Emile Zola
Der Zusammenbruch
Emile Zola

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7

An Remilly verstopfte ein fürchterliches Gewirr von Menschen, Pferden und Wagen die abschüssige Straße, die sich in Windungen nach der Maas hinunterzieht. Auf halber Höhe vor der Kirche hatten sich Geschütze mit den Rädern ineinandergefahren und konnten trotz Fluchen und Schlagen nicht weiter fortgebracht werden. Unten bei der Spinnerei, wo ein Fall der Emmane rauscht, versperrte ein ganzer Schwanz von gescheiterten Gepäckwagen den Weg; ein unaufhaltsam anwachsender Strom von Soldaten schlug sich währenddessen vor dem Wirtshaus zum Malteserkreuz, ohne auch nur ein Glas Wein erhalten zu können.

Dieser wütende Andrang verlor seine Kraft erst am äußersten südlichen Ende der Stadt, wo eine Baumgruppe sie vom Flusse trennt, über den die Pioniere am Morgen eine Schiffsbrücke geschlagen hatten. Rechts davon befand sich eine Fähre; das weiße Haus des Schiffers lag einsam im hohen Grün. Auf beiden Ufern waren große Feuer angezündet, deren von Zeit zu Zeit hoch emporschlagende Flammen die Nacht durchleuchteten und das Wasser und die steilen Böschungen in Tageshelle erscheinen ließen. Nun tauchten die gewaltigen Truppenmassen auf, die warten mußten, da der Laufsteg nur zwei Mann zur Zeit den Übergang gestattete und aus der höchstens drei Meter breiten Brücke Kavallerie, Artillerie und das Gepäck mit tödlicher Langsamkeit im Schritt hinübergingen. Es hieß, daß sogar eine Brigade des ersten Korps sich noch dort befände, die Bedeckung einer Munitionsabteilung, ohne die vier Kürassierregimenter der Brigade Bonnemain in Rechnung zu stellen. Und hinter ihnen kam nun das ganze siebente Korps, das den Feind auf den Hacken zu haben glaubte und sich in fieberhafter Hast auf dem andern Ufer in Schutz bringen wollte.

Einen Augenblick herrschte Verzweiflung. Wie? Seit dem Morgen marschierten sie, ohne gegessen zu haben; gerade hatten sie sich auf Kosten ihrer Beine aus dem schrecklichen Engpaß von Haraucourt herausgezogen, und das alles nur, um hier bei der allgemeinen Unordnung und Bestürzung gegen eine unübersteigbare Mauer zu rennen! Die letzten würden vielleicht nach Stunden noch nicht an die Reihe kommen; und alle fühlten, daß, wenn die Preußen auch bei Nacht ihre Verfolgung nicht fortzusetzen wagten, sie doch bei Tagesanbruch da sein würden. Indessen kam der Befehl, die Gewehre zusammenzustellen, und sie lagerten auf den weiten, nackten, bis an die Maaswiesen hinuntergehenden Hügeln, an deren Abhängen sich die Straße von Mouzon entlangzieht. Hinter ihnen nahm oben auf einer ebenen Fläche die Reserveartillerie Gefechtsstellung ein und richtete ihre Geschütze auf den Paß, um, falls nötig, seinen Ausgang zu bestreichen. Und das Warten ging von neuem an, voller Aufruhr und Ängste.

Die 106er fanden sich indessen auf einem oberhalb der Straße gelegenen Stoppelfeld untergebracht, das die weite Ebene beherrschte. Die Leute legten widerwillig ihre Gewehre ab und blickten voller Furcht vor einem Angriff nach rückwärts. Alle schwiegen; ihre Gesichter waren hart, verschlossen, und sie brummten nur zeitweilig leise, zornige Worte. Eben hatte es neun geschlagen, und sie lagen hier schon zwei Stunden; viele konnten auch trotz der heftigen Abspannung nicht schlafen, sie lagen zitternd auf der Erde hingestreckt und lauschten auf die geringsten Geräusche in der Ferne. Gegen den sie verzehrenden Hunger kämpften sie nicht mehr an; dort drüben auf der andern Seite des Flusses wollten sie essen, und Gras essen, wenn sie nichts anderes fänden. Aber die Verstopfung schien zuzunehmen; die von General Douay an der Brücke aufgestellten Offiziere kamen alle zwanzig Minuten mit ewig derselben ärgerlichen Meldung, daß noch Stunden und abermals Stunden nötig sein würden. Der General entschloß sich endlich, sich selbst einen Zugang bis an die Brücke zu bahnen. Man sah, wie er zu dem Menschenstrome sprach und den Marsch beschleunigte.

Maurice hatte sich mit Jean auf eine Böschung gesetzt und wiederholte die Bewegung nach Norden hin, die er schon vorher gemacht hatte.

»Da unten liegt Sedan ... Und sieh, das ist Bazeilles... Und dann Douzy und Carignan rechts davon ... Bei Carignan sollen wir uns zweifellos sammeln... ach! wenn es nur hell wäre, würdest du schon sehen, Platz genug ist da!«

Seine Bewegung umspannte das riesige, von Schatten erfüllte Tal. Der Himmel war nicht so dunkel, daß man nicht auf der schwarzen Fläche der Wiesen den blassen Flußlauf hätte verfolgen können. Die Baumgruppen bildeten schwerere Massen, vor allen eine Reihe von Pappeln, die links den Horizont abschlossen und wie ein phantastischer Deich aussahen. Als Hintergrund hinter Sedan, das von kleinen, lebhaft hellen Punkten übersät war, ballte sich dann die Finsternis zusammen, als hätten die ganzen Ardennenwälder dort ihre hundertjährigen Eichen als Vorhang aufgespannt.

Jean ließ seine Blicke zu der Schiffsbrücke unter ihnen zurückgleiten.

»Sieh mal, alles will ausrücken! Wir kommen niemals 'rüber.«

Auf beiden Ufern schlugen die Feuer in diesem Augenblick höher empor, und ihre Helligkeit wurde so lebhaft, daß der Vorgang mit all seinen Schrecken so klar wie eine heraufbeschworene Geistererscheinung dastand. Unter dem Gewicht der seit dem Morgen übersetzenden Kavallerie und Artillerie hatten sich die die starken eichenen Bohlen tragenden Boote schließlich so weit gesenkt, daß die Brückenbahn nur noch wenige Zentimeter über dem Wasserspiegel lag. Jetzt gingen die Kürassiere hinüber; zwei und zwei in einer ununterbrochenen Reihe kamen sie aus dem Schatten des einen hohen Ufers, um in dem des andern zu verschwinden; die Brücke sah man gar nicht mehr; sie schienen auf dem Wasser zu reiten, das so wild erhellt war, daß es aussah, als ob eine Feuersbrunst auf ihm tanze. Die Pferde wieherten mit gesträubten Mähnen und gesteiften Beinen; voller Angst vor dem beweglichen Boden, dessen Nachgeben sie fühlten, schritten sie vorwärts. Aufrecht in den Bügeln, mit festem Zügel gingen die Kürassiere hinüber, immer mehr, in ihre weißen Mäntel gehüllt, so daß man von ihnen nichts sah als ihre in rotem Widerschein erglänzenden Helme. Man hätte sie für gespenstische Reiter halten mögen mit ihren Flammenhelmbüschen, die zum Kampfe mit der Finsternis auszogen.

Aus Jeans zusammengeschnürter Kehle brach eine tiefe Klage hervor.

»Oh, wie bin ich hungrig!«

Um sie herum waren die Leute indessen trotz ihres Bauchgrimmens eingeschlafen. Die Ermattung war zu groß geworden und vertrieb ihnen die Furcht, sie streckte sie rücklings, offenen Mundes, entkräftet unter dem mondscheinlosen Himmel auf die Erde hin. Von einem bis zum andern Ende der nackten Hügel ging die Spannung in Todesschweigen über.

»Oh! ich habe solchen Hunger, ich bin so hungrig, daß ich Erde essen könnte!«

So hart Jean gegen alles Übel war und so stumm er es ertrug, diesen Ausruf konnte er nicht langer unterdrücken; wider Willen stieß er ihn in der Raserei seines Hungers aus, denn seit sechsunddreißig Stunden hatte er nichts mehr gegessen. Als Maurice nun sah, daß ihr Regiment vor zwei oder vielleicht drei Stunden nicht hinüberkommen würde, faßte er einen Entschluß.

»Hör' mal, ich habe hier in der Nähe einen Ohm, den Ohm Fouchard, weißt du, von dem ich dir erzählt habe ... Da oben ist's, fünf- oder sechshundert Meter weit, und ich habe immer noch gewartet; wenn du aber solchen Hunger hast, der Ohm wird uns schon ein Stück Brot geben, Teufel auch!«

Und er nahm seinen Begleiter mit, der sich ihm überließ. Der kleine Hof Vater Fouchards lag am Ausgange des Passes von Haraucourt nahe dem ebenen Platze, auf dem die Reserveartillerie Stellung bezogen hatte. Es war ein niedriges Haus mit reichlichem Zubehör, einer Scheune, einem Vieh- und einem Pferdestall; und auf der andern Seite der Straße hatte der Bauer in einer Art Wagenschuppen seine Wanderschlachterei eingerichtet, das Schlachthaus, in dem er selbst die Tiere schlachtete und sie dann in seinem Wägelchen durch die Dörfer brachte. Maurice blieb beim Näherkommen überrascht stehen, als er kein Licht sah.

»Ach, der alte Geizhals, der hat sicher alles verrammelt, der wird nicht aufmachen!«

Ein sonderbares Schauspiel hielt ihn jedoch auf der Straße fest. Vor dem Hofe liefen ein Dutzend Soldaten herum, verhungerte Nachzügler zweifellos, die ihr Glück versuchen wollten. Zuerst hatten sie gerufen, dann angeklopft; und da sie das Haus so finster und schweigsam sahen, schlugen sie jetzt mit dem Kolben gegen die Tür, um das Schloß zu sprengen. Grobe Stimmen grölten.

»Herrgott nochmal! Los doch! Schmeißt es doch zusammen, wenn doch kein Mensch drin ist!«

Plötzlich schlug ein Flügel eines Bodenfensters zurück und ein großer alter Mann in einer Bluse erschien mit bloßem Kopfe, eine Kerze in der einen Hand, eine Flinte in der andern. Unter seinem struppigen weißen Haar saß ein breites, von vielen Falten durchzogenes Gesicht mit starker Nase, großen hellen Augen und willenskräftigem Kinn. »Diebsgesindel seid ihr, das alles kaputt haut,« schrie er mit harter Stimme. »Was wollt ihr?«

Etwas bestürzt wichen die Soldaten zurück.

»Wir verrecken vor Hunger, wir möchten was zu essen.«

»Ich habe nichts, keine Brotrinde ... Glaubt ihr, man könnte nur so einfach hunderttausend Mann füttern ... Heute morgen waren schon andere da, jawohl! Die von General Ducrot, die haben mir beim Durchmarschieren alles weggenommen.«

Die Soldaten kamen einer nach dem andern wieder heran.

»Mach' man auf, wir wollen uns nur ausruhen, du wirst schon noch was finden ...«

Und sie begannen schon wieder zu ballern, als der Alte das Licht auf die Brüstung stellte und sein Gewehr anlegte.

»So wahr ich hier eine Kerze habe, dem ersten, der an meine Tür kommt, breche ich den Hals!«

Nun mußte es zum Gefecht kommen. Flüche wurden laut, eine Stimme schrie, man solle doch das Schwein von Bauern erledigen, der wie alle andern sein Brot eher in den Brunnen schmeißen als den Soldaten auch nur einen Bissen geben würde. Die Läufe der Chassepots richteten sich auf ihn, und man wollte ihn schonungslos erschießen; er wich aber in seiner Wut und Starrköpfigkeit nicht aus dem Lichtkreis seiner Kerze.

»Rein gar nichts! Keine Rinde mehr! ... Alles haben sie weggenommen!«

Erschreckt stürzte Maurice, von Jean gefolgt, vorwärts.

»Kameraden! Kameraden! ...«

Er schlug die Gewehre der Soldaten nieder; und indem er den Kopf hob, bat er:

»Seht, seid doch vernünftig ... Erinnert Ihr Euch meiner nicht mehr? Ich bin's.«

»Wer bist du?«

»Maurice Levasseur, Euer Neffe.«

Vater Fouchard hatte seine Kerze wieder in die Hand genommen. Zweifellos erkannte er ihn. Aber er blieb hartnäckig bei seiner Absicht, auch kein Glas Wasser herzugeben.

»Neffe oder nicht, kann man das in dieser kohlrabenschwarzen Nacht sehen? ... Macht, daß ihr wegkommt, oder ich schieße!«

Und trotz alles Fluchens und Drohungen, ihn herunterzuholen oder Feuer an seine Stube zu legen, blieb er dabei, dies unaufhörlich zu wiederholen:

»Macht, daß ihr wegkommt, oder ich schieße!«

»Auch auf mich, Vater?« fragte plötzlich eine starke, den Lärm übertönende Stimme.

Verblüfft standen die andern still; ein Wachtmeister trat vor in das tanzende Licht der Kerze. Es war Honoré, dessen Batterie höchstens zweihundert Meter entfernt lag und der seit zwei Stunden gegen den unwiderstehlichen Wunsch ankämpfte, an diese Türe zu klopfen. Er hatte sich geschworen, nie wieder über diese Schwelle zu treten; er hatte in den vier Jahren, die er im Dienste stand, keinen Brief mit dem Vater gewechselt, den er jetzt in so kurzem Tone anredete. Die Nachzügler tuschelten lebhaft untereinander und beredeten sich. Der Sohn des Alten und ein Chargierter! Nichts zu machen, das konnte übel ausgehen, besser, man suchte weiter weg. Und sie zogen ab und verschwanden in der dunklen Nacht.

Als Fouchard begriff, daß er vor der Plünderung bewahrt sei, sagte er einfach, ohne jede Rührung im Tone, als ob er seinen Sohn noch gestern gesehen hätte:

»Du bist's ... schön, ich komme herunter!«

Das dauerte lange. Man hörte im Innern Schlösser auf- und wieder zuschließen, alle die Anstalten eines Mannes, der sicher sein will, daß ihm nichts wegkommt. Endlich öffnete sich die Tür, aber nur ganz wenig, von kräftiger Faust festgehalten.

»Komm du herein, aber niemand weiter!«

Seinem Neffen jedoch konnte er eine Zuflucht trotz sichtbaren Widerstrebens nicht verweigern.

»Vorwärts, du auch!«

Vor Jean schlug er die Tür unbarmherzig zu, so daß Maurice sich auf dringendes Bitten verlegen mußte. Aber er versteifte sich auf sein: nein! nein! er brauchte keine Unbekannten bei sich, keine Diebe, die ihm nur seine Sachen zerschlagen wollten. Schließlich verhalf Honoré dem Kameraden durch einen Stoß mit der Schulter hinein, und der Alte mußte nachgeben, wenn er auch leise Drohungen vor sich hinbrummte. Sein Gewehr hatte er nicht losgelassen. Als er sie dann unten in den gemeinschaftlichen Wohnraum gebracht hatte und die Flinte auf die Anrichte gelegt, die Kerze auf den Tisch gestellt hatte, verfiel er in hartnäckiges Schweigen.

»Sag' mal, Vater, wir verrecken vor Hunger. Du wirst uns doch wenigstens etwas Brot und Käse geben!«

Er antwortete nicht; er schien ihn gar nicht zu hören, sondern wandte sich unausgesetzt nach dem Fenster zurück, um zu horchen, ob nicht eine andere Bande käme, um sein Haus zu belagern.

»Ohm, seht mal, Jean ist wie unser Bruder. Er hat sich für mich die letzten Bissen vom Munde abgespart. Und wir haben soviel zusammen ausgehalten!«

Er wandte sich um und überzeugte sich, daß nichts fehlte; sie selbst aber sah er gar nicht an. Schließlich kam er scheinbar zu einem Entschluß, aber immer noch, ohne ein Wort zu sagen. Er nahm heftig die Kerze wieder auf und ließ sie im Dunkeln, wobei er noch sorgfältig die Tür hinter sich verschloß, damit niemand ihm folgen könne. Sie hörten, wie er die Kellertreppe hinunterstieg. Es dauerte sehr lange. Und als er zurückkam, schloß er alles von neuem ab, bevor er ein großes Brot und einen Käse auf den Tisch setzte, immer noch schweigend, was jetzt aber, nachdem sein Zorn verraucht war, nichts als bäurische Gerissenheit bewies; man weiß nie, wohin es führt, das Reden. Übrigens warfen sich die drei Männer auf die Eßsachen und verschlangen sie. Man hörte nur das wütende Knacken ihrer Kinnbacken. Honoré stand auf und ging nach der Anrichte, um nach einem Krug Wasser zu sehen.

»Vater, du hättest uns auch etwas Wein geben können.«

Fouchard hatte sich beruhigt und war wieder seiner selbst gewiß; nun fand er auch seine Sprache wieder.

»Wein! Ich habe keinen, keinen Tropfen mehr! ... Die andern, die von Ducrot, haben mir alles aufgegessen und ausgetrunken, alles ausgeplündert.«

Er log; das bewies trotz aller Anstrengung das Zwinkern seiner großen hellen Augen. Seit zwei Tagen hatte er sein Vieh verschwinden lassen, die paar Tiere, die er zum Hofdienst nötig hatte sowohl wie die zum Schlachten bestimmten, hatte sie nachts weggeführt und sie versteckt, wo niemand es ahnte, in irgendeinem Gehölz oder verlassenen Steinbruch. Und Stunden hatte er damit zugebracht, in seinem Hause alles über die Kante zu bringen, Wein, Brot, ebenso alle geringeren Vorrate bis zum Mehl und Salz, so daß man tatsächlich ohne jeden Erfolg in seinen Schränken hätte nachsuchen können. Das Haus war blank. Selbst den ersten Soldaten, die kamen, hatte er nichts verkaufen wollen. Man konnte nicht wissen, es würden vielleicht bessere Gelegenheiten kommen; undeutlich begannen allerlei Handelsentwürfe in seinem geduldigen, verschlagenen Geizhalsschädel zu entstehen.

Maurice hatte sich gesättigt und sprach zuerst.

»Habt Ihr meine Schwester Henriette schon lange nicht mehr gesehen?«

Der Alte fuhr fort umherzurennen und Blicke auf Jean zu werfen, der riesige Bissen Brot verschlang; ohne sich zu beeilen, sagte er wie nach langer Überlegung:

»Henriette, ja, vorigen Monat in Sedan ... Aber heute morgen habe ich Weiß, ihren Mann, gesehen. Er begleitete seinen Geschäftsinhaber, Herrn Delaherche, der ihn in seinem Wagen mitgenommen hatte, um die Truppen in Mouzon vorbeiziehen zu sehen, bloß zum Vergnügen ...«

Ein tiefer Hohn lief über das verschlossene Bauerngesicht.

»Vielleicht haben sie trotzdem nicht allzuviel davon gesehen, von dem Heere, und haben auch nicht viel Vergnügen dabei gehabt; denn seit drei Uhr konnte man auf den Straßen nicht mehr durchkommen, so voll waren sie von fliehenden Soldaten.«

Immer im demselben ruhigen, gleichgültigen Tonfall gab er nun einige Einzelheiten über die Niederlage des fünften Korps zum besten, das bei Beaumont während des Abkochens überrascht und von den Bayern gezwungen worden war, sich Hals über Kopf auf Mouzon zurückzuziehen. Zerstreute, vor Furcht rein verrückte Soldaten, die durch Remilly kamen, hatten ihm zugeschrien, de Failly habe sie an Bismarck verkauft. Und Maurice dachte an die unsinnigen Märsche der beiden letzten Tage, an die Befehle des Marschalls Mac Mahon, der den Rückzug beschleunigen und um jeden Preis über die Maas gehen wollte, und wieviel kostbare Tage dabei in unbegreiflichem Zaudern verlorengegangen waren. Es war zu spät. Zweifellos mußte der Marschall, der außer sich geriet, als er das siebente Korps in Oches fand, das er schon in la Besace glaubte, überzeugt gewesen sein, daß das fünfte Korps schon bei Mouzon lagere, während dieses sich verspätete und bei Beaumont vernichten ließ. Aber was konnte man auch von so schlecht geführten Truppen verlangen, die durch Warten und Flucht entmutigt sind und vor Hunger und Ermattung sterben?

Fouchard hatte sich endlich in seinem Erstaunen über das Verschwinden derartiger Bissen hinter Jean aufgepflanzt. Und kalt und spöttisch fragte er:

»Na, es geht wohl schon besser?«

Der Korporal hatte den Kopf erhoben und antwortete mit der gleichen bäurischen Dickfelligkeit:

»Es läßt sich so an, danke schön.«

Honoré hatte, seit er da saß, trotz seines Hungers zuweilen innegehalten und den Kopf nach einem Geräusch gedreht, das er zu hören glaubte. Wenn er nach all den Kämpfen seinen Eid gebrochen hatte, nie wieder einen Fuß über die Schwelle dieses Hauses zu setzen, so war er nur durch den unwiderstehlichen Wunsch nach einem Wiedersehen mit Silvine soweit gebracht worden. Unter seinem Hemde, unmittelbar auf der Haut, bewahrte er ihren Brief auf, den er in Reims bekommen hatte, diesen so zärtlichen Brief, in dem sie ihm sagte, daß sie ihn immer noch liebe und trotz der grausamen Vergangenheit nie einen andern lieben würde als ihn, trotz Goliath und dem kleinen Karlchen, das sie von dem Manne hatte. Und er dachte nur an sie und fühlte sich beunruhigt, weil er sie noch nicht gesehen hatte, obwohl sich sein ganzes Wesen dagegen aufbäumte, seinen Vater diese Unruhe sehen zu lassen. Aber die Sehnsucht riß ihn fort und er fragte mit einer natürlich klingen sollenden Stimme:

»Ist denn Silvine nicht mehr hier?«

Fouchard warf auf seinen Sohn einen zweideutigen Blick, in dem ein innerliches Lachen aufleuchtete.

»Doch, doch.«

Dann schwieg er und spuckte weit aus; und der Artillerist mußte nach einer Pause wieder anfangen:

»Dann ist sie wohl schon zu Bett gegangen?«

»Nein, nein.«

Endlich ließ sich der Alte zu der Erklärung herbei, daß er am Morgen trotz allem mit seinem kleinen Wagen auf den Markt nach Raucourt gefahren sei und das Mädchen mitgenommen habe. Daß Soldaten durchkamen, war doch kein Grund, weshalb die Welt aufhören sollte, Fleisch zu essen, oder daß man seine Geschäfte darum aufgeben sollte. Er hatte daher, wie alle Dienstag, einen Hammel und ein Viertel Rind da unten hingebracht; gerade war er mit seinem Verkauf fertig gewesen, als ihn die Ankunft des siebenten Korps in ein fürchterliches Gedränge geworfen hatte. Alles lief und schubste sich. Da hatte er Angst bekommen, sie möchten ihm seinen Wagen wegnehmen, und war ohne Silvine abgefahren, die gerade noch Einkäufe in dem Flecken machte.

»Ach! die wird schon wiederkommen«, schloß er in seinem ruhigen Tonfall. »Sie ist sicher bei ihrem Paten, dem Doktor Dalichamp, untergeschlüpft ... Einerlei, das Mädel hat Mut, wenn sie auch so aussieht, als könnte sie nur gehorchen ... Sie hat sicher gute Eigenschaften ...«

Wollte er Spaß machen? Wollte er nur zeigen, weshalb er das Mädchen bei sich behielt, das ihn mit seinem Sohn auseinandergebracht hatte, auch trotz des Preußenkindes, von dem sie sich nicht trennen wollte? Abermals wurde sein zweideutiger Blick mit dem stummen Lachen sichtbar.

»Karlchen liegt da in der Kammer und schläft; sie wird schon nicht mehr lange ausbleiben.«

Obwohl ihm die Lippen zitterten, blickte Honoré fest auf seinen Vater, als der seinen Gang wieder aufnahm. Und wieder setzte ein unendliches Schweigen ein, während er sich mechanisch Brot abschnitt und immer weiter aß. Auch Jean blieb dabei, ohne es für nötig zu halten, auch nur ein Wort zu sagen. Maurice war satt und betrachtete, die Ellbogen auf den Tisch gestützt, die Einrichtung, die alte Anrichte, die alte Uhr, und träumte von den Ferientagen, die er früher mit seiner Schwester Henriette in Remilly zugebracht hatte. So liefen die Minuten hin, und die Uhr schlug elf.

»Teufel!« murmelte er, »wir dürfen die andern doch nicht abrücken lassen.«

Und ohne daß Fouchard sich widersetzte, öffnete er ein Fenster. Tief unter ihm lag das ganze schwarze Tal in dem ein Meer von Finsternis dahinrollte. Als seine Augen sich aber erst gewöhnt hatten, konnte er ganz deutlich die Brücke erkennen, die von zwei Feuern an den steilen Ufern erhellt war. Immer noch gingen Kürassiere hinüber in ihren großen weißen Mänteln, so daß sie wie Gespenster aussahen, deren Pferde, vom Sturme der Furcht gepeitscht, auf dem Wasser dahinliefen. Und so ging das ohne Ende, ohne Unterbrechung weiter in derselben langsamen Bewegung wie eine Geistererscheinung. Die nackten Hügel nach rechts hinüber, auf denen die Armee schlief, blieben unbeweglich in Todesschweigen liegen.

»Na schön!« sagte Maurice mit einer verzweifelten Handbewegung, »morgen früh geht's also los.«

Er hatte das Fenster weit offengelassen, und Vater Fouchard, der sein Gewehr wieder aufgenommen hatte, trat auf die Brüstung und sprang mit der Leichtigkeit eines Jünglings hinaus. Einen Augenblick hörten sie ihn mit dem regelmäßigen Schritt eines Postens auf und ab gehen; dann hörte man weiter nichts als das mächtige Geräusch in der Ferne auf der gedrängt vollen Brücke: zweifellos hatte er sich an den Wegrand gesetzt, weil er da ruhiger war, da er die Gefahr kommen sehen konnte, bereit, mit einem Sprunge wieder in sein Haus zu setzen und es zu verteidigen.

Honoré blickte nun jede Minute auf die Uhr. Seine Unruhe wuchs. Es waren nur sechs Kilometer von Raucourt bis Remilly; für ein junges, kräftiges Mädchen, wie Silvine, kaum über eine Stunde Weg. Warum war sie noch nicht da, wenn der Alte sie schon vor Stunden in dem Wirrwarr eines ganzen Armeekorps verloren hatte, das das Land überschwemmte und die Wege verstopfte? Sicher war ein Unglück geschehen; er sah sie schon in üblen Geschichten mitten auf dem Felde verloren, von Pferden zertreten liegen.

Plötzlich sprangen alle drei auf. Ein rascher Schritt kam die Straße herauf, und sie hörten, wie der Alte sein Gewehr schußfertig machte.

»Wer kommt da?« schrie er rauh. »Bist du's, Silvine?«

Keine Antwort. Er drohte zu schießen und wiederholte seine Frage. Da endlich sagte eine keuchende, unterdrückte Stimme:

»Ja, ja, Vater Fouchard, ich bin's.«

Dann fragte sie sofort:

»Und Karlchen?«

»Liegt und schläft.«

»Ach, schön! danke!«

Nun beeilte sie sich nicht weiter und stieß einen tiefen Seufzer aus, in dem all ihre Angst und Ermattung zum Ausdruck kam.

»Komm durchs Fenster herein, da ist jemand drin.«

Und als sie in den Raum hineingesprungen war, blieb sie wie gebannt vor den drei Männern stehen. Sie stand in dem flackernden Kerzenlicht da, sehr braun, mit ihrem dichten, schwarzen Haar und den schönen, großen Augen, die sie allein schön genug gemacht hätten bei ihrem länglich-ovalen Gesicht, das bei aller Unterwürfigkeit eine ruhige Kraft anzeigte. In diesem Augenblick aber jagte der unvermittelte Anblick Honorés ihr alles Blut aus dem Herzen in die Wangen; aber trotzdem wunderte sie sich nicht, ihn hier zu finden, denn während sie von Raucourt zurückrannte, hatte sie nur an ihn gedacht.

Es würgte ihn, und er fühlte sich schwach werden, aber äußerlich tat er möglichst ruhig.

»Guten Abend, Silvine.«

»Guten Abend, Honoré.«

Um nicht in Tränen auszubrechen, wandte sie den Kopf und lächelte Maurice zu, den sie erst jetzt wiedererkannte. Jean war ihr lästig. Sie rang nach Atem und nahm das Tuch ab, das sie um den Hals trug.

Honoré ergriff wieder das Wort, aber er duzte sie nicht wie früher:

»Wir waren in Sorgen um Euch, Silvine, wegen all der Preußen, da die herankommen.«

Sie wurde plötzlich sehr blaß und ihr Gesicht verriet Fassungslosigkeit; und indem sie unwillkürlich nach der Kammer sah, in der Karlchen schlief, bewegte sie die Hand, wie um eine häßliche Erscheinung wegzujagen, und flüsterte:

»Die Preußen, ach ja! die habe ich gesehen.«

Aber ihre Kraft war zu Ende, sie fiel auf einen Stuhl und erzählte, wie sie, als das siebente Korps in Raucourt einrückte, zu ihrem Paten Doktor Dalichamp geflohen wäre und gehofft hätte, Vater Fouchard würde daraufkommen, sie dort abzuholen, ehe er zurückführe. Die große Straße war so verrammelt, daß auch kein Hund sich hineingewagt hätte. Und bis gegen vier Uhr hatte sie ganz ruhig und geduldig gesessen und mit den Damen Leinen zerzupft; denn der Doktor war in dem Gedanken, daß man vielleicht von Metz und Verdun Verwundete herschicken würde, falls es dort zum Schlagen käme, seit vierzehn Tagen dabei, im großen Saale des Bürgermeisteramts ein Lazarett einzurichten. Leute kamen und sagten, man könne dies Lazarett nur gleich in Gebrauch nehmen; und tatsächlich hörten sie seit Mittag aus der Richtung von Beaumont her Kanonen. Aber das war ja weit weg, und sie hatten keine Angst, als mit einemmal, gerade als die letzten französischen Soldaten Raucourt verließen, eine Granate mit ungeheurem Getöse kam und das Dach eines Nachbarhauses abdeckte. Zwei andere folgten; es war eine deutsche Batterie, die die Nachhut des siebenten Korps beschoß. Schon trafen Verwundete aus Beaumont in der Bürgermeisterei ein, und man befürchtete, eine Granate möchte ihnen auf dem Stroh den Garaus machen, wo sie darauf warteten, daß der Doktor sie operierte. Närrisch vor Angst, richteten die Verwundeten sich wieder auf und wollten trotz ihrer zerschmetterten Gliedmaßen, die ihnen Schmerzensschreie entrissen, in den Keller hinunter.

»Und dann,« fuhr Silvine fort, »ich weiß nicht, wie es kam, mit einemmal war alles still ... Ich war an ein Fenster gegangen, das nach der Straße und den Feldern hinausgeht. Ich sah niemand mehr, keine rote Hose, als ich starke, schwere Schritte hörte; eine Stimme schrie irgendwas, und alle Gewehrkolben stießen auf einmal auf die Erde ... Unten auf der Straße standen kleine, schwarze Männer, dreckig und mit groben, häßlichen Gesichtern; sie hatten Helme wie unsere Feuerwehrleute. Sie erzählten mir, das wären Bayern ... Als ich dann wieder hoch sah, da sah ich, ach! da sah ich Tausende und aber Tausende von ihnen auf allen Straßen herankommen, über die Felder, durch die Wälder, in dichten Massen ohne Ende. Mit einemmal war das ganze Land schwarz von ihnen. Das war wie eine schwarze Einwanderung, schwarze Heuschrecken, mehr und mehr, so daß man im Handumdrehen nichts mehr von der Erde sah.«

Sie wiederholte seufzend ihre frühere Bewegung, als ob sie mit der Hand etwas Häßliches aus ihrem Gedächtnis scheuchen wollte.

»Und dann, man glaubt gar nicht, was dann losging ... Die Leute schienen seit drei Tagen marschiert zu sein und hatten sich eben bei Beaumont wie Verrückte geschlagen. Sie starben auch vor Hunger, und die Augen traten ihnen aus dem Kopfe, als wären sie halb wahnsinnig ... Die Offiziere versuchten gar nicht, sie zurückzuhalten, alle stürzten sie sich in die Häuser und Läden, sie schlugen Fenster und Türen ein und zerbrachen die Sachen, während sie nach Essen und Trinken suchten, und schlangen alles hinunter, was ihnen in die Hände fiel ... Bei dem Krämer Herrn Simonot habe ich gesehen, wie einer mit seinem Helm aus einem Faß Sirup schöpfte. Andere bissen in rohe Stücke Speck. Wieder andere kauten Mehl. Es hieß, es wäre schon nichts mehr dagewesen, nachdem die Soldaten achtundvierzig Stunden lang durchgezogen seien; und trotzdem fanden sie noch was, sicher verborgene Vorräte; darüber wurden sie so wütend, daß sie alles kaputtschlugen, weil sie glaubten, man wollte ihnen nichts geben. In weniger als einer Stunde waren in den Läden, den Bäckereien, den Schlächtereien, selbst in den Bürgerhäusern alle Scheiben zerschlagen, alle Schränke geplündert und die Keller aufgebrochen und ausgeleert ... Beim Doktor, man kann es sich gar nicht vorstellen, da habe ich einen Dicken dabei getroffen, wie er alle Seife auffraß. Aber vor allem haben sie im Keller gewütet. Wir hörten sie oben wie die wilden Tiere heulen, sie zerbrachen die Flaschen, öffneten die Hähne der Fässer, so daß der Wein auslief, daß es sich anhörte wie ein Brunnen. Sie kamen mit ganz roten Händen wieder herauf, so hatten sie in dem ausgeflossenen Wein herumgepatscht... Und sehen Sie, was dabei herauskommt, wenn sie so wild werden, einen versuchte Doktor Dalichamp vergeblich abzuhalten, einen Liter Opiumlösung zu trinken, die er gefunden hatte. Jetzt ist der Unglücksmensch sicher schon tot, so fürchterlich hatte er zu leiden, als ich wegging.«

Sie wurde von einem gewaltigen Schauder ergriffen und drückte beide Hände vor die Augen, um nichts mehr zu sehen.

»Nein, nein! ich hab' schon zuviel davon gesehen, es erstickt mich!«

Vater Fouchard, der immer noch auf der Straße stand, trat ans Fenster heran, um zuzuhören; die Geschichte dieser Plünderung machte ihn besorgt: er hatte sagen hören, die Preußen bezahlten alles; fingen die jetzt auch an, Diebe zu werden? Auch Jean und Maurice wurden hitzig bei diesen Einzelheiten über den Feind, den dies Mädchen da eben noch gesehen hatte und den sie in dem einen Monat, den man sich schon herumschlug, wohl auch hatten treffen können; Honoré aber saß gedankenvoll, mit einem Leidenszug um den Mund da und hatte nur für sie Teilnahme, dachte nur an die unglückliche alte Geschichte, die sie getrennt hatte.

In diesem Augenblick aber öffnete sich die Tür der anstoßenden Kammer, und Karlchen wurde sichtbar. Er mußte die Stimme seiner Mutter gehört haben und kam im Hemd, um ihr einen Kuß zu geben. Er sah hell und rosig aus, war sehr dick und hatte einen hellblonden wirren Schopf und große blaue Augen. Silvine erbebte, als sie ihn so plötzlich wiedersah, wie überrascht über die Ähnlichkeit, die er an sich hatte. Kannte sie denn ihr geliebtes Kind nicht wieder, daß sie es so bestürzt ansah wie die Erscheinung eines Alpdrucks? Dann brach sie in Tränen aus.

»Mein armer Kleiner!«

Betäubt zog sie ihn in ihre Arme, an ihren Hals, während Honoré leichenblaß die außerordentliche Ähnlichkeit Karlchens mit Goliath feststellte: da war derselbe viereckige Blondkopf, die ganze germanische Rasse in schöner, lächelnder, frischer Kindergesundheit. Der Sohn des Preußen, der Preuße, wie die Witzbolde von Remilly ihn nannten! Und da diese französische Mutter preßte ihn an ihr noch ganz überwältigtes und vom Schauspiel des feindlichen Einbruchs blutendes Herz!

»Mein armer Kleiner, sei vernünftig, leg dich wieder hin! Geh wieder in die Heia, mein armer Kleiner!«

Sie trug ihn weg. Als sie dann aus dem Zimmer nebenan wieder zurückkam, weinte sie nicht länger; sie hatte ihr ruhiges, kluges, mutiges Aussehen wiedergewonnen.

Nun fing Honoré mit bebender Stimme wieder an:

»Und die Preußen?...«

»Ach ja! die Preußen ... Sie zerschlugen und plünderten alles, sie aßen und tranken alles. Sie stahlen auch Wäsche, Tischtücher und Bettlaken, ja sogar Vorhänge, die sie in lange Streifen zerrissen, um sich die Füße zu verbinden. Ich habe welche gesehen, deren ganzer Fuß nichts als eine einzige blutende Wunde war, so weit waren sie marschiert. Vor dem Hause des Doktors stand ein ganzer Haufen am Straßenrande, die sich die Schuhe auszogen und die Hacken mit spitzenbesetzten Frauenhemden umwickelt hatten, die sie zweifellos der schönen Frau Lefèvre, der Frau des Fabrikanten, gestohlen hatten ... Bis in die Nacht hinein dauerte die Plünderung. Die Häuser hatten keine Türen mehr, alle Öffnungen im Erdgeschoß standen nach der Straße hin offen, und man konnte die Überreste der Sachen im Innern sehen, eine richtige Metzelei, hie die ruhigen Leute in Wut brachte... Ich war auch wie verrückt, ich konnte nicht mehr dableiben. Sie gaben sich Mühe, mich zurückzuhalten, und sagten mir, die Straßen wären versperrt und sie würden mich ganz gewiß totschlagen; ich bin weggerannt und habe mich gleich, wie ich aus Raucourt herauskam, rechts querfeldein geworfen. Wagen mit Haufen von Franzosen und Preußen kamen von Beaumont. Zwei kamen in der Dunkelheit ganz nahe bei mir vorbei. Ach! dieses Geschrei und dies Seufzen, ich lief, ich bin quer durch Felder und Wälder gerannt, ich weiß gar nicht wo überall, ich habe einen großen Umweg nach Villers herüber gemacht... Dreimal habe ich mich versteckt, weil ich glaubte, ich hörte Soldaten. Aber ich habe bloß eine andere Frau getroffen, die auch lief; sie hatte sich aus Beaumont gerettet; die hat mir Sachen erzählt, daß mir die Haare zu Berge standen... Und nun bin ich hier, und bin so unglücklich, ach! so unglücklich!«

Tränen erstickten sie von neuem. Wie besessen kam sie immer wieder auf die Geschichten zurück, die ihr die Frau aus Beaumont erzählt hatte. Die Frau, die in der Hauptstraße wohnte, hatte seit Tagesanbruch deutsche Artillerie durchkommen sehen. An beiden Straßenrändern hielt eine Reihe Soldaten Pechfackeln, die die Straße wie eine Feuersbrunst so rot überstrahlten. Und in der Mitte tobte der Strom von Pferden, Geschützen und Protzen wie ein Zug aus der Hölle in wütender Hetzjagd dahin. Das war die wütende Hast des Sieges, die teuflische Verfolgung der französischen Truppen, die da unten in irgendeinem Hohlweg vernichtet, zerschmettert werden sollten. Auf nichts wurde Rücksicht genommen, alles wurde zerbrochen, unter allen Umständen mußte es weitergehen. Den Pferden, die fielen, schnitten sie sofort die Stränge ab und warfen und stießen ihre sich überschlagenden, blutenden Körper zur Seite. Menschen, die über die Straße wollten, wurden auch umgestoßen und von den Rädern in Stücke gehackt. Die Fahrer, die vor Hunger starben, hielten in all diesem Sturmeswüten doch nicht an; im Fluge fingen sie Brotstücke auf, die andere ihnen zuwarfen; und die Fackelträger reichten ihnen auf ihren Bajonettspitzen Stücke Fleisch zu. Dann stachen sie mit demselben Eisen auf die Pferde ein, die vor Angst vorwärts stürzten und schneller dahinjagten. Und es wurde späte Nacht, und immer noch kam Artillerie unter wildem Hurrageschrei durch mit einer zum Sturmesrasen gesteigerten Schnelligkeit.

Maurice hatte trotz aller Aufmerksamkeit, die er dieser Erzählung schenkte, nach dem Hinunterschlingen seines Imbisses, von Müdigkeit übermannt, den Kopf zwischen seinen Armen auf den Tisch fallen lassen. Jean kämpfte noch einen Augenblick, ehe er seinerseits überwältigt am andern Ende einschlief. Vater Fouchard war wieder auf die Straße hinausgestiegen, und Honoré befand sich allein mit Silvine, die jetzt unbeweglich dem immer noch weit offenen Fenster gegenübersaß.

Nun erhob sich der Wachtmeister und trat ans Fenster. Die Nacht war so weit und schwarz und voll von dem schweren Atem der Truppen. Aber nun wurden dumpfere Geräusche, Stöße und Krachen hörbar. Dort unten begann jetzt Artillerie über die halb untergetauchte Brücke hinüberzugehen. Manche Pferde bäumten sich aus Schreck vor dem fließenden Wasser. Munitionswagen glitten halb herunter, so daß man sie vollends in den Fluß stürzen mußte. Und als der junge Mann diesen Rückzug auf das andere Ufer betrachtete, der in so peinvoller Langsamkeit schon seit dem Abend andauerte und am nächsten Tage sicher noch nicht vollendet sein würde, da mußte er an die andere Artillerie denken, deren wilder Strom sich, alles kopfüber stürzend, Tiere und Menschen zermalmend, durch Beaumont ergoß, um nur rascher vorwärts zu kommen.

Honoré trat auf Silvine zu, und seine Stimme tönte bei der von wilden Schauern erfüllten Finsternis so sanft:

»Seid Ihr unglücklich?«

»Ach! so unglücklich!«

Sie fühlte, daß er über die Geschichte, die abscheuliche Geschichte sprechen wolle, und senkte den Kopf.

»Sagt, wie kam es? ... Ich möchte wissen ...«

Aber sie konnte nicht antworten.

»Hat er Euch gezwungen? ... Habt Ihr Euch ihm gegeben?«

Da stammelte sie mit erstickter Stimme:

»Mein Gott! ich weiß nicht, ich schwöre Euch, ich weiß es selber nicht ... aber seht, es wäre so schlecht, wenn ich lügen wollte! und ich kann mich auch nicht entschuldigen, nein! ich kann nicht einmal sagen, daß er mich geschlagen hat ... Ihr wart fort, ich war wie verrückt, und da kam es, ich weiß nicht, ich weiß nicht wie!«

Schluchzen erstickte sie, und er wartete eine Minute, blaß, mit gleichfalls zusammengeschnürter Kehle. Der Gedanke, daß sie nicht lügen mochte, beruhigte ihn indessen. Er fuhr fort, sie zu fragen, und zerbrach sich den Kopf über all das, was er noch nicht verstehen konnte.

»Mein Vater hat Euch also hier behalten?«

Sie erhob nicht einmal die Augen, aber sie wurde ruhiger und gewann ihr mutig ergebungsvolles Aussehen wieder.

»Ich arbeite ja für ihn, ich habe ihn nie viel gekostet mit dem Essen, und da ich doch nun noch einen Mund bei mir hatte, hat er sich das zunutze gemacht und meinen Lohn heruntergesetzt... Jetzt weiß er ganz sicher, daß ich alles tun muß, was er angibt.«

»Aber warum seid Ihr denn geblieben?«

Hier zeigte sie sich so überrascht, daß sie ihn anblickte.

»Ich? Wo sollte ich denn hin? Hier essen wir doch wenigstens, mein Kleiner und ich, hier werden wir doch in Ruhe gelassen.«

Wieder trat Schweigen ein; Auge in Auge standen sich nun die beiden gegenüber; aus der Ferne, aus dem dunklen Tal tönte das Stöhnen der Massen jetzt lauter, während das Rollen der Geschütze auf der Schiffsbrücke sich ins Endlose verlängerte. Da ertönte ein lauter Schrei, der hinsterbende Schrei eines Menschen oder eines Tieres, in unendlichem Jammer durch die Finsternis.

»Hört, Silvine,« fing nun Honoré langsam wieder an, »Ihr habt mir da einen Brief geschickt, der mir große Freude gemacht hat... Ich wäre nie wiedergekommen. Dieser Brief aber – ich habe ihn noch heute abend gelesen –, der sagt mir etwas, was sich gar nicht besser aussprechen läßt...«

Erst war sie blaß geworden, als er davon zu sprechen anfing. Vielleicht war er wütend gewesen, daß so ein freches Weib wie sie ihm zu schreiben wagte. Als er sich aber weiter erklärte, wurde sie ganz rot.

»Daß Ihr nicht lügen mögt, weiß ich wohl, und deshalb glaube ich auch, was hier auf diesem Papier steht... Ja, jetzt glaube ich es ganz gewiß... Es war recht von Euch, daß Ihr dachtet, wenn ich im Kriege fiele, ohne Euch wiedergesehen zu haben, daß das schrecklich für mich gewesen wäre, so fortzugehen und mir sagen zu müssen, daß Ihr mich nicht mehr liebhättet ... Wenn Ihr mich nun aber doch noch liebhabt, wenn Ihr nie jemand anders geliebt habt ...«

Die Sprache versagte ihm; er fand keine Worte, so schüttelte ihn die Rührung.

»Silvine, höre! Wenn diese Schweinehunde von Preußen mich nicht totschlagen, dann möchte ich dich doch noch haben, ja! dann wollen wir heiraten, sobald ich aus dem Dienst bin.«

Kerzengerade erhob sie sich, sie stieß einen Schrei aus und fiel dem jungen Mann in die Arme. Sprechen konnte sie nicht; alles Blut ihrer Adern war ihr ins Gesicht getreten. Er setzte sich auf den Stuhl und nahm sie auf die Knie.

»Ich habe gedacht, ich müßte dir das doch sagen, als ich hierher kam ... Wenn mein Vater uns seine Zustimmung verweigert, gehen wir, die Erde ist groß ... Und deinen Kleinen, mein Gott! den können wir doch nicht erwürgen; es werden auch schon mehr kommen, und ich werde ihn schließlich in dem Haufen gar nicht mehr erkennen.«

Das war die Vergebung. Sie kämpfte noch gegen dies gewaltige Glück; endlich aber murmelte sie:

»Nein, das ist unmöglich, das ist zuviel. Du wirst es vielleicht eines Tages bereuen ... Aber gut bist du, Honoré, und ich liebe dich!«

Ein Kuß, den er ihr auf die Lippen drückte, brachte sie zum Schweigen. Sie hatte auch schon nicht mehr die Kraft, das Glück, das über sie kam, von sich zu stoßen, das ganze Leben voll von dem Glück, das sie gestorben wähnte. In einem unwillkürlichen, unwiderstehlichen Antriebe warf sie die Arme um ihn und drückte ihn nun ihrerseits mit der ganzen Kraft ihrer Weiblichkeit unter Küssen an sich, als hatte sie ihn nun ganz für sich allein wiedergewonnen, und niemand sollte ihr ihn wieder rauben. Er war ihr, die sie ihn verloren hatte, ein ganz Neuer, und sie wollte eher sterben, als ihn sich wieder nehmen lassen.

In diesem Augenblick aber ertönte lautes Geräusch, die mächtige Unruhe eines Aufbruchs, und erfüllte die dichte Nacht. Befehle und Hörner ertönten, und schattenhaft erhob es sich von der nackten Erde, ein undeutlich sich bewegendes Meer, dessen Flut sich bereits gegen die Straße hinab ergoß. Die Feuer unten an den beiden Ufern waren nahe am Erlöschen; man sah nur noch wirre Massen dahinziehen, ohne mit Sicherheit angeben zu können, ob die Strömung dieses Flusses noch anhalte. Noch nie war die Finsternis von solcher Angst, von einer so furchtbaren Bestürzung erfüllt gewesen.

Vater Fouchard war wieder ans Fenster herangetreten und rief hinein, es ginge weiter. Jean und Maurice erwachten schaudernd und schlaftrunken und standen auf. Honoré hatte lebhaft beide Hände Silvines zwischen seine genommen.

»Der Schwur gilt ... warte auf mich.«

Sie fand kein Wort, aber sie sah ihn mit ganzer Seele an, mit einem letzten, langen Blick, wie er durchs Fenster sprang, um im Laufschritt seine Batterie wieder einzuholen.

»Leb' wohl, Vater!«

»Leb' wohl, mein Junge!«

Und das war alles; der Bauer und der Soldat verließen sich abermals, wie sie sich wiedergefunden hatten, ohne Umarmung, als Vater und Sohn, die sich nicht zu sehen brauchten, um leben zu können.

Als auch sie den Hof verlassen hatten, rannten Jean und Maurice die steilen Abhänge herunter. Sie fanden unten die 106er nicht mehr; alle Regimenter waren schon in Bewegung, und sie mußten immer weiter laufen; überall wurden sie wieder umgeschickt, nach rechts und nach links. Als sie endlich in der fürchterlichen Verwirrung schon den Kopf verloren hatten, fielen sie mitten in ihre Kompanie, die Leutnant Rochas führte; Hauptmann Beaudouin und das Regiment selbst mußten zweifellos wohl woanders sein. Und Maurice war ganz baff, als er feststellte, daß dieser Knäuel von Menschen, Tieren und Geschützen sich aus Remilly heraus und in der Richtung nach Sedan auf der linken Uferstraße weiterwälzte. Was bedeutete das? Was ging vor? Es ging nicht mehr über die Maas, sie zogen sich weiter nach Norden zurück!

Ein Jägeroffizier, der sich, niemand wußte wie, zu ihnen gefunden hatte, sagte ganz laut:

»Herrgott nochmal! Am 28. hätten wir so ausreißen sollen, als wir in le Chêne waren!«

Andere Stimmen versuchten Sinn in die Bewegung hineinzubringen; Neuigkeiten trafen ein. Gegen zwei Uhr morgens hatte ein Adjutant des Marschalls Mac Mahon dem General Douay die Meldung überbracht, die ganze Heeresgruppe habe Befehl, sich, ohne eine Minute zu verlieren, auf Sedan zurückzuziehen. Das bei Beoumant vernichtete fünfte Korps riß die drei andern in sein Unglück mit hinein. Der General, der in diesem Augenblick bei der Schiffsbrücke aufpaßte, war verzweifelt, als er sah, daß erst seine dritte Division über den Fluß gegangen war. Der Tag brach an, und er konnte von einem Augenblick zum andern angegriffen werden. So ließ er die ihm unterstellten Führer benachrichtigen, es solle jeder auf eigene Rechnung Sedan auf dem kürzesten Wege gewinnen. Er selbst zog, nachdem er die Schiffsbrücke aufgegeben und zu zerstören befohlen hatte, mit seiner zweiten Division und der Reserveartillerie am linken Ufer entlang; die dritte folgte dem rechten Ufer, und die erste, bei Beaumont zerbröckelte, floh aufgelöst auf unbekannten Wegen dahin. So bestanden vom siebenten Korps, das noch gar nicht gefochten hatte, nur noch zerstreute Trümmer, die sich auf den Wegen verloren und in der Finsternis dahinjagten.

Es war noch nicht drei Uhr und die Nacht war noch dunkel. Obwohl Maurice das Land kannte, wußte er doch nicht mehr, wo es hinging, da es ihm in dem ausgetretenen Strom, der in närrischem Gewühl die ganze Breite der Straße einnahm, unmöglich war, sich klar zu werden.

Viele dem Gemetzel bei Beaumont entronnene Mannschaften aller Waffengattungen, in Lumpen, mit Schweiß und Blut bedeckt, vermischten sich mit den Regimentern und verbreiteten Furcht. Aus dem ganzen Tale, auch von jenseits des Flusses, stieg ein gleichmäßiges Geräusch empor, dasselbe Herdengetrappel, die gleiche Flucht, das erste Korps, das gerade Carignan und Douzy verlassen hatte, das zwölfte, das mit den Resten des fünften aus Mouzon kam, alle erschüttert und von derselben zwingenden, unüberwindlichen Gewalt mitgerissen, die seit dem 28. die Armee nach Norden trieb, sie in die Klemme hineinzwang, in der sie umkommen sollte.

Der Tag graute indessen, als die Kompanie Beaudouin durch Pont-Maugis kam; und nun fand sich Maurice wieder zurecht, nun die Höhen des Liry sich links und die Maas sich rechts an der Straße entlangzogen.

Aber mit unendlicher Traurigkeit erhellte diese graue Dämmerung Bazeilles und Balan, die am Rande der Wiesen auftauchten, während Sedan am Horizont blaß wie ein trauervoller Alp auf dem riesigen Hintergrunde der Wälder erschien. Und als sie hinter Wadelincourt endlich das Tor von Torcy erreichten, mußten sie alle erdenklichen Künste der Überredung anwenden, sie mußten flehen und wütend werden, ja den Platz fast belagern, um den Gouverneur dazu zu bringen, daß er ihnen die Brücke herunterließ. Es war fünf Uhr. Das siebente Korps zog trunken vor Ermattung, Hunger und Kälte in Sedan ein.


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