine Tür gegen die Soldaten des siebenten Korps mit der Flinte in der Hand verteidigt hatte, ihnen kein Laib Brot hatte geben wollen und ihnen zurief, sein Haus sei leer, hatte sich beim Erscheinen des ersten feindlichen Soldaten am 31. als ein Händler für alles aufgetan, hatte fabelhafte Fleischvorräte, ganze Herden aus seinem Keller ausgegraben und aus unbekannten Löchern hervorgeholt, wo er sie versteckt gehalten hatte. Und seit dem Tage besaß er eine der größten Fleischlieferungen für die deutschen Heere, und alles war erstaunt über die Geschicklichkeit, mit der er seine Ware unterbrachte und sie sich zwischen zwei Beschlagnahmen bezahlen ließ. Andere hatten unter den manchmal rohen Anforderungen der Sieger zu leiden: er hatte noch nicht einen Scheffel Mehl abgeliefert oder einen Hektoliter Wein oder ein Viertel Ochsen, ohne sofort schöne, klingende Münze dafür zu bekommen. Man klatschte darüber wohl in Remilly und fand es gemein von jemand, der gerade seinen einzigen Sohn im Kriege verloren hatte; übrigens besuchte er das Grab nie, und Silvine unterhielt es ganz allein. Aber schließlich achteten sie es doch, daß er reich zu werden verstände, während die größten Schlauköpfe ihr Fell lassen mußten. Aber er zuckte schlau die Achseln und brummte breitschultrig und dickfellig:

»Vaterlandsfreund, Vaterlandsfreund, ich bin ein besserer als sie!... Ist denn das vielleicht Vaterlandsliebe, die Preußen für nichts und wieder nichts vollzustopfen? Ich lasse sie doch ordentlich bezahlen... Wir werden schon sehen, wir werden später schon sehen!«

Schon am zweiten Tag stand Jean zu lange herum, und die heimlichen Befürchtungen des Doktors bewahrheiteten sich: die Wunde brach wieder auf, das Bein entzündete sich ganz erheblich und er mußte sich wieder zu Bett legen. Dalichamp kam schließlich auf das Vorhandensein eines Knochensplitters, den die Anstrengungen der beiden Tage vollends abgerissen hatten. Er suchte ihn und war so glücklich, ihn herauszubekommen. Aber das ging nicht ohne neue Erschütterungen mit heftigem Fieber ab, das Jean abermals sehr herunterbrachte. Noch nie vorher war er in einen derartigen Schwächezustand verfallen. Und Henriette nahm ihren Platz als treue Pflegerin in der Kammer wieder auf, die der Winter nun mit seiner Kälte noch trauriger erscheinen ließ. Es war jetzt in den ersten Novembertagen; der Wind hatte bereits einen Schneesturm herangefegt, und es war auf den Fliesen innerhalb der vier kahlen Wände bitterkalt. Da kein Kamin vorhanden war, entschlossen sie sich, einen kleinen Ofen aufzustellen, der ihre Einsamkeit mit seinem Bollern etwas erheiterte.

Eintönig liefen die Tage dahin, und diese erste Woche seines Rückfalles war sicher für Jean und für Henriette auch die düsterste ihrer langen, erzwungenen Vertraulichkeit. Sollte denn sein Leiden gar kein Ende nehmen? Sollten immer wieder neue Gefahren auftreten und sie auf gar kein Ende all dieses Elendes hoffen können? Alle Augenblicke flogen ihre Gedanken zu Maurice, von dem sie nichts mehr hörten. Sie erfuhren wohl, andere bekämen Briefe, winzige, von Brieftauben überbrachte Briefchen. Zweifellos hatte der Schuß eines Deutschen gerade die Taube auf ihrem Fluge getötet, die ihnen ihre Freude und Liebe durch den weiten, freien Himmel zutrug. Alles schien vor dem vorzeitigen Winter zurückzuweichen, zu verlöschen und zu vergehen. Der Lärm des Krieges gelangte nur mit bedeutenden Verzögerungen zu ihnen; die spärlichen Zeitungen, die Doktor Dalichamp ihnen noch hin und wieder mitbrachte, waren manchmal eine Woche alt. Und so rührte ihre Traurigkeit besonders von ihrer Unwissenheit her, von dem, was sie nicht wußten, und dem, was sie ahnten, denn trotz allem hörten sie durch die schweigende Landschaft einen langgezogenen Todesschrei um den Hof herumziehen.

Eines Morgens kam der Doktor ganz aufgelöst, mit zitternden Händen zu ihnen. Er zog eine belgische Zeitung aus der Tasche, und während er sie auf das Bett warf, rief er:

»Ach, Freunde, Frankreich ist tot, nun hat uns Bazaine auch verraten!«

Jean, der mit zwei Kopfkissen im Rücken vor sich hinschlummerte, wachte auf.

»Wieso verraten?«

»Ja, er hat Metz und sein Heer übergeben. Da geht die Geschichte von Sedan wieder los, und diesmal ist's mit unserm Fleisch und Blut zu Ende!«

Dann nahm er die Zeitung wieder auf und las:

»Hundertfünfzigtausend Kriegsgefangene, hundertdreiundfünfzig Adler und Fahnen, fünfhundertundein Feldgeschütz, sechsundsechzig Mitrailleusen, achthundert Festungsgeschütze, dreihunderttausend Gewehre, zweitausend Militärfuhrwerke, Ausrüstung für fünfundachtzig Batterien ...«

Und er gab ihnen noch weitere Einzelheiten an: Marschall Bazaine mit seinem Heer, in Metz eingeschlossen, zur Untätigkeit gezwungen, nichts unternehmend, um den ihn umgebenden eisernen Gürtel zu sprengen; seine dann folgenden Berichte an Prinz Friedrich Karl, seine dunklen, zögernden politischen Pläne, sein Ehrgeiz, eine entscheidende Rolle zu spielen, über die er sich selbst indessen noch gar nicht im klaren zu sein schien; dann all seine verwickelten Unternehmungen, die verdächtigen, lügnerischen Botschaften an Herrn von Bismarck, an König Wilhelm, an die Kaiserin-Regentin, die sich schließlich geweigert hatte, mit dem Feinde auf der Grundlage von Gebietsabtretungen weiterzuverhandeln; und das unentrinnbare Verhängnis, das Schicksal sein Werk vollendend, Hungersnot in Metz, die Übergabe erzwungen, Führer und Soldaten derart heruntergekommen, daß sie die harten Bedingungen des Siegers annehmen mußten. Frankreich hatte kein Heer mehr.

»Herrgott!« fluchte Jean dumpf vor sich hin; alles hatte er nicht verstanden, aber für ihn war Bazaine bis dahin der große Feldhauptmann geblieben, der einzige noch mögliche Retter. »Also, was sollen wir nun machen? Was wird aus denen in Paris?«

Der Doktor war gerade bis zu den unheilvollen Nachrichten aus Paris gelangt. Er machte sie darauf aufmerksam, daß die Zeitung am 5. November ausgegeben war. Die Übergabe von Metz hatte am 27. Oktober stattgefunden, und die Nachricht konnte erst am 30. in Paris bekanntgeworden sein. Nach den bei Chevilly, bei Bagneur, bei Malmaison erlittenen Schlägen, nach dem Kampf und dem Verlust von Le Bourget fiel diese Nachricht wie ein Donnerschlag auf die verzweifelte, durch die Schwäche und Untätigkeit der Regierung der nationalen Verteidigung gereizte Bevölkerung nieder. Am nächsten Tage, dem 31. Oktober, brach denn auch ein richtiger Aufstand los; eine Riesenmenge hatte den Platz vor dem Stadthause vollgepfropft und war in die Säle gedrungen, wo sie die Mitglieder der Regierung als Gefangene festhielt, bis die Nationalgarde sie aus Furcht befreite, man möchte sonst die Umsturzmänner triumphieren sehen, die die Kommune ausriefen. Und die belgische Zeitung fügte die beleidigendsten Betrachtungen für das große Paris hinzu, das der Bürgerkrieg im Augenblicke, wo der Feind vor den Toren stand, zerriß. War das nicht die endgültige Zersetzung, die Pfütze von Dreck und Blut, in der eine ganze Welt zugrunde ging? »Das ist auch wahr,« flüsterte Jean ganz blaß, »man prügelt sich auch nicht, wenn die Preußen da sind.«

Henriette, die noch nichts gesagt hatte und über diese politischen Angelegenheiten auch nicht gern den Mund auftun wollte, konnte einen Ausruf nicht zurückhalten. Sie dachte lediglich an ihren Bruder.

»Mein Gott! Wenn Maurice sich mit seinem Tollkopf nur nicht in diese Geschichte mengt!«

Es entstand Stille, und der Doktor fing als glühender Vaterlandsfreund wieder an:

»Einerlei, wenn auch keine Soldaten mehr da sind, werden schon neue wachsen. Metz hat sich ergeben, selbst Paris könnte sich auch mal übergeben, und Frankreich würde deshalb doch noch nicht vergehen ... Ja, wie unsere Bauern sagen, der Magen ist noch gesund und wir werden schon weiterleben!«

Aber sie sahen wohl, das war nur erzwungene Hoffnungsfreudigkeit. Er sprach von dem neuen Heere, das sich an der Loire bildete, und von seinem ersten Auftreten in der Gegend von Arthénay, das nicht sehr glücklich verlaufen war: es mußte sich erst an den Krieg gewöhnen, dann würde es schon auf Paris ziehen. Ganz fieberhaft erregt war er über die Aufrufe Gambettas, der am 7. Oktober im Ballon von Paris abgegangen war und sich am nächsten Tage in Tours eingerichtet hatte; sie riefen alle Bürger zu den Waffen und sprachen in einer zugleich so männlichen und doch so verständigen Weise, daß das arme Land sich dieser Diktatur der öffentlichen Wohlfahrt unterwarf. Und war nicht auch von der Bildung einer weiteren Heeresgruppe im Norden die Rede, einer andern im Osten, so daß lediglich durch die Kraft des Glaubens die Soldaten nur so aus dem Boden schossen! Das war das Erwachen der Provinz, der unbezähmbare Wille, alles Fehlende zu schaffen, den Kampf bis zum letzten Sou und dem letzten Blutstropfen fortzusetzen.

»Bah!« schloß der Doktor und stand auf, um fortzugehen, »ich habe schon manchem Kranken das Leben abgesprochen, der acht Tage später wieder auf den Beinen stand.«

Jean mußte lächeln.

»Herr Doktor, machen Sie mich schnell gesund, damit ich wieder auf meinen Posten da hinten ziehen kann.«

Aber in ihm sowohl wie in Henriette blieb doch eine große Traurigkeit über diese neuen schlechten Nachrichten zurück. Am selben Abend hatten sie einen Schneesturm, und als Henriette am nächsten Tage ganz zitternd aus dem Lazarett zurückkam, erzählte sie ihm, Gutmann sei gestorben. Diese starke Kälte nahm den zehnten von ihren Kranken mit und leerte die Reihen der Betten. Der unglückliche Stumme, dem die halbe Zunge fortgerissen war, hatte zwei Tage lang geröchelt. Während der letzten Stunden war sie am Kopfende seines Bettes sitzengeblieben, mit so flehenden Blicken hatte er sie angesehen. Sie erzählte, wie ihm die Augen voller Tränen gestanden hätten; er hatte ihr vielleicht seinen richtigen Namen sagen wollen, den Namen des fernen Dorfes, in dem Weib und Kinder auf ihn warteten. Und so war er unbekannt hinübergegangen und hatte ihr mit tastenden Fingern einen letzten Kuß zugeworfen, wie um ihr noch einmal für ihre freundliche Fürsorge zu danken. Sie war allein zum Friedhof mitgegangen, wo die gefrorene Erde, die schwere Erde der Fremde, mit Schneeballen untermischt, dumpf auf seinen Fichtensarg fiel.

Am nächsten Morgen sagte Henriette dann bei ihrer Rückkehr:

»Das ›Arme Kind‹ ist auch tot.« Um diesen weinte sie noch.

»Wenn Sie ihn in seinem Fiebertraum gesehen hätten! Er nannte mich ›Mama! Mama!‹ und seine Arme, die er nach mir ausstreckte, waren so dünn, daß ich ihn auf den Schoß nehmen mußte ... Ach, der Unglückliche! Sein Leiden hatte ihn so heruntergebracht, daß er nicht viel mehr wog als ein kleiner Junge ... Ich habe ihn gewiegt, damit er in Ruhe sterben könnte, jawohl! Richtig gewiegt; er nannte mich ja auch Mutter, und ich war doch nur ein paar Jahr älter als er ... Er weinte, und ich konnte meine Tränen auch nicht zurückhalten und muß immer noch weinen ...«

Sie erstickte und mußte abbrechen.

»Als er starb, stammelte er immer wieder die Worte, mit denen wir ihn anredeten: ›Armes Kind, armes Kind!‹ ... Ach ja, gewiß sind sie alle arme Kinder, all die braven Jungens, und manche sind noch so jung, und der scheußliche Krieg nimmt ihnen ihre Gliedmaßen und läßt sie so leiden, ehe sie in die Grube fahren!«

Jeden Tag kam Henriette jetzt derartig niedergeschlagen von einem neuen Todeskampfe nach Hause, und dies Leiden der andern brachte sie noch näher zusammen in den traurigen Stunden, die sie so allein in der großen friedlichen Kammer verbrachten. Und doch waren es sehr süße Stunden; denn es war eine Zuneigung zwischen ihnen entstanden, die sie für geschwisterlich hielten, da ihre Herzen sich allmählich verstehen gelernt hatten. Er hatte sich mit seiner nachdenklichen Sinnesart an ihrer fortdauernden Vertraulichkeit aufgerichtet; und wenn sie ihn so gut und verständig sah, dachte sie gar nicht mehr daran, daß er, bevor er den Tornister getragen hätte, den Pflug geführt habe. Sie verstanden sich ausgezeichnet und führten sehr gut Haus miteinander, wie Silvine mit ernstem Lächeln sagte. Es war auch gar keine Scham voreinander zwischen ihnen entstanden, und sie pflegte sein Bein weiter, ohne daß ihre klaren Blicke sich auch nur je hätten abwenden müssen. Stets in Schwarz, in ihren Witwenkleidern schien sie gar keine Frau mehr zu sein.

Jean mußte aber an den langen Nachmittagen, an denen er allein saß, darüber nachdenken. Was er für sie fühlte, war eine Art unendlicher Dankbarkeit, eine hingebende Hochachtung, die jeden Gedanken an Liebe wie eine Heiligtumsschändung von sich wies. Und trotzdem sagte er sich, wenn er eine solche Frau gehabt hätte, so zart, so sanft, so tätig, dann wäre das Leben für ihn ein Dasein im Paradiese gewesen. Sein Elend, die schlimmen in Rognes zugebrachten Jahre, das Unglück seiner Ehe, der gewaltsame Tod seiner Frau, seine ganze Vergangenheit wurde mit einem zarten Bedauern wieder lebendig in ihm, in einer unbestimmten, kaum ausgesprochenen Hoffnung, als sollte er sein Glück noch einmal versuchen. Er schloß die Augen und ließ sich vom Halbschlaf umfangen, und dann sah er sich ganz verworren in Remilly wieder, aufs neue verheiratet, als Besitzer von so viel Land, wie zur Befriedigung eines Haushaltes von tüchtigen, aber nicht ehrgeizigen Leuten genügte. Das war so leicht, daß es gar keinen Bestand hatte, niemals bestehen konnte. Er hielt sich nur noch der Freundschaft fähig; er klebte Henriette, weil er ja doch Maurices Bruder war. Aber schließlich wurde dieser undeutliche Traum einer Ehe doch zu einem großen Trost für ihn, eine dieser Einbildungen, von denen man weiß, sie sind nicht zu verwirklichen, und doch tun sie einem in traurigen Stunden so wohl.

Henriette hatte dagegen noch keinen Hauch von etwas Derartigem verspürt. Ihr Herz war am Tage des schrecklichen Vorganges in Bazeilles gemordet; und wenn ein Trost, eine neue Zuneigung sie überkam, so mußte das geschehen sein, ohne daß sie es bestimmt empfand: es war das eine jener verborgenen Wanderungen des sprossenden Samenkorns, dessen verborgene Arbeit nichts dem Blicke enthüllt. Sie wußte gar nicht, was für ein Vergnügen sie dabei empfand, stundenlang an Jeans Bett zu sitzen und ihm aus den Zeitungen vorzulesen, obwohl sie ihnen doch stets nur neuen Kummer bereiteten. Nie wurde ihre Hand, wenn sie die seinige zufällig berührte, auch nur warm; nie hatte der Gedanke an das Morgen sie in Träume gewiegt und sie wünschen lassen, wieder geliebt zu werden. Aber sie übersah nicht, daß sie sich doch nur in dieser Kammer getröstet fühlte. Wenn sie sich hier befand, wenn ihr sanfter Tätigkeitsdrang sie hier beschäftigte, dann wurde ihr Herz ruhig und es schien ihr, als müßte ihr Bruder demnächst wiederkommen, alles würde gut ausgehen, sie würden schließlich glücklich werden und sich nie wieder verlassen. Und sie sprach hierüber ohne jede Verwirrtheit, so natürlich schienen ihr diese Sachen, ohne daß es ihr bei der keuschen und unbewußten Hingabe ihres ganzen Herzens in den Sinn gekommen wäre, sich tiefer zu befragen.

Als sie sich aber eines Nachmittags nach dem Lazarett begab, wurde ihr Herz vor Schrecken zu Eis, als sie in der Küche einen preußischen Hauptmann und zwei andere Offiziere bemerkte, und nun begriff sie, eine wie große Zuneigung sie zu Jean empfand. Diese Leute hatten augenscheinlich von der Anwesenheit des Verwundeten auf dem Hofe gehört und waren gekommen, um ihn festzunehmen; das bedeutete, sein Fortgehen, seine Gefangenschaft in Deutschland, tief in irgendeiner Festung, waren unvermeidlich. Sie hörte zitternd zu, und ihr Herz schlug mächtig. Der Hauptmann, ein dicker Mann, der französisch sprach, überhäufte Vater Fouchard mit Vorwürfen.

»Das kann so nicht weitergehen, Sie machen sich über uns lustig. Ich bin selbst gekommen, um Ihnen anzukündigen, daß, wenn der Fall noch einmal vorkommt, ich Sie zur Rechenschaft ziehen werde, jawohl! Und ich werde meine Maßregeln zu treffen wissen!«

Ganz ruhig, mit herabhängenden Händen heuchelte der Alte Erstaunen, als hätte er nichts begriffen. »Wieso denn, Herr, wieso denn?«

»Ach! Heulen Sie mir nicht die Ohren voll, Sie wissen ganz genau, die drei Kühe, die Sie mir Sonntag verkauft haben, waren verfault, vollständig verfault, krank, an irgendeiner ansteckenden Krankheit gestorben, denn sie haben meine Leute vergiftet, und jetzt werden wohl schon zwei von ihnen tot sein.«

Nun spielte Vater Fouchard den Unwilligen, Ärgerlichen.

»Verfault! Meine Kühe! So schönes Fleisch, das könnte man einer Wöchnerin geben, um sie wieder zu Kräften zu bringen!«

Und dann jammerte er und schlug sich an die Brust und schrie, er wäre ein ehrlicher Mann und wollte sich lieber was von seinem eigenen Fleisch abhacken, als schlechtes verkaufen. Seit dreißig Jahren kennte ihn jedermann, und niemand könne von ihm sagen, daß er nicht gutes Gewicht führe und gute Ware.

»Sie waren gesund wie mein Augapfel, Herr, und wenn Ihre Soldaten Durchfall haben, dann haben sie zuviel gegessen; wenn nicht gar schlechte Kerls ihnen was in den Kessel geschüttet haben ...«

So betäubte er den Hauptmann mit einem derartigen Wortschwall und so lächerlichen Vermutungen, daß dieser schließlich außer sich geriet und ihm das Wort abschnitt.

»Genug! Ich habe Sie jetzt gewarnt, passen Sie auf! ... Und dann noch etwas: wir haben Sie im Verdacht, daß Sie alle hier im Dorfe im Einvernehmen mit den Franktireurs aus dem Walde von Dieulet stehen, die uns vorgestern erst wieder einen Posten ermordet haben ... Verstehen Sie, passen Sie auf!«

Als die Preußen fort waren, zuckte Vater Fouchard mit einem unendlich verächtlichen Hohnlachen die Achseln. Verrecktes Vieh, natürlich verkaufte er ihnen das, sie brauchten überhaupt nichts anderes zu essen. All das Aas, das die Bauern ihm brachten, das an Krankheit gefallen war oder das er verreckt im Graben fand, war das nicht etwa gut genug für diese Drecklümmel?

Er zwinkerte mit dem einen Auge, und indem er sich zu der wieder ruhig gewordenen Henriette wandte, sagte er mit einer Art spöttischer Siegermiene:

»Na, Kleine, sollte man's denken, daß es dann noch Leute gibt, die sagen, ich wäre kein Vaterlandsfreund ... Was? Laß es sie ebenso machen und sie die Preußen auch mit verdorbenem Fleisch anschmieren, damit sie ihre Sous dafür einstecken! ... Kein Vaterlandsfreund, gottsverdammt! Ich habe mit meinen Kühen schon mehr umgebracht als mancher Soldat mit seinem Chassepot!«

Als Jean von dieser Geschichte hörte, wurde er aber doch unruhig. Wenn die deutschen Behörden argwöhnten, die Einwohner von Remilly nähmen die Franktireurs aus dem Walde von Dieulet auf, dann konnten sie von einer Stunde zur andern Haussuchungen vornehmen und ihn entdecken. Der Gedanke, seine Wirte bloßzustellen, Henriette auch nur die geringste Aufregung zu verursachen, war ihm unerträglich. Aber sie brachte ihn durch ihr Flehen schließlich dazu, daß er noch ein paar Tage blieb; denn seine Wunde vernarbte sehr langsam, seine Beine waren noch nicht fest genug, um zu einem der im Norden oder an der Loire im Felds stehenden Regimenter zu stoßen.

Daher wurden denn auch die Tage bis zur Mitte Dezember die schaurigsten, schmerzlichsten ihrer ganzen Einsamkeit. Die Kälte war so durchdringend geworden, daß der Ofen das große, kahle Zimmer nicht mehr durchwärmen konnte. Wenn sie durchs Fenster den dicken Schnee draußen auf dem Erdboden liegen sahen, dann dachten sie an Maurice, der dort hinten in dem vereisten, toten Paris vergraben lag und von dem sie nichts Genaues mehr hörten. Immer wieder traten die gleichen Fragen auf: was machte er wohl, warum gab er kein Lebenszeichen von sich? Sie wagten nicht, sich ihre schrecklichen Befürchtungen zu erzählen, daß er verwundet, daß er krank, vielleicht schon tot sei. Die paar unbestimmten Nachrichten, die sie durch die Zeitungen erhielten, waren auch nicht gerade geeignet, sie ruhiger zu machen. Nach verschiedenen, als glücklich verlaufen ausgegebenen Ausfällen, die sofort widerrufen wurden, lief das Gerücht von einem großen, am 2. Dezember bei Champigny von General Ducrot davongetragenen Siege umher; später hörten sie aber ganz bestimmt, daß er am nächsten Tage gezwungen worden war, die eroberten Stellungen aufzugeben und sich über die Marne zurückzuziehen. So wurde Paris durch ein mit jeder Stunde enger werdendes Band erdrosselt, die Hungersnot begann, nach dem Hornvieh wurden die Kartoffeln beschlagnahmt, die Bürger bekamen kein Gas mehr, bald mußten die Straßen dunkel sein und nur noch der rote Flug der Granaten durch sie hindurchwirbeln. Und beide konnten sie sich nicht mehr erwärmen oder essen, ohne daß das Bild Maurices und der zwei Millionen in diesem Riesengrabe eingeschlossenen Lebewesen wie ein Spukbild vor ihnen auftauchte.

Von allen Seiten, vom Norden sowohl wie aus der Mitte, kamen immer schlechtere Nachrichten. Im Norden hatte das zweiundzwanzigste Korps, das aus Mobilgarden, Ersatzkompagnien und Soldaten und Offizieren gebildet war, die dem Unglück bei Sedan und Metz entronnen waren, Amiens aufgeben und sich nach der Gegend von Arras zurückziehen müssen; daraufhin war dann Rouen in die Hände des Feindes gefallen, ohne daß diese Handvoll aufgelöster, entmutigter Männer es ernstlich verteidigt hätten. In Mittelfrankreich hatte der am 9. November bei Coulmiers durch die Loireabteilung davongetragene Sieg glühende Hoffnungen erweckt: Orléans wiedergenommen, die Bayern auf der Flucht, der Marsch auf Etampes, der Entsatz von Paris bevorstehend. Am 5. Dezember nahm Prinz Friedrich Karl Orléans wieder, zerschnitt die Loiregruppe in zwei Teile, von denen drei Korps sich auf Vierzon und Bourges zurückzogen, während zwei andere unter dem Befehl General Chanzys in heldenmütigem Rückzug auf Le Mans zurückgingen, in einer ganzen Woche voller Kämpfe und Märsche. Die Preußen standen überall, bei Dijon wie bei Dieppe, bei Le Mans wie bei Vierzon. Und dann kam fast jeden Tag von weither der Krach, daß sich wieder ein fester Platz infolge Beschießung ergeben habe. Am 28. September war Straßburg nach sechsundvierzigtägiger Belagerung und siebenunddreißigtägiger Beschießung unterlegen, die Mauern zerhackt, die Baudenkmäler von fast zweihunderttausend Geschossen durchlöchert. Schon war die Zitadelle von Laon in die Luft geflogen, hatte Tour sich übergeben; und dann kam die düstere Folge: Soissons mit seinen hundertachtundzwanzig Geschützen, Verdun, das hundertsechsunddreißig hatte, Neubreisach hundert, La Fère siebzig, Montmédy fünfundsechzig. Diedenhofen stand in Flammen, Pfalzburg öffnete seine Tore erst nach zwölf Wochen wütenden Widerstandes. Es schien, als brenne, zerschmölze ganz Frankreich in dieser rasenden Beschießung.

Als Jean eines Morgens unbedingt fortgehen wollte, umfaßte Henriette seine Hände mit einer verzweifelten Umklammerung und hielt ihn zurück.

»Nein, nein! Ich flehe Sie an, lassen Sie mich nicht allein hier! Sie sind noch zu schwach, warten Sie noch ein paar Tage, nur noch ein paar Tage ... Ich verspreche Ihnen, ich lasse Sie sofort los, wenn der Doktor sagt, daß Sie stark genug sind, um wieder ins Feld zu gehen.«


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