Emile Zola
Der Zusammenbruch
Emile Zola

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Zweiter Teil

1

Eine heftige Erschütterung ließ Weiß in der kleinen, dunklen Kammer in Bazeilles aus dem Bette springen. Er horchte; das waren Geschütze. Mit tastender Hand mußte er Licht machen, um nach der Uhr sehen zu können: vier Uhr, der Tag brach gerade an. Lebhaft griff er nach seinem Kneifer und warf einen Blick über die große, quer durch den Ort nach Douzy führende Straße; aber die war voll einer Art dicken Dunstes, und es war nichts zu erkennen. Er ging daher in das andere Zimmer, dessen Fenster über die Wiesen nach der Maas hinausging; und nun sah er, daß es vom Flusse aufsteigende Morgennebel waren, die den Horizont bedeckten. Dort hinten, von der andern Seite des Flusses, hinter diesem Vorhang her, donnerte das Geschütz noch stärker. Mit einem Male antwortete eine französische Batterie aus so großer Nähe und mit derartigem Getöse, daß die Mauern des kleinen Hauses erzitterten.

Das Haus der Weiß lag ungefähr in der Mitte von Bazeilles, etwas rechts, ehe man an den Kirchenplatz kommt. Die Hauptseite lag etwas zurück und ging mit ihrem einzigen, von einem Boden überragten Stockwerk nach der Straße hinaus; hinter ihm aber lag ein ziemlich großer Garten, der nach dem Flusse hin abfiel und von dem aus man einen weiten Rundblick über die Hügel von Remilly bis Frenois besaß. Weiß hatte sich in der Hitze als neuer Hauseigentümer erst gegen zwei Uhr morgens hingelegt, nachdem er alle Vorräte im Keller versteckt und alles mit vieler Überlegung so gut wie möglich gegen Kugeln geschützt hatte, indem er die Fenster mit Matratzen verstellte. Der Zorn stieg in ihm empor, wenn er daran dachte, die Preußen könnten dies Haus plündern, nach dem er sich so lange gesehnt hatte, das so schwer erworben war und an dem er erst so wenig Freude gehabt hatte.

Aber von der Straße her rief eine Stimme nach ihm: »He, Weiß, hören Sie wohl?«

Er entdeckte unten Delaherche, der auch in seiner Färberei hatte schlafen wollen, einem großen, unmittelbar an sein Haus anstoßenden Backsteinbau. Alle Arbeiter waren übrigens geflohen und hatten durch die Wälder belgisches Gebiet gewonnen; als Wächterin war nur die Schließerin dageblieben, die Witwe eines Maurers, Françoise Quittard mit Namen. Auch sie wäre wohl zitternd und bestürzt mit den andern geflohen, wäre nicht ihr Junge, der kleine August, ein zehnjähriges Kind, so schwer an Typhus erkrankt, daß sie ihn nicht wegbringen konnte.

»Hören Sie,« wiederholte Delaherche, »es geht offenbar los ... Das Vernünftigste ist wohl, wir gehen sofort nach Sedan zurück.«

Weiß hatte seiner Frau fest versprochen, beim ersten Anzeichen ernster Gefahr Bazeilles zu verlassen, und er war auch bestimmt entschlossen, sein Wort zu halten. Aber das war ja erst ein Artilleriekampf auf große Entfernung, bei diesem Morgennebel etwas auf gut Glück.

»Ach zum Teufel,« antwortete er, »lassen Sie uns doch warten, das eilt ja nicht.«

Delaherches Neugier war übrigens so lebhaft erregt, daß sie ihn ganz tapfer machte. Er hatte kein Auge geschlossen, solchen Anteil nahm er an den Vorbereitungen zur Verteidigung. General Lebrun, der das zwölfte Korps befehligte, hatte die Nachricht bekommen, er würde in aller Frühe angegriffen werden, und hatte die Nacht dazu benutzt, sich in Bazeilles zu verschanzen, da er vom Kaiser den Befehl erhalten hatte, es um jeden Preis zu halten. Barrikaden versperrten Wege und Straßen; Besatzungen von ein paar Mann hielten alle Häuser; jedes Gäßchen und jeder Garten war in eine Festung umgewandelt. Und seit drei Uhr standen die ohne jedes Geräusch geweckten Truppen in ihren Gefechtsstellungen, die Chassepots waren frisch eingefettet und die Patronentaschen mit den vorschriftsmäßigen achtzig Patronen gefüllt. Der erste Kanonenschuß des Feindes hatte denn auch niemand überrascht, und die weiter rückwärts zwischen Balan und Bazeilles aufgestellten französischen Batterien hatten sofort geantwortet, um zu zeigen, daß sie da waren, denn sie schossen bei dem Nebel lediglich nach dem Gefühl.

»Wissen Sie,« fing Delaherche wieder an, »die Färberei wird kräftig verteidigt werden ... Ich habe einen ganzen Zug drin. Sehen Sie sich das mal an.«

Tatsächlich hatte man einige vierzig Marineinfanteristen dort untergebracht, an deren Spitze ein Leutnant stand, ein großer, blonder, noch recht junger Bursche von tatkräftigem, hartnäckigem Aussehen. Seine Leute hatten schon von dem Gebäude Besitz ergriffen; einige waren dabei, Schießscharten in die Fensterläden im ersten Stock nach der Straße hinaus anzubringen; andere schlugen unten Scharten in die Hofmauer, die die Wiesen nach hinten hinaus beherrschte.

Mitten im Hofe fanden Delaherche und Weiß hier den Leutnant, der zusah und den Morgennebel in der Ferne beobachtete.

»Der verfluchte Nebel!« murmelte er. »Wir können uns doch nicht nach dem Gefühl schlagen.«

Nach einer Pause sagte er dann ohne jeden augenscheinlichen Übergang:

»Was für einen Tag haben wir eigentlich heute?

»Donnerstag«, antwortete Weiß.

»Richtig, Donnerstag ... Hol' mich der Teufel, so lebt man ohne jede Ahnung, als wäre die ganze Welt gar nicht mehr da!«

In diesem Augenblick tönte in das ununterbrochen fortdauernde Grollen der Geschütze lebhaftes Gewehrfeuer hinein, unmittelbar am Rande der Wiesen in ungefähr fünf- oder sechshundert Meter Entfernung. Und da war es wie auf dem Theater: die Sonne ging auf, die Maasnebel flogen wie in feinen Tüllfetzen davon, der blaue Himmel erschien und breitete sich in fleckenloser Klarheit aus. Es war der ausgesucht schöne Morgen eines wunderbaren Sommertages.

»Ach!« rief Delaherche, »sie kommen über die Eisenbahnbrücke. Sehen Sie, wie sie am Bahndamm entlang vorwärtszukommen suchen ... Das ist aber doch zu dumm, daß die Brücke nicht gesprengt worden ist!«

Der Leutnant gab seinen Zorn durch eine stumme Bewegung zu erkennen. Die Minenschächte waren schon geladen, erzählte er; nachdem man aber gestern vier Stunden um den Wiederbesitz der Brücke gefochten hatte, war vergessen worden, sie anzuzünden.

»Das ist so unser Glück«, sagte er in seiner kurzen Art.

Weiß sah hinüber und versuchte sich klar zu werden. Die Franzosen hielten in Bazeilles eine sehr feste Stellung besetzt. Das auf beiden Seiten der Straße nach Douzy erbaute Dorf beherrschte die Ebene; um zu ihm zu gelangen, gab es, wenn man sich links am Schlosse vorbei hielt, nur diese eine Straße, während eine andere, die rechts nach der Eisenbahnbrücke führte, sich am Kirchenplatze gabelte. Die Deutschen mußten also über Wiesen und Acker, deren weite Flächen, ohne irgendwelchen Schutz zu bieten, sich an der Maas und der Eisenbahnlinie entlangzogen. Bei ihrer wohlbekannten, gewohnheitsmäßigen Klugheit war es daher wenig wahrscheinlich, daß der vorauszusehende Angriff, sich auf dieser Seite vollziehen werde. In immer tieferen Massen entwickelten sie sich trotz des Gemetzels, das die am Eingang von Bazeilles aufgestellten Mitrailleusen in ihren Reihen anrichteten, auf die Eisenbahnbrücke zu; die hinüber waren, schwärmten sofort in Schützenlinien zwischen den wenigen Weiden aus, zogen sich zu Abteilungen wieder zusammen und gingen vor. Dorther kam das zunehmende Gewehrfeuer.

»Aha!« bemerkte Weiß, »das sind Bayern. Ich erkenne ganz deutlich ihre Raupenhelme.«

Er glaubte aber auch zu bemerken, daß weitere hinter der Eisenbahnlinie halb verborgene Gruppen sich gegen ihre Rechte hinzogen und einige entfernt stehende Bäume zu gewinnen suchten, um sich von dort aus durch eine schräg gerichtete Bewegung wieder gegen Bazeilles zu wenden. Gelang es ihnen, sich derart in den Schutz des Parkes von Montivilliers zu bringen, dann konnte der Ort genommen werden. Das fuhr ihm rasch und ohne bestimmte Form anzunehmen durch den Sinn. Es verwischte sich aber, als nun der von vorn kommende Angriff kräftiger wurde.

Er hatte sich lebhaft nach den Höhen von Floing umgedreht, die man sich im Norden über der Stadt erheben sah. Von dorther hatte gerade eine Batterie ihr Feuer eröffnet, der Pulverqualm stieg in den klaren Sonnenschein, während jeder Knall ganz deutlich herübertönte. Es mochte fünf Uhr sein.

»Na ja!« murmelte er, »der Tanz wird allgemein.«

Der Leutnant der Marineinfanterie, der ebenfalls dort hinübersah, machte eine höchst bestimmte Handbewegung, während er sagte:

»Der Schlüsselpunkt ist Bazeilles. Hier muß sich das Schicksal der Schlacht entscheiden.«

»Glauben Sie?« rief Weiß.

»Ganz zweifellos. Der Marschall glaubt das auch ganz sicher. Er kam gestern abend noch und befahl uns, uns eher bis auf den letzten Mann totschlagen zu lassen, als die Stadt besetzen zu lassen.«

Weiß nickte mit dem Kopfe und ließ seinen Blick rundum schweifen; dann sagte er mit stockender Stimme wie zu sich selbst:

»Jawohl! nein, gar nicht jawohl! hier nicht ... Ich habe Angst vor was anderm, ja! ich mag es gar nicht mal recht sagen ...«

Und dann schwieg er. Er öffnete nur seine Arme weit wie die Backen eines Schraubstockes; und indem er sich gegen Norden wandte, brachte er seine Hände wieder zusammen, als ob die Backen des Schraubstockes sich plötzlich schlössen.

Seit gestern war diese Befürchtung in ihm emporgestiegen, da er die Umgebung kannte und sich über die Bewegungen der beiden Heere klar geworden war. Und auch jetzt wieder, wo die weite Ebene sich in strahlendem Sonnenschein ausbreitete, richteten sich seine Blicke auf die Hügel am linken Flußufer, über die einen Tag und eine Nacht lang das schwarze Ameisengekribbel der deutschen Truppen hinübergeströmt war. Eine Batterie feuerte von oberhalb Remilly. Eine andere, deren erste Granaten jetzt herüberkamen, hatte bei Pont-Maugis am Flußufer Stellung genommen. Er legte seinen Kneifer zusammen, so daß ein Glas über das andere kam, um die bewaldeten Abhänge besser absuchen zu können; er fand aber nur die kleinen hellen Rauchwölkchen der Geschütze, mit denen sich jetzt von Minute zu Minute die Höhen umsäumten: wo mochte sich augenblicklich der Menschenstrom anstauen, der dort hinten heruntergeflossen war? Nur auf der Marfée oberhalb von Noyers und Frénois fand er schließlich an der Ecke eines Fichtenwaldes eine Gruppe von Uniformen und Pferden heraus, ohne Zweifel Offiziere eines Stabes. Weiterhin schnitt dann die Maasschleife den Rundblick ab, und auf dieser Seite gab es keine andere Rückzugslinie als über eine enge, dem Passe von Saint-Albert folgende Straße zwischen dem Flusse und dem Ardennenwalde. Gestern hatte er auch gewagt, einen General, den er zufällig in einem Hohlwege im Givonnegrunde getroffen hatte, auf diese einzige Rückzugslinie hin anzureden; er hatte nachher erfahren, daß es General Ducrot, der Führer des ersten Korps, gewesen sei. Falls das Heer sich nicht sofort über diese Straße zurückzöge, wenn es abwartete, bis die Preußen bei Donchery über die Maas gingen und ihm diesen Durchgang abschnitten, dann würde es sicherlich festgenagelt und gegen die Grenze in die Enge getrieben werden. Am Abend war es schon zu spät, es wurde mit Bestimmtheit behauptet, Ulanen hätten sich der Brücke bemächtigt; wieder ein Fall, in dem eine Brücke nicht gesprengt wurde, diesmal, weil man nicht an das nötige Pulver gedacht hatte. Voller Verzweiflung sagte Weiß sich, der Menschenstrom, das schwarze Ameisengewimmel müsse sich in der Ebene von Donchery auf dem Marsche gegen den Paß von Saint-Albert befinden und seine Vorhut auf Saint-Menges und Floing vorschieben, wohin er gestern abend Jean und Maurice gebracht hatte. In dem blendenden Sonnenschein kam ihm der Kirchturm von Floing sehr weit entfernt, wie eine seine, weiße Nadel vor.

Im Osten lag dann die andere Backe des Schraubstockes. Wenn er im Norden die Schlachtlinie des siebenten Korps von der Hochebene von Illy bis zu der von Floing verfolgte, die vom fünften, das man als Reserve unter den Wällen aufgestellt hatte, nur schwach unterstützt wurde, dann konnte er unmöglich ahnen, was am Givonnegehölz entlang vorging, wo das erste Korps vom Garennegrunde bis zu dem Dorfe Daigny eingesetzt war. Aber das Geschütz donnerte auch aus dieser Richtung, der Kampf mußte im Chevaliergehölz vor dem Dorfe entbrannt sein. Er fühlte sich dadurch beunruhigt, daß seit gestern Bauern durch Zeichen die Ankunft von Preußen in Francheval gemeldet hatten, so daß also die Bewegung, die sich im Westen bei Donchery vollzog, im Osten bei Francheval in gleicher Weise stattfand und die Backen des Schraubstockes sich also dort hinten im Norden auf dem Kalvarienberge von Illy schließen mußten, falls der doppelte Umgehungsmarsch nicht aufgehalten würde. Von Militärwissenschaft verstand er nichts, er besaß lediglich seinen gesunden Menschenverstand; aber er zitterte, wenn er auf dies Riesendreieck sah, dessen eine Seite die Maas bildete, während die andern beiden im Norden durch das siebente, im Osten durch das erste Korps dargestellt wurden, wogegen das zwölfte im Süden in Bazeilles den äußersten Winkel hielt, und alle drei sich den Rücken zudrehten und, wie oder warum wußte man nicht, auf einen Feind warteten, der von allen Seiten herankam. Mitten drin lag wie auf dem Grunde eines Verließes die Stadt Sedan mit ihrer Bewaffnung von nichtgebrauchsfähigen Geschützen und ohne Schießbedarf und Lebensmittel.

»Verstehen Sie wohl,« sagte Weiß und wiederholte seine Bewegung, indem er die Arme weit auseinanderbreitete und die Hände dann wieder zusammenbrachte, »so wird's gehen, wenn unsere Generäle sich nicht vorsehen ... Mit Ihnen hier in Bazeilles treiben sie nur ihren Scherz ...«

Aber er drückte sich schlecht und unklar aus, und der Leutnant, der das Gelände nicht kannte, vermochte ihn nicht zu verstehen. Er zuckte also ungeduldig die Achseln und sah voller Mißachtung auf diesen Bürger im Überzieher und Kneifer, der es besser wissen wollte als der Marschall. Als Weiß wieder davon redete, der Angriff auf Bazeilles bezwecke nichts weiter als eine Ablenkung und die Verheimlichung des wirklichen Planes, wurde er ärgerlich und rief schließlich:

»Lassen Sie uns doch in Ruh'! ... Wir werden Ihre Bayern schon in die Maas schmeißen, und Sie werden ja sehen, wie wir mit uns spaßen lassen!«

Seit einiger Zeit schienen die feindlichen Schützen näher heranzuschwärmen; mit mattem Geräusch trafen einzelne Kugeln auf das Ziegelmauerwerk der Färberei; und durch die kleine Hofmauer geschützt, begannen die Soldaten nun zu antworten. Jede Sekunde ertönte der Knall eines Chassepots trocken und scharf.

»Sie in die Maas schmeißen, ja, natürlich!« murmelte Weiß, »und ihnen über ihre Leichen weg den Weg nach Carignan wiedernehmen, das wäre sehr fein!«

Dann wendete er sich zu Delaherche, der sich hinter der Pumpe versteckt hatte, um die Kugeln zu vermeiden:

»Einerlei, der richtige Plan wäre gewesen, gestern abend nach Mezieres durchzubrennen; ich stände in ihrer Stelle lieber da hinten ... Aber schließlich müssen sie jetzt fechten, da nun der Rückzug ja doch unmöglich geworden ist.«

»Kommen Sie mit?« fragte Delaherche, der trotz seiner brennenden Neugierde allmählich blaß wurde. »Wenn wir noch länger warten, kommen wir nicht mehr nach Sedan hinein.«

»Ja, eine Minute noch, und ich gehe mit Ihnen.«

Trotz der Gefahr reckte er sich in die Höhe, denn er wollte sich unbedingt Klarheit verschaffen. Zur Rechten schützten die auf Befehl des Gouverneurs überschwemmten Wiesen die Stadt, ein weiter See, der sich von Torcy bis Balan ausdehnte: eine unbewegliche, in der Morgensonne zart blau erscheinende Wasserfläche. Aber am Eingange von Bazeilles hörte das Wasser auf, und die Bayern rückten tatsächlich durch die Büsche vor, indem sie sich jeden kleinsten Graben und den dünnsten Baum zunutze machten. Sie mochten fünfhundert Meter entfernt sein; was ihn am meisten in Erstaunen versetzte, war die Langsamkeit ihrer Bewegungen, die Geduld, mit der sie Boden gewannen, indem sie sich so wenig Blößen wie möglich gaben. Eine mächtige Artillerie unterstützte sie übrigens, und die frische, reine Luft war vom Sausen der Granaten erfüllt. Er sah wieder auf und bemerkte, daß nicht nur die Batterie von Pont-Maugis auf Bazeilles feuerte: zwei andere auf der halben Höhe des Liry aufgestellte hatten ihr Feuer eröffnet und bestrichen den Ort, ja, sie fegten sogar noch über ihn hinweg auf die nackten Acker von la Moncelle, wo die Reserven des zwölften Korps lagen, und bis an die bewaldeten Abhänge von Daigny heran, das eine Division des ersten Korps besetzt hielt. Schließlich waren alle Gipfel auf dem linken Ufer in Flammen gehüllt. Die Geschütze schienen aus dem Boden hervorzuwachsen, es war wie ein sich immer mehr erweiternder Gürtel: eine Batterie bei Noyers feuerte auf Balan, eine bei Wadelincourt auf Sedan, eine ganz furchtbare Batterie bei Frénois unterhalb der Marfée, deren Granaten über die Stadt weggingen und unter den Truppen des siebenten Korps barsten, auf die Hochebene von Floing. Diese Hügel, die er so liebte, diese Reihe von Gipfeln, die er immer nur als zum Vergnügen geschaffen angesehen hatte, wie sie das Tal in der Ferne so mit ihrem fröhlichen Grün abschlossen, die sah Weiß jetzt nur noch mit Schrecken und Angst an, denn sie waren mit einem Schlage zu einer schrecklichen, riesenhaften Festung geworden, die sich anschickte, die nutzlosen Befestigungen von Sedan zu vernichten.

Ein leichtes Herabrieseln von Putz ließ ihn den Kopf heben. Eine Kugel hatte eine Ecke seines Hauses mitgenommen, dessen Schauseite er jenseits der gemeinschaftlichen Brandmauer sehen konnte. Das brachte ihn sehr auf, und er brummte:

»Wollen die Räuber mir das zerstören!«

Aber noch ein mattes Geräusch hinter ihm setzte ihn in Erstaunen. Und als er sich umdrehte, sah er einen Soldaten mitten ins Herz getroffen auf den Rücken fallen. Die Beine zuckten noch einmal leicht zusammen; das Gesicht aber behielt, wie bei einem vom Blitze Erschlagenen, seine jugendliche Ruhe. Das war der erste Tote, und er fühlte sich besonders durch das Geräusch des auf das Pflaster des Hofes aufschlagenden Chassepots erschüttert.

»Ach nein, ich gehe!« stotterte Delaherche. »Wenn Sie nicht kommen, gehe ich allein.«

Der Leutnant, den sie nervös machten, fuhr dazwischen.

»Sie täten sicher am besten, wenn Sie gingen, meine Herren ... Wir können jeden Augenblick angegriffen werden.«

Weiß entschloß sich nun, nachdem er noch einen Mick auf die Wiesen geworfen hatte, wo die Bayern Boden gewannen, Delaherche zu folgen. Sowie er aber in der Straße war, wollte er erst noch sein Haus doppelt abschließen; und er hatte seinen Teilhaber schon eingeholt, als ein neues Schauspiel sie beide festhielt.

Am Ende der Straße, ungefähr dreihundert Meter von ihnen, wurde der Kirchenplatz in diesem Augenblick von einer starken bayerischen Abteilung angegriffen, die aus dem Wege von Douzy hervorbrach. Das mit der Verteidigung des Platzes betraute Marineinfanterieregiment schien einen Augenblick sein Feuer zu verlangsamen, wie um sie vorwärtskommen zu lassen. Als sie dann ihm unmittelbar gegenüber in dichten Massen herankamen, führte es mit einem Male eine ungewöhnliche und unvorgesehene Bewegung aus: die Mannschaften drückten sich auf beiden Seiten der Straße an die Häuser, viele warfen sich auch auf den Boden; und durch den so plötzlich entstandenen Zwischenraum spien am andern Ende in Batterien aufgestellte Mitrailleusen ihren Kugelhagel. Die feindliche Abteilung war von ihm wie weggefegt. Die Mannschaften waren mit einem Satze wieder auf den Beinen und gingen mit dem Bajonett auf die verstreuten Bayern los, die sie über Kopf hinauswarfen. Zweimal wiederholte sich dieser Vorgang mit dem gleichen Erfolge. In einem kleinen Hause an der Straßenecke waren drei Frauen zurückgeblieben; mit vergnügten Gesichtern lachten sie wie bei einem Schauspiel und klatschten von einem der Fenster aus Beifall.

»Ach verflucht!« sagte Weiß mit einem Male. »Ich habe vergessen, die Kellertür zuzumachen und den Schlüssel mitzunehmen ... Warten Sie, das dauert nur eine Minute.«

Dieser erste Angriff schien abgeschlagen, und Delaherche, den die Neugier wieder packte, empfand weniger Eile. Er stand vor seiner Färberei und plauderte mit der Schließerin, die einen Augenblick auf die Schwelle des von ihr bewohnten Zimmers im Erdgeschoß getreten war.

»Meine arme Françoise, Sie sollten mit uns kommen. Eine Frau mitten unter diesen Greueln, das ist doch schrecklich!«

Zitternd hob sie die Arme.

»Ach, Herr! wenn mein kleiner August nicht so krank wäre, wäre ich ja ganz sicher ausgerissen ... Kommen Sie doch mal herein, Herr, Sie sollen ihn mal sehen.«

Er ging nicht hinein, sondern streckte nur den Kopf vor und nickte, als er den Jungen mit fieberglühendem Gesicht in einem schönen weißen Bett liegen sah, von wo aus er seine Mutter starr mit brennenden Augen ansah.

»Ja natürlich!« fing er wieder an, »aber warum bringen Sie ihn nicht weg? Ich werde Sie schon in Sedan unterbringen ... Wickeln Sie ihn in eine warme Decke und kommen Sie mit uns.«

»Ach nein, Herr! das ist nicht möglich. Der Doktor hat mir gesagt, ich würde ihn umbringen ... Wenn sein armer Vater doch noch lebte! Aber wir beiden sind ganz allein, wir müssen einer für den andern leben ... Und die Preußen da werden doch einer alleinstehenden Frau mit einem kranken Kinde nichts zuleide tun.«

In diesem Augenblicke kam Weiß zurück und war sehr befriedigt darüber, wie er alles bei sich verrammelt hatte.

»Wenn sie da hereinkommen wollen, müssen sie erst alles zerschlagen ... Nun vorwärts! und das wird gar nicht mal sehr angenehm sein, lassen Sie uns an den Häusern entlanggehen, wenn wir nichts abkriegen wollen.«

Der Feind mußte wohl tatsächlich einen neuen Angriff vorbereiten, denn das Gewehrfeuer verdoppelte sich und das Sausen der Granaten hörte gar nicht auf. Zwei waren schon in etwa hundert Metern von ihnen auf die Straße gefallen; eine andere grub sich in die weiche Erde eines Gartens neben ihnen ein, ohne zu platzen.

»Ach warten Sie mal, Françoise,« begann er wieder, »ich möchte nur Ihrem kleinen August einen Kuß geben ... Aber heute geht's ihm ja gar nicht so schlecht, noch ein paar Tage so, und er ist außer Gefahr ... Behalten Sie nur guten Mut, vor allem aber gehen Sie schnell wieder hinein und stecken Sie nicht die Nase heraus.«

Endlich gingen die beiden Männer.

»Auf Wiedersehen, Françoise.«

»Auf Wiedersehen, meine Herren.«

In derselben Sekunde gab es einen fürchterlichen Krach. Eine Granate hatte erst den Schornstein eines Nachbarhauses von Weiß abgeschlagen und war dann auf den Fußsteig gefallen, wo sie mit einem derartigen Knall barst, daß alle Fensterscheiben der Nachbarschaft zersprangen. Zunächst verhinderte dicker Staub, ein schwerer Rauch jede Sicht. Dann kam die aufgerissene Hauswand zum Vorschein; und dort lag Françoise tot über die Schwelle geworfen mit zerbrochenen Hüften und zerschmettertem Kopf, ein über und über roter, gräßlich anzusehender Haufen Menschenfleisch.

Wütend rannte Weiß ihr zu hin. Er stotterte und konnte nur noch fluchen.

»Herrgott nochmal! Herrgott nochmal!«

Ja, sie war vollständig tot. Er beugte sich nieder und befühlte ihre Hände; und als er sich wieder aufrichtete, traf er auf das Gesicht des kleinen August, der den Kopf erhoben hatte, um nach seiner Mutter zu sehen. Er sagte nichts, er weinte nicht, er riß nur seine fiebrigen Augen unmäßig weit auf vor diesem schrecklichen Gebilde, das er nicht kannte.

»Herrgott nochmal!« schrie Weiß endlich, »jetzt morden sie schon Frauen!«

Er stand wieder aufrecht und schüttelte seine Faust gegen die Bayern, deren Helme jetzt wieder neben der Kirche zu erscheinen begannen. Und als er sah, daß das Dach seines Hauses durch den Schornstein halb eingeschlagen war, wurde er vollends wie verrückt vor Verzweiflung.

»Dreckige Schufte! Weiber bringt ihr um und mein Haus zerstört ihr! ... Nein! das geht nicht, ich kann nicht so weglaufen, ich bleibe!«

Er stürzte vorwärts und kam mit einem Satz mit dem Chassepot und der Patronentasche des getöteten Soldaten wieder. Um bei großen Gelegenheiten besonders deutlich sehen zu können, hatte er immer eine Brille bei sich, die er aus einer Art gefallsüchtigen, rührenden Schamgefühls mit Rücksicht auf seine junge Frau für gewöhnlich nicht trug. Mit sicherer Hand riß er seinen Kneifer ab und ersetzte ihn durch die Brille; und nun begann der dicke Bürger im Überzieher mit seinem gutmütigen, von Zorn entstellten Gesicht, fast komisch und doch großartig in seiner Vaterlandsliebe, in den Haufen der Bayern am Ende der Straße hineinzufeuern. Das läge ihm so im Blut, behauptete er; infolge der Erzählungen von 1814, mit denen er von Kindheit auf dort unten im Elsaß großgepäppelt war, brannte er vor Begierde, ein paar von ihnen niederzustrecken.

»Oh, die dreckigen Schufte! Diese dreckigen Schufte!« Und er schoß immerzu, so rasch, daß der Lauf seines Chassepots ihm schließlich die Finger verbrannte.

Der Angriff mußte furchtbar werden. Von den Wiesen her hatte das Gewehrfeuer aufgehört. Die Bayern hatten sich in den Besitz eines schmalen, von Weiden und Pappeln umsäumten Baches gesetzt und gingen nun daran, ihren Angriff gegen die den Kirchenplatz verteidigenden Häuser vorzutragen; ihre Schützenschwärme hatten sich vorsichtig zurückgezogen; nur die Sonne lag wie ein goldener Schleier auf der riesigen Wiesenfläche, in der die Körper ein paar gefallener Soldaten dunklere Flecken bildeten. Der Leutnant kam gerade aus dem Hofe der Färberei heraus; er hatte nur einen Posten dort gelassen, da er begriff, daß die Hauptgefahr nunmehr von der Straßenseite drohte. Rasch stellte er seine Leute an dem Fußsteige entlang auf und befahl ihnen, wenn der Feind sich des Platzes bemächtigen sollte, sich im ersten Stock des Gebäudes zu verschanzen und sich dort bis zur letzten Patrone zu verteidigen. Auf der Erde liegend, hinter sich den Prellstein deckend und die kleinsten Erhöhungen ausnützend, schossen die Leute ganz selbständig; und über den breiten, sonnenüberströmten verlassenen Weg fegte ein bleierner Orkan zwischen Rauchstreifen hin wie ein von stärker Brise gejagter Hagelschauer. Da sah man ein junges Mädchen in kopflosem Rennen über den Weg laufen, ohne getroffen zu werden. Dann erhielt ein alter Mann, ein in seine Bluse gekleideter Bauer, der unbedingt sein Pferd in den Stall bringen wollte, eine Kugel mitten in die Stirn, und zwar mit solcher Gewalt, daß er bis mitten auf die Straße geschleudert wurde. Nun wurde das Kirchendach durch einen Granattreffer abgedeckt. Zwei andere setzten ein paar Häuser in Brand, die unter dem Krachen ihres Gebälkes in hellen Flammen aufgingen. Und die arme, neben ihrem kranken Kinde zerschmetterte Françoise, der Bauer mit seiner Kugel im Schädel, die Zerstörungen dieser Brände brachten die paar Einwohner, die lieber hier sterben als sich nach Belgien retten wollten, vollends außer sich. Bürger, Arbeiter, Leute im Überzieher und im Bauernkittel schossen wie verrückt aus den Fenstern.

»Oh, die Banditen!« schrie Weiß, »sie haben uns umgangen ... Ich habe es wohl gemerkt, wie sie sich an der Bahn entlang schlichen ... Halt! sehen Sie sie da hinten links?«

Tatsächlich brach jetzt Gewehrfeuer hinter dem Park von Montivilliers los, dessen Bäume bis an die Straße heranreichten. Wenn die Feinde sich dieses Parks bemächtigten, war Bazeilles genommen. Aber die Heftigkeit des Feuers allein bewies schon, daß der Kommandant des zwölften Korps die Bewegung hatte kommen sehen und daß der Park verteidigt wurde.

»Passen Sie doch auf, Tolpatsch!« rief der Leutnant und zwang Weiß, sich gegen die Mauer zu drücken, »Sie werden ja mitten durchgeschnitten.«

Der dicke, so tapfere Mensch mit seiner Brille hatte schließlich doch seine Teilnahme erweckt, wenn er auch über ihn lachen mußte; und als er eine Granate kommen hörte, brachte er ihn in Sicherheit, als ob er sein Bruder wäre. Das Geschoß fiel etwa zehn Schritt von ihnen nieder und überdeckte sie beide beim Platzen mit Sprengstücken. Der Bürger blieb ohne jegliche Schramme stehen, dem Leutnant aber waren beide Beine zerschmettert.

»Na, schön!« flüsterte er. »Ich hab' mein Teil!«

Er lag auf den Fußsteig hingestreckt und ließ sich gegen die Mauer lehnen, dicht neben der über ihre Schwelle hingestreckten Frau. Sein junges Gesicht aber behielt seinen tatkräftigen und hartnäckigen Ausdruck bei.

»Das macht nichts, Jungens, hört ihr wohl ... Schießt ganz ruhig, beeilt euch nicht. Ich werde euch schon sagen, wenn ihr mit dem Bajonett auf sie losgehen müßt.«

Und aufrechten Hauptes fuhr er fort, ihnen seine Befehle zu erteilen und den Feind in der Ferne zu beobachten. Ein anderes Haus ihnen gegenüber fing Feuer. Das Knattern des Gewehrfeuers und das Krachen der Granaten zerrissen die Luft, die sich mit Staub und Rauch anfüllte. An jeder Straßenecke stürzten Soldaten über Kopf, und Tote, hier einzelne, da in Haufen, bildeten dunkle, mit Rot überspritzte Flecken. Jenseits des Ortes stieg ein betäubender Lärm empor, die Drohung von Tausenden von Menschen, die sich auf die paar hundert zum Sterben entschlossenen Tapferen stürzen wollten.

Nun fragte Delaherche, der unaufhörlich nach Weiß gerufen hatte, noch ein letztes Mal:

»Kommen Sie nicht mit? ... Um so schlimmer! dann lasse ich Sie allein, leben Sie wohl!«

Es war jetzt ungefähr sieben Uhr, und er hatte schon zu lange gewartet. Solange er an den Häusern entlang kriechen konnte, benutzte er jede Tür und jeden Mauervorsprung und drückte sich bei jedem Schusse in die kleinsten Winkel. Er hätte nie geglaubt, daß er noch so jung und so beweglich wäre, mit einer solchen hasenartigen Geschmeidigkeit flitzte er den Weg entlang. Aber am Ende von Bazeilles, als er auf ungefähr dreihundert Meter über die nackte, einsame Straße mußte, die die Batterien vom Liry fegten, da fühlte er, wie er klapperte, trotzdem er schweißüberströmt war. Einen Augenblick noch, und er kroch niedergebückt in einem Graben entlang. Dann rannte er wie toll geradeaus, die Ohren von donnergleichem Krachen erfüllt. Die Augen brannten ihm, und er glaubte in Flammen vorwärts zu laufen. Das ging so eine Ewigkeit. Plötzlich entdeckte er links ein kleines Haus; er stürzte sich auf diesen Schlupfwinkel los und fühlte seine Brust von einem Riesengewicht erleichtert. Leben umgab ihn, Menschen und Pferde. Zuerst erkannte er niemand. Aber was er dann sah, setzte ihn in Erstaunen.

War das nicht der Kaiser mit seinem ganzen Stabe? Er schwankte noch, obwohl er sich so damit brüstete, ihn zu kennen, seit er in Baybel beinahe zu ihm gesprochen hatte; dann aber blieb er mit offenem Münde stehen. Allerdings war das Napoleon III., und er kam ihm zu Pferde viel größer vor; sein Schnurrbart war derart gewichst und seine Backen hatten eine so lebhafte Farbe, daß er die Verjüngungsmittelchen sofort wie bei einem Schauspieler erkannte. Sicher hatte er sich schminken lassen, um seinen Truppen nicht den ganzen Schrecken seines blassen, von Leiden zerstörten Gesichts mit der spitzen Nase und den trüben Augen vorzuführen. Und da er nach fünf Uhr von dem Kampf um Bazeilles benachrichtigt worden war, kam er nun und sah aus wie ein stummes, trübseliges Gespenst, dessen Fleischfarbe man mit Hilfe von Zinnober wieder aufmuntern wollte.

Da lag eine Ziegelei, die Schutz bot. Der Kugelregen hatte von der andern Seite her ihre Mauern durchlöchert, und Granaten schlugen jede Sekunde auf die Straße nieder. Die ganze Bedeckung hatte haltgemacht.

»Sire,« murmelte eine Stimme, »es ist wirklich gefährlich hier.«

Aber der Kaiser wandte sich um und befahl seiner Begleitung durch eine Handbewegung, in dem engen Gäßchen Stellung zu nehmen, das an der Ziegelei entlang lief. Dort mußten Menschen und Tiere vollständig in Deckung sein.

»Wahrhaftig, Sire, das ist Torheit ... Sire, wir flehen Sie an ...«

Er wiederholte nur seine Handbewegung, wie um anzudeuten, die Anwesenheit einer Gruppe von Uniformen auf dieser nackten Straße werde sicherlich die Aufmerksamkeit der Batterien auf dem linken Ufer auf sich ziehen. Und ganz allein ging er unter dem Kugel- und Granatenregen, ohne sich zu beeilen, weiter vor immer mit derselben trüben, gleichgültigen Miene, als ritte er seinem Schicksal entgegen. Zweifellos hörte er hinter sich die erbarmungslose Stimme, die ihn vorwärts trieb, den Ruf aus Paris: »Vorwärts! vorwärts! stirb als Held auf dem Leichenhügel deines Volkes. Zwinge die ganze Welt zu Rührung und Bewunderung, auf daß dein Sohn herrschen möge!« Er ritt weiter und trieb sein Pferd mit kleinen Schritten vorwärts. Ungefähr hundert Meter ging er so noch vorwärts. Dann hielt er und wartete auf das Ende, das er suchte. Wie ein Äquinoktialsturm pfiffen die Kugeln um ihn her, eine berstende Granate bewarf ihn mit Erde. Er wartete weiter. Sein Pferd sträubte die Mähne, ihm zitterte das ganze Fell in dem gefühlsmäßigen Zurückweichen vor dem Tode, der jede Sekunde an ihnen vorbeizog, aber weder den Herrn noch das Tier haben wollte. Nach unendlichem Warten begriff dann der Kaiser in seinem ergebungsvollen Glauben an das Schicksal, hier werde es sich nicht erfüllen, und er ritt ruhig zurück, als hätte er nichts weiter gewollt, als die genaue Stellung der deutschen Batterien festzustellen.

»Sire, welcher Mut! ... Um Gottes willen, setzen Sie sich nicht weiter aus ...«

Aber mit einer neuen Handbewegung forderte er seinen Stab auf, ihm zu folgen, ohne ihn jedoch diesmal zu schonen, da er ja auch sich selbst nicht schonte; und so ritt er nach La Moncelle hinauf, querfeldein über die nackten Felder von La Napaille. Ein Hauptmann wurde getötet, zwei Pferde brachen nieder. Die Regimenter des zwölften Korps, vor denen er vorbeizog, sahen ihn kommen und verschwinden wie eine Geistererscheinung, ohne ihn auch nur mit einem Zuruf zu begrüßen.

Diesen Vorgängen hatte Delaherche beigewohnt. Und er zitterte vor allem bei dem Gedanken, daß, sobald er die Ziegelei verlassen müßte, er sich wieder voll im Bereich der Geschosse befinden würde. Daher zögerte er und hörte einigen abgesessenen Offizieren zu, die dageblieben waren.

»Ich sage Ihnen, er ist glatt getötet worden. Eine Granate hat ihn mitten auseinandergerissen.«

»Nein, ich habe ihn doch wegtragen sehen ... 'ne ganz harmlose Wunde, ein Riß im Hintern ...«

»Wann war es?«

»Um halb sieben ungefähr, vor einer Stunde ... Da oben dicht bei La Moncelle, in einem Hohlwege ...«

»Dann ist er also nach Sedan gebracht?«

»Gewiß, er ist in Sedan.«

Von wem sprachen hie wohl? Plötzlich begriff Delaherche, daß sie vom Marschall Mac Mahon sprachen, der bei einem Gange zu den Vorposten verwundet worden war. Der Marschall verwundet! Da hatten wir wieder mal unser Glück, wie der Leutnant von der Marineinfanterie gesagt hatte. Und er überlegte noch die Folgen dieses Unglücksfalles, als ein Meldereiter mit verhängten Zügeln an ihm vorbeisauste und einem Kameraden, den er erkannt hatte, zuschrie:

»General Ducrot ist Oberbefehlshaber ... Die ganze Armee soll sich auf Illy zu sammeln, um auf Mézières zurückzugehen!«

Der Meldereiter sauste bereits in der Ferne dahin und kam schon nach Bazeilles hinein, als das Feuer sich verdoppelte; währenddessen faßte Delaherche, voller Bestürzung über die außergewöhnlichen Nachrichten, die er so Schlag auf Schlag erfahren hatte, und angesichts des drohenden Umstandes, daß er in den Rückzug der Truppen mit hineingerissen werden könnte, den Entschluß, seinerseits bis Balan weiterzurennen, von wo er Sedan endlich ohne übermäßige Anstrengung erreichte.

In Bazeilles raste der Meldereiter auf der Suche nach Führern, denen er die Befehle überbringen konnte, immer weiter. Und die Nachrichten flogen auch, der Marschall Mac Mahon verwundet, General Ducrot zum Oberbefehlshaber ernannt, die ganze Armee auf dem Rückzug gegen Illy.

»Was? was heißt das?« schrie Weiß, der schon ganz schwarz von Pulverdampf war. »Jetzt sich auf Mézières zurückziehen l Aber das ist ja Wahnsinn! Nie kommen wir da durch!«

Er geriet in Verzweiflung und machte sich Gewissensbisse darüber, daß er dies gestern gerade dem General Ducrot empfohlen habe, der nun mit dem Oberbefehl betraut war. Gestern, gewiß, da gab es keinen andern Plan zu befolgen als den: den Rückzug, den sofortigen Rückzug durch den Paß von Saint-Albert. Aber heute mußte der Weg ja doch versperrt sein, all das schwarze Ameisengewimmel von Preußen war doch dort hinten in der Ebene von Donchery versammelt. Und Torheit über Torheit, jetzt gab es nur noch eine Möglichkeit für ihre verzweifelte Tapferkeit, nämlich die, die Bayern in die Maas zu werfen und über sie hinweg den Weg auf Carignan zu gewinnen.

Weiß, der seinen Kneifer alle Augenblicke mit einer kleinen trockenen Handbewegung wieder zurechtrücken mußte, erklärte diese Sachlage dem Leutnant, der immer noch mit seinen zerbrochenen Beinen gegen die Tür gelehnt dasaß und leichenblaß gegen die Wirkung des Blutverlustes ankämpfte.

»Herr Leutnant, ich versichere Sie, ich habe recht ... Sagen Sie Ihren Leuten, daß sie nicht nachlassen. Sie sehen selbst, daß wir siegen. Noch eine Anstrengung, und wir werfen sie in die Maas!«

Tatsächlich war soeben der zweite Angriff der Bayern zurückgeschlagen worden. Von neuem hatten die Mitrailleusen den Kirchenplatz gefegt, und Haufen Toter überdeckten im Sonnenschein sein Pflaster; aus allen Gäßchen jagte man den fliehenden Feind mit dem Bajonett in einzelnen Gruppen über die Wiesen gegen den Fluß, und ganz gewiß wäre es zu vollster Auflösung gekommen, wenn frische Truppen die schon entkräfteten und stark mitgenommenen Mariner unterstützt hätten. Auf der andern Seite im Park von Montivilliers kam das Gewehrfeuer auch nicht recht in Gang, was bewies, daß auch auf dieser Seite Verstärkungen das Holz entsetzt hatten.

»Sagen Sie Ihren Leuten, Herr Leutnant ... Pflanzt das Bajonett auf! Pflanzt das Bajonett auf!«

Wachsbleich hatte der Leutnant nur noch die Kraft, mit sterbender Stimme zu flüstern: »Hört ihr, Jungens, pflanzt das Bajonett auf!«

Das war sein letzter Atemzug; er starb, das Gesicht hartnäckig geradeaus gerichtet, die offenen Augen immer noch in die Schlacht starrend. Fliegen summten schon umher und setzten sich auf die zerschmetterte Stirn Françoises, während der kleine August sie in seinem Fieberwahn vom Bett aus rief und mit leiser, flehender Stimme um etwas zu trinken bat.

»Mutter, steh' doch auf, steh' doch auf ... Ich habe Durst, ich bin so durstig.«

Aber der Befehl lautete ganz bestimmt, die Offiziere mußten zum Rückzug blasen lassen, wenn sie auch trostlos darüber waren, daß sie den Vorteil, den sie gerade zu erringen begannen, nicht weiter ausbeuten konnten. Augenscheinlich war General Ducrot von Furcht vor einer Umgehungsbewegung des Feindes besessen und opferte alles dem närrischen Versuch, sich seiner Umklammerung zu entziehen. Der Kirchenplatz wurde geräumt, von Gasse zu Gasse zogen die Truppen sich zurück, und bald war die Straße leer. Die Frauen fingen an zu schreien und zu seufzen, die Männer fluchten und schwenkten die Fäuste vor Zorn, als sie sich derart aufgegeben sahen. Viele schlossen sich in ihrem Hause ein mit dem Entschluß, es zu verteidigen und in ihm zu sterben.

»Ach was! ich werde doch nicht ausreißen!« schrie Weiß. »Nein, dann lasse ich mein Fell lieber hier ... Laß sie nur kommen und meine Sachen zerschlagen und meinen Wein trinken!«

Für ihn gab es in seiner Raserei nichts mehr als unauslöschlichen Kampfeszorn bei dem Gedanken, daß der Fremdling in sein Haus eindringen, sich in seinen Stuhl setzen, aus seinem Glase trinken könnte. Das hob ihn über sich selbst hinaus und wischte sein ganzes gewöhnliches Dasein, seine Frau, sein Geschäft, seine Klugheit als kleiner, verständiger Bürger vollkommen aus. Und so schloß er sich in seinem Hause ein und verschanzte sich drinnen, rannte wie ein Tier im Käfig aus einem Zimmer ins andere, um sicher zu sein, daß alle Öffnungen gut verstopft seien. Er zählte seine Patronen nach, er hatte noch etwa vierzig. Als er dann einen letzten Blick auf die Maaswiesen werfen wollte, um sich zu vergewissern, daß von den Wiesen her kein Angriff zu befürchten sei, hielt ihn der Anblick der Höhen auf dem linken Ufer abermals einen Augenblick fest. Rauchumhüllungen zeigten ganz klar die Stellungen der preußischen Batterien an. Und oberhalb der furchtbaren Batterie von Frénois, an der Ecke eines kleinen Gehölzes auf der Marfée, fand er die Gruppe von Uniformen wieder, zahlreicher jetzt und derart im hellen Sonnenscheine funkelnd, daß, als er seinen Kneifer über die Brille setzte, er ganz deutlich das Gold der Epauletten und der Helme unterscheiden konnte.

»Dreckige Schufte! dreckige Schufte!« wiederholte er mit ausgestreckter Faust.

Da oben auf der Marfée, das war der König Wilhelm mit seinem Stabe. Etwa um sieben Uhr war er von Vendresse herübergekommen, wo er geschlafen hatte, und befand sich dort oben außerhalb jeder Gefahr, denn vor ihm lag das ganze Maastal, ein schrankenloses Schlachtfeld. Wie ein riesiger Reliefplan reichte es von einem Ende des Horizontes zum andern; er aber stand auf seinem Hügel wie auf einem für ihn in dieser Riesenprunkloge bereitgehaltenen Throne und schaute zu.

In der Mitte hob sich von dem dunklen Hintergrunde des Ardenner Waldes, der wie ein altgrüner Vorhang am Horizont aufgespannt schien, Sedan mit den geometrischen Linien seiner Befestigungen, die im Süden und Westen die überschwemmten Wiesen und der Fluß bespülten. In Bazeilles flammten bereits Häuser empor, der Staub der Schlacht hüllte den Ort mit seinem Dunst. Im Osten von La Moncelle bis La Givonne sah man sodann nur ein paar Regimenter des zwölften und des ersten Korps wie Insektenzüge sich über die Stoppelfelder hinziehen und zeitweilig in dem engen Tale verschwinden, in dem diese Weiler verborgen lagen; gegenüber lag die Rückseite der feindlichen Stellung auf hell erscheinenden Feldern, die das Chevaliergehölz mit seinen grünen Massen durchsetzte. Am besten aber konnte man im Norden das siebente Korps sehen, das mit seinen beweglichen schwarzen Punkten die Hochebene von Floing besetzt hielt, einen breiten Streifen rötlichen Geländes, der sich vom Garennegehölz bis zu den Büschen am Rande des Wassers hinabzog. Darüber hinaus lagen noch Floing, Saint-Menges, Fleigneur, Illy, lauter in den Wellen des Geländes versteckte Dörfer, die ganze Landschaft durchaus hügelig, von steilen Böschungen durchschnitten. Nach links kam dann auch die Maasschleife, deren ruhiges Wasser in der hellen Sonne wie blankes Silber erglänzte; sie versperrte mit ihrem weiten, träge fließenden Bogen den Weg nach Mézières vollständig und ließ zwischen ihrem Uferrande und den undurchdringlichen Wäldern nur den Paß von Saint-Albert als Durchgang offen.

Da lagen nun die hunderttausend Mann und fünfhundert Geschütze des französischen Heeres in diesem Dreieck übereinandergehäuft und umzingelt; und wenn der König von Preußen sich nach Westen wendete, dann erblickte er eine andere Ebene, die von Donchery, deren abgeerntete Felder sich gegen Briancourt, Marancourt und Vrignes-aux-Bois erstreckten, eine Unendlichkeit grauer Felder, von denen der Staub in den blauen Himmel emporstieg; und wenn er sich nach Osten wendete, dann lag auch dort vor den eingezwängten französischen Linien die freie Unendlichkeit mit einem Gewimmel von Dörfern, Douzy und Carignan zunächst, dann sich allmählich gegen La Chapelle dicht an der Grenze hinaufziehend Rubécourt, Pourru-aux-Bois, Francheval, Villers-Cernay. Rings herum beherrschte er die Gegend, nach Gutdünken schob er die zweihundertundfünfzigtausend Mann und achthundert Geschütze seiner Heere vor und umspannte mit einem einzigen Blick ihren ungestümen Marsch. Von der einen Seite ging schon das elfte Korps gegen Saint-Menges vor, während das fünfte bei Vrignes-aux-Bois lag und die württembergische Division in der Nähe von Donchery wartete; und wenn ihm auch auf der andern Seite die Bäume im Wege waren, so ahnte er hier doch die Bewegungen des zwölften Korps und würde es bald aus dem Chavaliergehölz hervordringen sehen; und er wußte, die Garde müsse Villers-Cernay erreicht haben. Dies waren die Backen des Schraubstockes, die Heeresgruppe des Kronprinzen von Preußen links, die des Kronprinzen von Sachsen rechts, die sich öffneten und mit einer unwiderstehlichen Bewegung wieder schlossen, wählend die beiden bayrischen Korps sich auf Bazeilles stürzten.

Zu Füßen König Wilhelms donnerten von Frénois bis Remilly die Batterien fast ununterbrochen, ohne nachzulassen, und bedeckten La Moncelle und Daigny mit Granaten, fegten jenseits der Stadt Sedan die Hochebenen im Norden. Und es war kaum acht Uhr, und er wartete auf das unausbleibliche Ergebnis der Schlacht, die Augen auf dies Riesenschachbrett, das Gewimmel seiner Leute und die Wut der paar inmitten der ewig lächelnden Natur sich verlierenden schwarzen Punkte geheftet.


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