Emile Zola
Der Zusammenbruch
Emile Zola

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2

Gegen acht Uhr zerstreute die Sonne die schweren Schwaden, und ein heißer, klarer Augustsonntag erglänzte über Mülhausen inmitten seiner weiten, fruchtbaren Ebene. Von dem jetzt erwachten, von summendem Leben erfüllten Lager aus hörte man bei der durchsichtigen Luft lauten Glockenklang in allen Kirchendörfern. Trotz seines furchtbaren Unglücks hatte auch dieser schöne Sonntag seine Heiterkeit, seinen strahlenden Festtagshimmel.

Gaude blies heftig zum Frühstück, und Loubet fragte voll Verwunderung, was es wohl geben würde? das Huhn, das er abends zuvor Lapoulle versprochen hatte? In den Hallen Rue Cossonerie als Zufallskind einer Kleinkramhändlerin geboren, war er, nachdem er alles mögliche versucht hatte, »auf Sous« angestellt, wie er sagte; jetzt spielte er den Koch und schnüffelte unaufhörlich hinter Leckereien her. So ging er los, während Chouteau, der Künstler, der Anstreicher von Montmartre, ein schöner Kerl, Umsturzmann, der wütend war, daß er nach seiner Dienstzeit noch wieder eingezogen wurde, wild über Pache herzog, den er eben hinter dem Zelt betend auf den Knien gefunden hatte. Also ein Pfaffe! konnte der nicht seinen lieben Gott um hunderttausend Francs Rente für ihn bitten? Aber Pache, der aus einem weltfernen Dörfchen der Picardie kam, schmächtig, mit spitzem Kopf, ließ sich mit der stummen Milde eines Märtyrers veralbern. Er war der Prügelknabe der Korporalschaft zusammen mit Lapoulle, dem Koloß, dem Untier, das aus den Sümpfen der Sologne emporgeschossen war, so dumm, daß er am Tage seiner Ankunft beim Regiment erst mal den König sehen wollte. Und obwohl die Unglücksnachricht von Fröschweiler seit dem Wecken umlief, lachten die vier Leute und verrichteten ihre gewohnten Beschäftigungen gedankenlos und gleichgültig.

Da entstand ein Gemurmel infolge einer scherzhaften Überraschung. Jean, der Korporal, kam mit Maurice von der Brennholzverteilung zurück. Endlich wurde also das Holz verteilt, auf das die Leute am Abend vorher vergeblich gewartet hatten, um ihre Suppe zu kochen. Zwölf Stunden Verspätung nur.

»Hoch die Intendantur!« schrie Chouteau.

»Ach was! jetzt ist es da!« meinte Loubet. »Ach! jetzt werde ich euch mal einen pikfeinen Topf Suppe kochen.« Wie gewöhnlich übernahm er gern die Kocherei, und sie waren ihm dankbar dafür, denn er kochte hinreißend schön. Zunächst aber überhäufte er Lapoulle mit merkwürdigen Aufträgen.

»Hol' Champagner und Trüffeln ...«

Seit heute morgen lief ihm ein ganz verrückter Gedanke durch den Kopf, so richtig der Gedanke eines Pariser Straßenbengels, der sich über einen Einfaltspinsel lustig machen will.

»Fix ein bißchen! gib mir mal das Huhn.«

»Das Huhn? woher denn?«

»Na da, auf der Erde ... Das Huhn, das ich dir versprochen habe, das der Korporal eben mitgebracht hat.«

Er zeigte auf einen großen weißen Stein vor ihren Füßen. »Donnerwetter! willst du das Huhn wohl erst mal waschen! ... noch mal! die Pfoten und den Hals! ... mit mehr Wasser, Faulpelz!«

Und rein aus Ulk warf er, weil ihm der Gedanke an die Suppe allerhand Scherze in den Kopf setzte, den Stein mit dem Fleisch zusammen in den Topf voll Wasser.

»Das soll der Suppe mal Geschmack geben! das wußtest du nicht mal? du weißt auch gar nichts, du dämlicher Waschlappen! ... Du sollst den Stert haben, sollst mal sehen wie zart der ist!«

Die Korporalschaft krümmte sich über Lapoulles Gesicht, der sich jetzt voller Überzeugung die Lippen leckte. Wenn der Loubet, dies Viech, dabei war, konnte man sich unmöglich langweilen! Und als dann das Feuer im Sonnenschein knisterte und der Kessel zu singen anfing, da standen sie alle voller Andacht herum und blühten förmlich wieder auf, als sie das Fleisch tanzen sahen und den köstlichen Geruch einatmeten, der sich allmählich verbreitete. Sie hatten von gestern abend her einen Bärenhunger, und der Gedanke ans Essen riß sie ganz hin. Verhauen waren sie ja, aber das sollte sie doch nicht daran hindern, sich mal wieder ordentlich aufzufüllen. Vom einen Ende des Lagers bis zum andern flammten die Kochfeuer, in den Kesseln wallte es, und eine fröhliche Gefräßigkeit machte sich inmitten der klaren, fortwährend von allen Kirchen Mülhausens herübertönenden Glockenklänge in Liedern Luft.

Als es aber auf neun Uhr ging, verbreitete sich eine Bewegung, Offiziere liefen vorbei, und Leutnant Rochas, dem Hauptmann Beaudouin einen Befehl übermittelt hatte, ging an den Zelten seines Zuges vorbei.

»Zelte abbrechen! Alles einpacken! es geht weiter.«

»Aber unsere Suppe?«

»Nächstens gibt's mal Suppe! es geht sofort weiter!«

Gaudes Horn ertönte gebieterisch. Bestürzung, stummer Zorn herrschte. Was? aufbrechen ohne zu essen, nicht mal eine Stunde warten, bis die Suppe fertig war! Die Korporalschaft wollte trotzdem die Brühe trinken, aber sie war noch nichts als heißes Wasser, und das ungare Fleisch widerstand den Zähnen wie Leder. Chouteau brummte wütendes Zeug vor sich hin. Jean mußte dazwischenfahren, um die Vorbereitungen seiner Leute zu beschleunigen. War es denn so eilig, daß sie losziehen mußten und die Leute herumgehetzt wurden, ohne daß sie Zeit hatten, wieder zu Kräften zu kommen? Und als jemand Maurice erzählte, es ginge gegen die Preußen, um sich Genugtuung zu holen, da zuckte er ungläubig die Achseln. In weniger als einer Viertelstunde war das Lager abgebrochen, waren die Zelte zusammengenommen und auf den Tornistern verpackt, die Gewehre wieder auseinander genommen, und auf der nackten Erde blieb nichts als die allmählich verlöschenden Feuer zurück.

Ernste Gründe hatten General Douay zum Entschluß des sofortigen Rückzuges gefühlt. Die schon drei Tage alte Meldung des Unterpräfekten von Schlettstadt fand sich bestätigt: er erhielt telegraphisch die Nachricht, daß die Wachtfeuer der Markolsheim bedrohenden Preußen abermals gesehen wären, und andererseits meldete ein Telegramm, daß die Preußen den Rhein bei Hüningen überschritten hätten. Genaue Einzelheiten folgten im Überfluß: Artillerie und Kavallerie beobachtet, marschierende Truppen strebten von allen Seiten ihren Treffpunkten zu. Wartete er nur eine Stunde, so war seine Rückzugslinie auf Belfort sicher abgeschnitten. Nach den Niederlagen bei Weißenburg und Fröschweiler konnte der General auf seinem vereinsamten Vorposten keinen andern Gegenzug tun als sich schnellstens zurückzuziehen, um so mehr, als heute morgen eingetroffene Meldungen die der Nacht noch verschlimmerten.

Der Stab war in scharfem Trabe vorausgegangen und bearbeitete die Gäule mit den Sporen, in der Angst, die Preußen möchten ihnen zuvorkommen und man sie schon in Altkirch vorfinden. General Bourgain-Desfeuilles, der einen harten Marsch voraussah, war so vorsichtig gewesen durch Mülhausen zu marschieren, um dort gründlich zu frühstücken, wobei er auf diese Herumschubserei schimpfte. Mülhausen war bei dem Durchzug der Offiziere tief betrübt; die Bewohner kamen bei der Ankündigung des Rückmarsches auf die Straße und beklagten sich laut über den plötzlichen Abmarsch der Truppen, deren Sendung sie so dringend erbeten hatten: sie sollten also im Stich gelassen werden? und sollten die auf dem Bahnhofe aufgehäuften, ganz unschätzbaren Werte dem Feinde überlassen werden, sollte ihre eigene Stadt noch vor Abend nichts weiter sein als eine eroberte Stadt? Weiterhin standen an den Straßen entlang und auf den Feldern die Bewohner der Dörfer und der einzeln liegenden Häuser voller Erstaunen und Bestürzung vor ihren Türen. Was? die Regimenter, die sie erst am Abend vorher hatten in die Schlacht ziehen sehen, die gingen zurück und flohen kampflos? Die Offiziere trieben düster ihre Pferde an und wollten keine Fragen beantworten, als ob das Unglück hinter ihnen her hetzte. Also hatten die Preußen wirklich bereits das Heer vernichtet, daß sie so von allen Seiten über Frankreich hereinbrachen wie das Hochwasser eines über seine Ufer getretenen Flusses? Die von panischem Schrecken ergriffenen Leute glaubten schon, in der stillen Luft das Rollen des entfernten Einmarsches zu hören, das von Minute zu Minute lauter wurde; schon füllten die Karren sich mit Möbeln, leerten sich die Häuser; reihenweise brachten sich Familien auf den Wegen in Sicherheit, auf denen die Furcht vorbeijagte.

In der Unordnung des am Rhein-Rhône-Kanal entlang führenden Rückzuges mußten die 106er bei einer Brücke, dem ersten Kilometer ihres Marsches, haltmachen. Die schlecht ausgestellten und noch schlechter ausgeführten Marschbefehle brachten hier die ganze zweite Division zusammen, und der Übergang war so eng, höchstens fünf Meter breit, daß die Überschreitung sich ewig in die Lange zog.

Zwei Stunden verrannen, die 106er warteten immer noch unbeweglich vor der endlosen Flut, die an ihnen vorüberzog. Die Leute standen in der Sonnenglut, den Tornister auf dem Rücken, das Gewehr bei Fuß, und wurden schließlich aufsässig vor Ungeduld. »Scheint, wir sind Nachtrab!« ertönte die prahlerische Stimme Loubets.

Aber Chouteau ließ sich ganz hinreißen.

»Damit sie uns loswerden, deshalb lassen sie uns hier kochen. Wir waren doch zuerst hier, wir hätten auch zuerst hinüber müssen.«

Und da man in der weiten, auf der andern Seite des Kanals gelegenen fruchtbaren Ebene und den ebenen Wegen zwischen den Hopfengärten und den reifen Getreidefeldern jetzt klar erkennen konnte, die Truppen gingen zurück und machten den gleichen Weg wie am Tage vorher, nur in umgekehrter Richtung, so liefen jetzt allerlei höhnische, ärgerliche Spottreden umher.

»Wir reißen also aus!« fing Choteau wieder an. »Na ja! ist ja lächerlich, gegen den Feind marschieren, mit dem ihr uns seit neulich morgens die Ohren vollschreit!... Nein, wahrhaftig, das ist doch zu frech! Da kommen wir an und reißen wieder aus, ohne nur die Zeit zu haben, unsere Suppe herunterzuschlucken!«

Häufiger ertönte ärgerliches Gelächter, und Maurice, der nahe bei Chouteau stand, gab ihm recht. Wenn man da seit zwei Stunden wie die Pfähle stehenbleiben konnte, warum ließ man sie dann nicht erst ihre Suppe kochen und essen? Der Hunger packte sie wieder, sie fühlten in sich einen schwarzen Groll, weil sie ihre Kochkessel zu früh ausgegossen hatten und die Notwendigkeit dieser Überstürzung nicht begreifen konnten, die ihnen vielmehr dumm und feige vorkam. Wirklich, schöne Hasen!

Leutnant Rochas aber schimpfte auf den Sergeanten Sapin und maß ihm die Schuld an der schlechten Haltung seiner Leute bei. Von dem Lärm angezogen, trat Hauptmann Beaudouin näher.

»Ruhe im Gliede!«

Jean, als alter Soldat aus Italien, in Manneszucht gedrillt, sah nach Maurice, dem die Übeln, zügellosen Hohnreden Chouteaus Spaß zu machen schienen; er wunderte sich, wie ein Herr, ein feiner Junge, der so viel gelernt hatte, so etwas billigen konnte, was an sich richtig sein mochte, was man aber doch nicht sagte. Wenn jeder Soldat anfinge, seine Vorgesetzten zu tadeln und ihnen gute Ratschlage zu geben, dann würde es sicher nicht weit gehen.

Endlich nach noch einer Stunde Wartezeit erhielten die 106er Befehl zum Vorrücken. Allein die Brücke war immer noch mit den letzten Leuten der Division angefüllt, was die ärgerlichste Anordnung verursachte. Mehrere Regimenter vermischten sich, einzelne Kompanien gingen trotz allem hinüber und wurden mitgerissen, andere wieder wurden zurückgedrängt und traten am Rande der Straße auf der Stelle. Um die Verwirrung auf den Höhepunkt zu bringen, erzwang sich eine Schwadron Kavallerie den Übergang und drängte die Nachzügler, die die Infanterie schon zurückzulassen begann, in die benachbarten Felder zurück. Gegen Ende der ersten Wegstunde schleppte sich schon ein ganzer, sich immer mehr in die Länge ziehender, wirrer Haufen hinterher, wie auf einem Vergnügungsbummel.

So kam es, daß Jean und seine Korporalschaft, die er nicht verlassen wollte, sich ganz hintenan verirrt in einem Hohlweg befanden. Die 106er waren verschwunden; kein Mann, nicht mal einer der Offiziere der Kompanie war mehr zu sehen. Da waren nur noch vereinzelte Mannschaften, ein Durcheinander von Unbekannten, die seit Beginn des Marsches die Kräfte verloren hatten, und jeder lief nach seinem Gefallen, wo er gerade einen Weg fand. Die Sonne schien niederdrückend, es war sehr heiß, und der Tornister, durch das Zelt und die vielfachen Gegenstände, die ihn aufweiteten, beschwert, lag schrecklich schwer auf den Schultern. Viele hatten sich noch nicht daran gewöhnt, ihn zu tragen, und waren schon durch den dicken Feldrock behindert, der wie ein Mantel aus Blei wirkte. Plötzlich hielt ein kleiner, blasser Soldat, dem das Wasser schon in den Augen stand, an und warf seinen Tornister aufseufzend in den Graben, mit dem tiefen Seufzer, mit dem der Mensch, der im Todeskampf gelegen hat, wieder Freude am Dasein gewinnt.

»Da, der hat recht!« murmelte Chouteau.

Indessen ging er doch noch weiter, den Rücken gekrümmt unter seiner Last. Aber nachdem zwei andere sich der ihrigen entledigt hatten, hielt er nicht länger an sich.

»Ach! weg damit!« rief er.

Mit einem Ruck warf er seinen Tornister auf die Böschung. Danke! fünfundzwanzig Kilo auf dem Buckel, davon hatte er genug. Man ist doch kein Lasttier, um sich so abzuschleppen.

Fast im selben Augenblick folgte Loubet seinem Beispiel und zwang Lapoulle, es auch so zu machen. Pache, der sich vor allen Steinkreuzen, die er am Wege traf, bekreuzigte, machte die Tragriemen los und setzte den ganzen Packen sorgfältig an den Fuß einer kleinen Mauer, als ob er ihn wieder abholen wollte. Maurice allein trug seinen noch, als Jean sich umdrehte und seine Leute mit leeren Schultern sah.

»Nehmt eure Tornister wieder auf; ich fliege sonst dafür herein!«

Aber die Leute gingen stumm mit bösen Gesichtern immer weiter, ohne noch aufsässig zu werden, und trieben den Korporal auf dem engen Wege vor sich her.

»Wollt ihr eure Tornister wieder aufnehmen, oder ich melde euch!« Das wirkte auf Maurice wie ein Peitschenhieb durchs Gesicht. Melden! Dieses Viech von einem Bauern wollte die Unglücklichen melden, weil sie ihre zermarterten Muskeln erleichterten! Und in fieberhaftem, blindem Zorn riß nun auch er die Tragriemen los und warf seinen Tornister auf den Wegesrand, indem er seine Augen voller Trotz auf Jean heftete.

Maurices Füße litten schrecklich. Die großen, harten Schuhe, an die er nicht gewöhnt war, rieben ihm das Fleisch blutig. Er war nur von schwacher Gesundheit; sein Rückgrat empfand das unerträgliche Scheuern des Tornisters noch wie eine offene Wunde, obwohl er ihn doch schon abgeworfen hatte, und das Gewicht seines Gewehrs, von dem er nicht wußte, mit welchem Arm er es tragen sollte, nahm ihm allein schon den Atem. Aber in einem dieser Verzweiflungsanfälle, denen er unterworfen war, ängstigten ihn noch mehr Gewissensbisse. Ohne jede Widerstandsmöglichkeit sah er plötzlich den Zusammenbruch seines Willens vor sich, er verfiel auf schlechte Gedanken, auf ein Sichselbstaufgeben, und stöhnte nachher vor Scham darüber. In Paris waren seine Torheiten immer nur die Dummheiten »des andern« gewesen; gewesen, wie er sagte, des dummen Jungen, zu dem er in schwachen Stunden herabsank, in denen er der häßlichsten Gemeinheit fähig war. Und während er auf diesem fluchtgleichen Rückzug, in der verzehrenden Sonne die Füße hinter sich herschleppte, war er nur noch ein Tier in einer verspäteten, zerstreuten Herde, die die Wege übersäte. Das war die Rückwirkung der Niederlage, jenes Donnerschlages, der in meilenweiter Entfernung ertönte und dessen Echo jetzt die Fersen der Leute peitschte, daß sie, von Panik ergriffen, dahinflohen, ohne auch nur einen Feind gesehen zu haben. Worauf konnten sie jetzt noch hoffen? War nicht alles zu Ende? Sie waren geschlagen; nun konnten sie sich hinlegen und schlafen.

»Das macht nichts!« rief Loubet überlaut mit seinem Gelächter eines Sohnes der Hallen, »nach Berlin geht's hier ja allerdings nicht!«

Nach Berlin! nach Berlin! Maurice hörte wieder den Ruf der wimmelnden Massen auf den Boulevards in jener Nacht närrischer Begeisterung, die ihn zu dem Entschluß geführt hatte, sich zu stellen. Nach einer Gewitterböe hatte der Wind sich gedreht; es war ein schreckliches Umspringen, und das ganze Temperament seiner Rasse spiegelte sich in diesem übertriebenen Selbstvertrauen, das beim ersten Rückschlag in Verzweiflung umschlug; die aber jagte ihn nun unter, diese verirrten Soldaten, die besiegt und zerstreut waren, noch ehe sie gefochten hatten.

»Ach! wie der Schießprügel mir die Pfoten zerschneidet!« fing Loubet wieder an, indem er das Gewehr mal wieder auf die andere Schulter nahm, »'ne nette Pfeife so zum Spazierengehen!«

Und indem er auf das Geld anspielte, das er als Ersatzmann bekommen hatte:

»Fünfzehnhundert Francs für das Geschäft... die bemogeln einen hübsch!... Was der reiche Kerl da in seiner Ofenecke wohl für ein nettes Pfeifchen raucht, während ich mir hier den Schädel für ihn einschlagen lasse!«

»Ich war mit meiner Zeit schon fertig,« brummte Chouteau, »ich wollte schon losziehen... verdammtes Pech, auf so 'ne Schweinegeschichte r'einzufallen!«

Er wog sein Gewehr voller Wut auf der Hand. Dann schleuderte er es gleichfalls heftig über die Hecke.

»So! weg mit dir, du dreckiges Dings!« Das Gewehr drehte sich zweimal um sich selbst und schlug dann in einem Wirbel zu Boden, wo es lang, unbeweglich wie ein Toter, liegen blieb. Bereits flogen andere hinter ihm her. Bald lag das ganze Feld voller Waffen, die starr in trauriger Verwahrlosung in dem niederdrückenden Sonnenschein dalagen. Eine ansteckende Verrücktheit war es, der Hunger, der ihnen den Magen verrenkte, die Schuhe, die ihnen die Füße zerrieben, dieser Leidensweg, die ungeahnte Niederlage, die sie drohend hinter sich empfanden. Keine Hoffnung auf eine Wendung zum Bessern, die Führer liefen davon, die Intendantur ernährte sie nicht einmal, der Zorn, der Ärger, die Lust, sofort ein Ende zu machen, ehe man nur angefangen hatte. Was wurde dann? Mochte die Flinte hinter dem Tornister hergehen. Und in sinnloser Wut flogen aus der endlosen Reihe der Nachzügler, die wie Verrückte lachten, die sich besonders vergnügt fühlen, die Gewehre weit verstreut ins Feld.

Loubet ließ seins noch, ehe er sich seiner entledigte, eine hübsche Mühle machen wie einen Tambourmajorstock. Als Lapoulle seine Kameraden ihre Gewehre wegwerfen sah, glaubte er, das gehörte dazu, und machte es ihnen nach. Pache aber glaubte in einem unbestimmten Pflichtbewußtsein, das er seiner religiösen Erziehung verdankte, sie nicht nachahmen zu sollen und wurde dafür von Chouteau, der ihn als Pfaffenkind behandelte, mit Schmähungen überhäuft.

»So'n Mucker!... Weil seine Mutter, das alte Bauernweib, ihn alle Sonntage den lieben Gott schlucken ließ!... Geh' doch hin, und hilf bei der Messe! Das ist feige, wenn du nicht mit den Kameraden zusammenhältst!«

Maurice marschierte in düsterem Schweigen und ließ unter der Glut des Himmels den Kopf hängen. Er ging nur noch wie in einem Alpdruck voll gräßlicher Müdigkeit vorwärts, unter Sinnestäuschungen, in denen es ihm schien, als ob er auf einen Abgrund vor ihm losginge; ein Gefühl tiefster Niedergeschlagenheit zog ihn von der Kulturhöhe seiner Bildung auf ein und dieselbe niedrige Stufe mit den Unglücklichen hernieder, von denen er umgeben war.

»Warte!« sagte er unvermittelt zu Chouteau, »Sie haben recht!«

Maurice hatte sein Gewehr schon auf einen Steinhaufen gelegt, als Jean, der vergeblich versuchte, sich gegen dies scheußliche Imstichlassen der Waffen zu widersetzen, ihn gewahr wurde.

»Nehmen Sie sofort Ihr Gewehr wieder auf! sofort, verstehen Sie!«

Eine Welle wütenden Zornes war Jean plötzlich ins Gesicht gestiegen. So ruhig er für gewöhnlich war und so sehr er stets zur Versöhnlichkeit neigte, so sprühten jetzt Flammen aus seinen Augen, und er befahl mit donnernder Stimme. Seine Leute, die ihn nie so gesehen hatten, standen überrascht still.

»Heben Sie sofort Ihr Gewehr wieder auf, oder Sie kriegen es mit mir zu tun!«

Maurice zitterte und ließ nur ein Wort fallen, das ihn mit aller Absicht beleidigen sollte.

»Bauer!«

»Jawohl, richtig! ich bin ein Bauer, und Sie sind ein Herr! Deshalb sind Sie aber auch ein Schweinehund, jawohl, ein dreckiger Schweinehund! Ich habe es Ihnen nur nicht schon früher sagen mögen!«

Hohngelächter ertönte, aber der Korporal fuhr mit ungewöhnlicher Kraft fort: »Wenn man gebildet ist, soll man das zeigen... Wenn wir Bauern und Viecher sind, dann hätten Sie uns ein gutes Beispiel geben sollen, weil Sie das alles so viel besser verstehen ... Nehmen Sie Ihr Gewehr wieder auf, oder, weiß Gott! ich lasse Sie erschießen, sobald wir zurück sind.«

Maurice war überwältigt und nahm sein Gewehr wieder auf. Tränen der Wut verschleierten seinen Blick. Taumelnd wie ein Betrunkener setzte er seinen Marsch fort unter den Kameraden, die nun darüber höhnten, daß er nachgegeben hatte. O dieser Jean! unauslöschlich haßte er ihn, denn er fühlte sich von seiner harten Lehre, die er doch als berechtigt anerkennen mußte, ins Herz getroffen. Und als Chouteau vor sich hin murmelte, für so eine Sorte von Korporal warte man bloß bis zu einem Gefechtstag, um ihm eine Kugel in den Kopf zu jagen, da empfand er einen roten Schleier vor den Augen, und er sah sich ganz deutlich, wie er Jean hinter einer Mauer den Schädel einschlug.

Aber eine Ablenkung entstand. Loubet bemerkte, wie Pache wählend des Streites sein Gewehr ebenfalls abgelegt hatte, indem er es sorgfältig am Fuß einer Böschung niederlegte. Warum nicht? Er versuchte weiter gar keine Erklärung, sondern lachte noch obendrein wohlgefällig und etwas verschämt wie ein vernünftiger Junge, dem man seine erste Dummheit vorwirft. Dann zog er sehr vergnügt und wieder ganz munter mit den Armen schlenkernd weiter. So zog sich die aufgelöste Herde auf den langen, sonnenüberfluteten Wegen zwischen den ewig gleichen Hopfengärten und dem reifen Getreide immer weiter hin; die Nachzügler waren nichts mehr als eine versprengte, trampelnde Menge ohne Tornister und Gewehre, ein Gemisch von Tagedieben und Bettlern, bei deren Annäherung sich die Türen in den erschreckten Dörfern schlossen.

Ein Wiedersehen brachte jetzt Maurice vollends in Wut. Aus der Ferne ertönte dumpfes Rollen – die Reserveartillerie, die zuletzt abrückte, und deren Spitze nun plötzlich um eine Wegesecke bog; die zerstreuten Nachzügler hatten gerade noch Zeit, sich auf die anliegenden Felder zu werfen. In stolzem Trabe zog sie in Kolonne dahin, in vollkommen schöner Ordnung, ein ganzes Regiment zu sechs Batterien, den Oberst an der Spitze und die Offiziere in der Kolonne an ihren Plätzen. Mit lautem Gepolter zogen die Geschütze in gleichen, genau beobachteten Abständen vorüber, jedes mit seiner Protze, Pferden und Bedienung. In der fünften Batterie erkannte Maurice ganz genau das Geschütz seines Vetters Honoré. Der Wachtmeister saß stolz auf seinem Gaul, links neben Adolf, dem Spitzenreiter, einem hübschen blonden Menschen, der ein strammes Sattelpferd ritt, eine Fuchsstute, die wundervoll zu dem neben ihr trabenden Handpferd paßte; unter der sechsköpfigen Bedienung, die zu zwei und zwei auf den Kästen des Geschützes und der Protze saß, sah er auf seinem Platz als Richtkanonier auch Louis, einen kleinen braunen Kerl, Adolfs Kamerad, seinen »Gatten«, wie man nach der feststehenden Regel sagte, einen berittenen und einen Mann zu Fuß zu »verheiraten«. Sie kamen Maurice, der sie im Lager kennen gelernt hatte, viel größer vor als dort, und das Geschütz mit seiner Bespannung von vier Pferden, dem der von sechsen gezogene Munitionswagen folgte, erschien ihm blendend wie die Sonne, gepflegt und geputzt, als ob seine Bedienung es liebte, und die es umgebenden Tiere und Menschen zeigten Zucht und Zuneigung zueinander wie eine brave Familie; vor allem litt er schrecklich unter dem verachtungsvollen Blick, den sein Vetter Honoré auf die Nachzügler warf, und der dann plötzlich in jähes Erstaunen überging, als er auch ihn unter dieser Herde entwaffneter Menschen gewahrte. Der Vorbeimarsch ging zu Ende, und es kam schon der Fuhrpark der Batterien, die Munitions- und Proviantwagen, die Feldschmieden. Dann kamen in einer letzten Staubwolke die überzähligen Offiziere, die Ersatzmannschaften und Pferde, deren Trab sich in dem Getöse der Hufe und Räder an der nächsten Wegbiegung allmählich verlor.

»Verflucht!« meinte Loubet, »das ist keine Kunst, sich aufzuspielen, wenn man hoch zu Wagen fährt.«

Der Stab hatte Altkirch noch frei gefunden. Noch waren keine Preußen da. Aber General Douay war in ewiger Furcht, hart verfolgt zu werden und sie von einer Minute zur andern erscheinen zu sehen, und wollte daher bis Dannemarie vorrücken, wo die Spitzen seiner Kolonnen erst um fünf Uhr nachmittags ankamen. Jetzt war es acht, es wurde dunkel, und man konnte bei der Verwirrung der auf die Hälfte zusammengeschmolzenen Regimenter nur mit Mühe und Not das Biwak beziehen.

Die Leute fielen vor Hunger und Müdigkeit entkräftet zu Boden. Bis zehn Uhr beinahe sah man noch welche eintreffen und ihre Kompanien suchen und nicht finden, einzeln und in kleinen Gruppen, einen jämmerlichen Schwanz von Nachzüglern und Widerspenstigen, die sich auf allen Wegen herumtrieben.

Sobald Jean das Regiment wiedergefunden hatte, begab er sich auf die Suche nach Leutnant Rochas, um seinen Bericht zu erstatten. Er fand ihn und Hauptmann Beaudouin in einer Beratung mit dem Oberst, alle drei vor der Tür einer kleinen Herberge tief in Gedanken über den bevorstehenden Appell und voller Unruhe über den Verbleib ihrer Leute. Bei den ersten an den Leutnant gerichteten Worten des Korporals ließ der Oberst, der sie gehört hatte, ihn herantreten und nötigte ihn, alles zu erzählen. Sein langes, gelbes Gesicht, in dem die Augen bei der Weiße des dichten Haares und des langen Hängeschnurrbarts noch sehr schwarz geblieben waren, drückte stumme Verzweiflung aus.

»Herr Oberst!« rief Hauptmann Beaudouin, ohne den Rat seines Vorgesetzten abzuwarten, »wir müssen ein halbes Dutzend von diesen Strolchen erschießen.«

Leutnant Rochas stimmte mit einem Zucken seines Kinnes zu. Der Oberst aber machte eine Gebärde der Ohnmacht.

»Es sind zu viele ... was wollen Sie? fast siebenhundert! Wen soll man da nehmen? ... Und dann, wenn Sie wüßten! Der General will ja nicht. Er empfindet wie ein Vater; in Afrika, sagt er, hätte er niemals einen Mann bestraft ... Nein, nein! ich kann nichts machen. Es ist schrecklich.«

Der Hauptmann wagte zu wiederholen:

»Es ist schrecklich ... Das ist das Ende von allem.«

Und Jean zog sich zurück, als er den Stabsarzt Bouroche, der auf der Schwelle der Herberge stand, dumpf murmeln hörte: keine Manneszucht mehr, keine Strafen mehr, das Heer zum Teufel! Acht Tage weiter, und die Führer würden einen Tritt vor den Hintern kriegen; hätte man dagegen einigen dieser Halunken den Hals gebrochen, so würden die andern sich noch am Ende besonnen haben. Niemand wurde bestraft. Offiziere des Nachtrabs, die die Bedeckung des Trains fühlten, waren glücklicherweise so vorsichtig gewesen, zu beiden Seiten des Weges die Tornister und Gewehre aufsammeln zu lassen. Es fehlten schließlich nur wenige; die Leute wurden bei Tagesanbruch ganz verstohlen wieder bewaffnet und die ganze Geschichte vertuscht. Es kam Befehl, um fünf zu wecken; man weckte die Leute jedoch schon um vier und beschleunigte den Rückmarsch, als ob es sicher wäre, daß die Preußen nur noch zwei oder drei Meilen weit entfernt ständen. Wieder hatten sie mit Zwieback zufrieden sein müssen; die Truppen waren nach dieser zu kurzen und fieberhaften Nacht ganz steif und hatten nichts Warmes in den Magen gekriegt. Und an diesem Morgen wurde durch den überstürzten Aufbruch ihre Haltung auf dem Marsche abermals in Frage gestellt.

Dieser Tag wurde noch schlimmer, unendlich traurig. Das Aussehen der Landschaft hatte sich geändert; sie kamen in eine bergige Gegend; auf tannenbewachsenen Abhängen stiegen die Straßen an und fielen wieder ab; und die engen Täler mit ihrem Dickicht von Ginster waren ganz von goldenen Blüten übersät. Aber über diese in der heißen Augustsonne strahlende Landschaft wehte seit gestern panische Furcht von Stunde zu Stunde immer närrischer daher. Eine Depesche, die den Ortsvorstehern anempfahl, die Einwohner zu benachrichtigen, sie täten gut, ihre Habe in Sicherheit zu bringen, brachte die Angst auf den Höhepunkt. So war der Feind da? Hätten sie wenigstens noch Zeit, sich zu retten? Alle glaubten, das Grollen des Einbruchs wachsen zu hören, das dumpfe Brausen eines über seine Ufer getretenen Flusses das sich jetzt in jedem weiteren Dorf unter Jammer und Klagen durch neue Schrecknisse steigerte.

Maurice ging wie ein Schlaftrunkener, mit blutenden Füßen und vom Tornister und dem Gewehr zermalmten Schultern. Er dachte nicht mehr, er schob sich in dem Alpdruck der ihn umgebenden Eindrücke vorwärts; er hatte das Bewußtsein für die Tritte seiner Kameraden um ihn herum verloren und empfand nur noch Jean zu seiner Rechten, der von derselben Müdigkeit und denselben Schmerzen ermattet schien. Es war jammervoll, diese Dörfer, durch die sie kamen, ein Jammer, der einem das Herz vor Angst zusammenschnürt. Wo die zurückgehenden Truppen erschienen, dieser Wirrwarr von entkräfteten, die Füße nachschleppenden Leuten, da kamen die Einwohner in Bewegung und flohen schleunigst. Vor vierzehn Tagen war das ganze Elsaß noch so ruhig gewesen und hatte den Krieg lächelnd erwartet; denn es war überzeugt, er würde in Deutschland ausgefochten werden! Nun aber wurde Frankreich überschwemmt, und bei ihnen, über ihren Häusern, auf ihren Feldern ging der Sturm nieder wie ein schrecklicher Orkan, der mit Hagel und Blitzschlag in zwei Stunden einen ganzen Landstrich vernichtet! Männer beluden vor den Türen in heftigster Verwirrung ihre Fuhrwerke mit Haufen von Einrichtungsgegenständen auf die Gefahr hin, alles zu zerbrechen. Von oben aus den Fenstern warfen Frauen noch eine letzte Matratze herunter oder reichten die Wiege heraus, die sie vergessen hatten. Das Kind banden sie darin an und befestigten sie dann oben auf dem Haufen zwischen den Beinen umgekehrter Stühle und Tische. Auf einem andern Karren wurde der alte, kranke Großvater hinten an einem Schrank festgebunden und so wie ein lebloser Gegenstand mitgenommen. Wer kein Fuhrwerk hatte, packte seinen Hausrat auf Schiebkarren; manche liefen mit einem Haufen Lumpen unter dem Arm davon, wieder andere dachten nur an ihre Uhr und drückten sie wie ein Kind ans Herz. Alles konnte man nicht mitnehmen; im Stich gelassene Sachen, zu schwere Wäscheballen blieben im Straßengraben, liegen. Einzelne schlossen vor ihrem Weggange alles ab, die Häuser mit ihren verschlossenen Türen und Fenstern schienen wie tot; die Mehrzahl aber ließ in der Eile, in der verzweiflungsvollen Gewißheit, alles würde zerstört werden, die alten Wohnungen offen, so daß die Leere der ausgeräumten Zimmer durch die Türen und Fenster gähnte; das bot einen höchst traurigen Anblick, den der häßlichen Traurigkeit einer eroberten, von der Furcht entvölkerten Stadt, diese armen, jedem Windstoß offen stehenden Häuser, aus denen selbst die Katzen im Schauder vor dem, was nun kommen würde, entflohen waren. Dies erbarmungswürdige Schauspiel nahm bei jedem neuen Dorf an Düsterkeit zu, die Zahl der wohnungslosen Flüchtenden wurde immer größer, das Getümmel wuchs unter geballten Fäusten, Flüchen, Tränen.

Aber vor allem auf offener Landstraße, auf freiem Felde fühlte Maurice eine erstickende Angst. Je näher sie an Belfort herankamen, desto mehr glich der zusammengedrängte Zug der Flüchtlinge einem großen, ununterbrochenen Leichengefolge. Ach, die armen Menschen, die innerhalb der Mauern dieses Platzes Zuflucht zu finden hofften! Der Mann hieb auf das Pferd, die Frau lief hinterher und schleppte die Kinder. Von großen Bündeln zu Boden gedrückt, auseinander gerissen, da die Kleinen nicht folgen konnten, zogen manche Familien in Eile dahin auf dem blendend weißen, von der bleiernen Sonne durchglühten Wege. Viele hatten ihre Pantinen ausgezogen und zogen in bloßen Füßen weiter, um schneller laufen zu können; Mütter, halb angezogen, gaben, ohne den Schritt zu verlangsamen, ihren schreienden Knirpsen die Brust. Verstörte Gesichter wandten sich rückwärts, magere Hände fuhren mit Riesenbewegungen gegen den Horizont, als ob sie ihn vor dem Sturm der Panik verschließen wollten, der ihnen die Köpfe zerzauste und ihre hastig übergeworfenen Kleider peitschte. Andere, Pächter mit ihren Dienstleuten, warfen sich querfeldein und trieben ihre losgelassenen Herden, Hammel, Kühe, Ochsen, Pferde vor sich her, die sie mit Stockschlägen aus den Ställen und Hürden hatten herausjagen müssen. Sie strebten den Schluchten und Hochebenen und einsamen Wäldern zu, wobei ein Staub entstand wie ehemals bei den großen Wanderungen überfallener Völker, die erobernden Barbaren den Platz räumten. Sie mußten nun irgendwo, von einsamen Felsblöcken umhegt, in Zelten leben, so weit von jeder Straße ab, daß kein feindlicher Soldat sich dorthin wagen durfte. Flatternder Staub hüllte sie ein und verlor sich in den Tannengruppen mit dem Brüllen der Rinder und dem Klappern der Hufe, während auf der Straße der Strom der Fuhrwerke und Fußgänger immer weiter rann und die Truppen am Vorwärtskommen hinderte, ja, bei der Annäherung an Belfort so anschwoll, so sehr zu einem ausgetretenen, unwiderstehlich dahinströmenden Wildbach wurde, daß mehrfach wiederholte Haltepausen notwendig wurden.

Bei einer dieser kurzen Pausen wohnte Maurice einem Vorkommnis bei, das ihm dauernd wie ein Peitschenhieb mitten durchs Gesicht in der Erinnerung haften blieb.

Am Wegrand lag ein einzelnes Haus, die Wohnung eines armen Bauern, und das magere Anwesen dehnte sich dahinter aus. Der Mann hatte sein Feld nicht im Stiche lassen wollen, da er durch zu tiefe Wurzeln mit dem Boden verwachsen war; und so blieb er; er konnte nicht fortziehen, ohne Fetzen seines eigenen Fleisches dazulassen. Man sah ihn auf einer Bank der niedrigen Stube hingesunken, wie er den leeren Blick auf die vorbeiziehenden Soldaten richtete, deren Rückzug sein reifes Getreide dem Feinde auslieferte. Seine noch junge Frau stand neben ihm und hielt ein Kind auf dem Arm, während ein anderes sich an ihre Röcke hängte; alle drei jammerten. Plötzlich aber erschien im Rahmen der heftig aufgestoßenen Tür die Großmutter, eine sehr alte Frau, lang, mager, mit nackten Armen wie knotige Stricke, die sie wütend schwenkte. Ihr unter der Haube hervorgequollenes graues Haar flog ihr um den hagern Kopf, und ihre Wut war so groß, daß die Worte, die sie schrie, ihr in der Kehle zu unbestimmten Lauten erstickten.

Zuerst fingen die Soldaten an zu lachen. Die sah gut aus, die alte Närrin! Dann verstanden sie einzelne Worte; die Alte schrie:

»Schufte! Räuber! Feiglinge! Feiglinge!«

Ihre immer durchdringendere Stimme spie ihnen den Vorwurf der Feigheit mit aller Kraft entgegen. Sie hörten auf zu lachen; eine eisige Kälte schien durch die Reihen zu ziehen. Die Leute ließen den Kopf hängen und sahen wo anders hin.

»Feiglinge! Feiglinge! Feiglinge!«

Auf einmal schien sie noch zu wachsen. Traurig, mager, richtete sie sich in ihren lumpigen Kleidern hoch auf und schwenkte ihren langen Arm mit einer solchen Riesengebärde von West nach Ost, daß er den ganzen Himmel zu umfassen schien.

»Feiglinge! Da ist der Rhein nicht!... Da hinten ist er, ihr Feiglinge!«

Endlich ging's weiter, und Maurice, der in diesem Augenblick gerade auf Jeans Gesicht blickte, sah, daß dem die Augen voll großer Tränen standen. Er fühlte sich heftig bewegt; sein eigenes Unglück wuchs bei dem Gedanken, daß selbst so ein Vieh diese Kränkung fühlte, die sie hinnehmen mußten, wenn sie sie auch nicht verdient hatten. In seinem armen schmerzenden Kopf ging alles durcheinander; er konnte sich später nicht mehr darauf besinnen, wie er den Marsch beendigt hatte. Das siebente Korps hatte den ganzen Tag gebraucht, um die dreiundzwanzig Kilometer zurückzulegen, die Dannemarie von Belfort trennen; von neuem sank die Nacht hernieder, und es wurde spät, ehe man die Truppen unter den Mauern des Platzes ins Biwak bringen konnte, an demselben Ort, von dem sie vor vier Tagen aufgebrochen waren, um gegen den Feind zu marschieren. Trotz der vorgerückten Stunde und der äußersten Ermüdung wollten die Soldaten unbedingt ihre Kochfeuer anzünden und Suppe kochen. Seit dem Aufbruch war es das erstemal, daß sie etwas Warmes bekamen. Und um die Feuer herum in der Frische der Nacht senkten sich die Nasen in die Schüsseln, Seufzer des Wohlbehagens wurden laut, als ein Gerücht entstand, das das Lager in Erstaunen versetzte. Unmittelbar nacheinander waren zwei Depeschen gekommen: die Preußen hatten den Rhein bei Markolsheim gar nicht überschritten, und in Hüningen stand kein einziger von ihnen. Der Rheinübergang bei Markolsheim, die beim Scheine mächtiger elektrischer Lampen gebaute Pontonbrücke, all diese beunruhigenden Erzählungen waren einfach nichts weiter als ein Alpdruck, eine unerklärliche Sinnestäuschung des Unterpräfekten von Schlettstadt. Und nun gar das Armeekorps, das Hüningen bedrohte, das berüchtigte Armeekorps des Schwarzwaldes, vor dem das Elsaß zitterte, das bestand nur aus einer winzigen württembergischen Abteilung von zwei Bataillonen und einer Schwadron, deren geschicktes Verfahren, wiederholtes Hin- und Hermarschieren und unvorgesehenes, plötzliches Auftauchen den Glauben an das Vorhandensein von dreißig- bis vierzigtausend Mann erweckt hatte. Und dann sich sagen zu müssen, daß sie noch fast am selben Morgen den Viadukt von Dannemarie gesprengt hatten! Zwanzig Meilen einer reichen Gegend waren ohne jeden Grund in törichter Angst verwüstet; und wenn sie daran dachten, was sie an diesem jammervollen Tage gesehen hatten, wie die Einwohner wie Verrückte flohen, ihr Vieh in die Berge trieben, wie der Strom der mit Hausrat beladenen Fahrzeuge sich inmitten der Herde der Weiber und Kinder gegen die Stadt hinzog, dann machten die Soldaten ihrem Arger durch verzweifelte Spottreden Luft.

»Ach nein, das ist wirklich zu ulkig!« brachte Loubet undeutlich heraus, indem er mit vollem Munde seinen Löffel schwang. »Was? da steht der Feind, gegen den wir kämpfen sollten? Kein Mensch war da! ... Zwölf Meilen vorwärts, zwölf Meilen zurück und keine Katze vor uns! Alles das für gar nichts, rein, um mal aus Spaß bange zu sein!«

Chouteau, der heftig seine Schüssel ausleckte, blökte dann gegen die Generäle los, ohne sie bei Namen zu nennen.

»Nicht wahr? solche Schweinehunde! das sind schöne Schafsköpfe! Da hat man uns feine Hasen gegeben! Wenn sie schon so ausrücken, wo doch niemand da war, nicht wahr? Hätten die erst ihre Beine unter den Arm genommen, wenn sie einer richtigen Armee gegenübergestanden hätten!«

Sie hatten wieder einen Arm voll Holz aufs Feuer geworfen, rein aus Freude, daß die Flamme so hoch emporstieg, als Lapoulle, der sich behaglich die Beine wärmen wollte, in ein wahnsinniges Gelächter ohne Sinn und Verstand ausbrach; und nun wagte Jean, der erst den Tauben gespielt hatte, in seiner väterlichen Art einzuwerfen: »Seid doch still! ... Wenn euch jemand hört, kann's schief gehen!«

Maurice saß still für sich und ließ den Kopf hängen. Ach, das war wohl das Ende! Kaum angefangen, und alles war vorbei! Diese Zuchtlosigkeit, diese Widersetzlichkeit der Leute beim ersten Rückschlag hatten das Heer bereits zu einer zusammenhanglosen Bande ohne jeden sittlichen Halt gemacht, die für jeden Zusammenbruch reif war. Hier vor Belfort hatten sie noch keinen Preußen gesehen und waren schon geschlagen.

Die folgenden Tage waren bei ihrer Einförmigkeit voller Schauer der Erwartung und des Unbehagens. Um die Truppen zu beschäftigen, ließ General Douay sie an den noch sehr unvollständigen Verteidigungswerken der Festung arbeiten. Voller Wut karrten sie Erde und sprengten Felsen. Und nicht eine einzige Nachricht! Wo war die Armee Mac Mahons? und was geschah bei Metz? Die ausschweifendsten Gerüchte liefen um, und ein paar Pariser Zeitungen vermehrten durch ihre Widersprüche fast noch das dunkle Angstgefühl, mit dem man sich stritt. Zweimal hatte der General geschrieben und um Befehle gebeten, ohne auch nur eine Antwort zu erhalten. Indessen am 12. August endlich vervollständigte sich das siebente Korps durch die Ankunft der dritten Division, die aus Italien zurückkam; aber es war immer erst zwei Divisionen stark, denn die erste bei Fröschweiler geschlagene war mit in die Auflösung hineingerissen worden, ohne daß man selbst jetzt noch hätte sagen können, wo sie sich befände. Dann, nach einer Woche völliger Losgelöstheit, in der er gänzlich vom übrigen Frankreich getrennt war, kam ein Telegramm mit dem Aufbruchsbefehl. Große Freude herrschte; alles zogen die Leute diesem Eingemauertsein vor. Und während der Vorbereitungen begannen wieder die Mutmaßungen; kein Mensch wußte wohin es ging; einzelne meinten, sie sollten Straßburg verteidigen, während andere selbst von einem kühnen Streich gegen den Schwarzwald redeten, um die Rückzugslinie der Preußen abzuschneiden.

Am nächsten Morgen ging das 106. Regiment als eins der ersten ab, in Viehwagen zusammengepreßt. Der Wagen, in dem sich Jeans Korporalschaft befand, war besonders voll, so voll, daß Loubet behauptete, er hätte keinen Platz zum Niesen. Da die Verteilung wieder einmal in der größten Unordnung stattgefunden hatte, hatten die Leute das, was ihnen an Essen zustand, in Branntwein erhalten und waren fast alle betrunken, von einer wütenden und lauten Betrunkenheit, die sich in unanständigen Liedern Luft machte. Der Zug rollte dahin; im Wagen konnte man nichts mehr sehen vor Pfeifenrauch, der alles in Nebel hüllte; infolge der Ausdünstung all dieser zusammengepferchten Körper herrschte eine unerträgliche Hitze; aus dem schwarzen, dahinfliegenden Wagen aber tönten Flüche über das Rollen der Räder hinaus und erstarben in der traurigen Landschaft. Erst in Langres begriffen die Mannschaften, daß sie nach Paris zurückgebracht würden.

»Du lieber Gott!« wiederholte Chouteau, der durch seine Allmacht als gewandter Redner in einer Ecke schon als unbestrittener Meister herrschte, »wir werden sicher in der Charentonne untergebracht werden, damit Bismarck nicht in den Tuilerien schlafen kann.«

Die andern wandten sich und fanden das sehr witzig, ohne zu wissen, warum. Die geringfügigsten Zwischenfälle der Reise verursachten übrigens wüstes Gelächter, Schreie und betäubendes Gebrüll: am Wegrande stehende Bauern, Gruppen angsterfüllter Leute, die auf den kleinen Haltestellen die Durchfahrt der Züge abwarteten, das ganze verstörte, vor dem Einbruch schaudernde Frankreich. Und der zusammengelaufenen Bevölkerung flog so mit dem Luftzug der Lokomotive und dem raschen Eindruck des Zuges, erstickt in Rauch und Lärm, nur das Gebrüll dieses Kanonenfutters zu, das als Eilfracht weitergekarrt wurde. Als der Zug indessen auf einem Bahnhof hielt und drei gut angezogene Damen, reiche Bürgerinnen der Stadt, den Soldaten Tassen voll Fleischbrühe austeilten, da hatten sie einen wahrhaften Erfolg. Die Leute weinten, als sie ihnen dankten und ihnen die Hände küßten.

Weiterhin aber begannen die scheußlichen Lieder und wilden Schreiereien von neuem. In dieser Verfassung kreuzte dicht hinter Chaumont der Zug einen andern mit Artillerie besetzten, der nach Metz gehen sollte. Die Geschwindigkeit verringerte sich, und die Soldaten in den beiden Zügen verbrüderten sich unter schrecklichem Lärm. Übrigens behielten doch die Artilleristen, zweifellos die Betrunkeneren, die Oberhand, indem sie stehend die Fäuste aus dem Wagen herausstreckten und mit verzweifelter Heftigkeit fortwährend den alles übertönenden Schrei herausstießen: »Zur Schlachterei! zur Schlachterei! zur Schlachterei!«

Es schien, als ob ein großer Schauder, der Eiswind eines Leichenhauses, vorüberwehte. Ein plötzliches Schweigen entstand, in dem Loubets Hohngelächter ertönte.

»Sind auch nicht gerade vergnügt, die Kameraden!«

»Aber sie haben recht!« fing Chouteau mit seiner Kneipenrednerstimme wieder an; »es ist ekelhaft, einen Haufen fixe Jungens loszuschicken, um sich den Schädel einschlagen zu lassen, für solche Dreckgeschichten, von denen sie auch nicht ein einziges Wort verstehen!«

Und so ging es weiter. Er war ein richtiger Wortverdreher, der schlechte Arbeiter von Montmartre, der herumstrolchende und saufende Anstreicher, der den Sinn der in Volksversammlungen gehörten Reden schlecht verdaut hatte und abstoßende Eseleien mit den großen Grundsätzen von Freiheit und Gleichheit vermengte. Er wußte alles und zwang seinen Kameraden, vor allen Lapoulle, aus dem er einen fixen Kerl zu machen versprochen hatte, seine Lehren auf.

»Nicht wahr, Alter? das ist doch ganz einfach!... Wenn Badinguet und Bismarck sich zanken, dann sollen sie es unter sich mit den Fäusten ausmachen ohne Hunderttausende von Leuten zu stören, die sich nicht einmal kennen und keine Lust haben, sich zu schlagen!«

Der ganze Wagen lachte vor Vergnügen und fühlte sich ganz überwältigt, und Lapoule, der keine Ahnung hatte, wer Badinguet wäre, ja sogar nicht imstande gewesen wäre, zu sagen, ob er sich für einen Kaiser oder einen König schlage, wiederholte in seiner Riesenkinderweise:

»Ganz gewiß, mit den Fäusten, und nachher stoßen sie wieder an!«

Aber Chouteau hatte sich zu Pache gewendet, den er jetzt vornehmen wollte.

»Du bist ja so einer, der an den lieben Gott glaubt... Der hat doch verboten, daß man sich schlägt, dein lieber Gott. Warum bist du denn hier, du Gimpel?«

»Ja!« versetzte Pache in Verwirrung, »ich bin doch natürlich nicht zu meinem Vergnügen hier... Aber die Gendarmen...«

»Ach was! Flausen! die Gendarmen! auf die pfeift man.. Wißt ihr wohl, was wir täten, wir alle, wenn wir ordentliche Kerls wären?... Sofort wenn wir ausgeladen werden, würden wir ausreißen, jawohl! ganz ruhig ausreißen, und würden dies dicke Schwein von Badinguet und seine Zwei-Groschen-Generäle sich aus der Klemme ziehen lassen, so gut sie's können, mit ihren Dreckpreußen!«

Bravos ertönten, die Verdrehung wirkte, und Chouteau setzte mit Siegermiene seine Lehren auseinander, in denen sich eine trübe Flut durcheinander wälzte von Republik, Menschenrechten, Fäulnis des Kaiserreiche, das man niederwerfen müßte, Verrat aller ihrer Befehlshaber, die jeder für eine Million gekauft wären, als ob das schon bewiesen wäre. Er selbst bekannte sich als Umsturzmann; die andern wußten jedoch weder, ob sie Republikaner wären, noch wie sie es werden könnten, mit Ausnahme von Loubet, dem Leckermaul, der auch wußte, was er wollte, und immer nur an seine Suppe dachte; nichtsdestoweniger ließen sich alle hinreißen und schrien gegen den Kaiser, die Offiziere, den ganzen verfluchten Laden, aus dem sie fix auskneifen würden, sowie es ihnen zu dumm würde. Und während Chouteau ihre wachsende Betrunkenheit anfachte, erspähte er mit einem Seitenblick Maurice, den »Herrn«, den er gern unterhielt, auf dessen Gegenwart er stolz war, und zwar so sehr, daß er, um ihn in Leidenschaft zu bringen, auf den Gedanken verfiel, sich auf Jean zu werfen, der bis dahin mitten in diesem Heidenlärm unbeweglich und wie schlafend mit halb geschlossenen Augen dagesessen hatte. Wenn der Freiwillige von der harten Lehre her, die er von dem Korporal durch den Zwang, sein Gewehr wieder aufzunehmen, empfangen hatte, noch Groll gegen seinen Vorgesetzten empfand, so war dies eine gute Gelegenheit, die beiden Männer aufeinander zu hetzen.

»Ich weiß schon jemand, der davon redete, uns erschießen zu lassen,« fing Chouteau drohend wieder an. »Drecklümmel, die uns schlechter behandeln als das Vieh, die nicht mal begreifen, daß, wenn man von dem Affen und der Flinte genug hat, weg damit! schmeißt man das Zeug ins Feld und sieht, ob da nicht mehr danach wachsen! ... Nicht wahr, Kameraden, was würden die wohl sagen, wenn wir sie jetzt, wo wir sie in so 'ner netten Ecke haben, nun mal auf die Schienen schmissen?... So ist's doch, nicht wahr? Denen müssen wir es mal zeigen, damit sie uns nicht länger mit ihrem dreckigen Krieg elenden! Tod den Wanzen Badinguets! Schlagt sie tot, die Dreckspatzen, die verlangen, daß wir uns schlagen!«

Jean war infolge des zornigen Blutstroms, der ihm zuweilen bei seinen seltenen Leidenschaftsausbrüchen ins Gesicht stieg, dunkelrot geworden. Obwohl er durch seine Nachbarn wie in einen lebenden Schraubstock eingeklemmt war, stand er doch auf und drängte dem andern seine geballten Fäuste und sein glühendes Gesicht mit so schrecklicher Miene entgegen, daß der erbleichte.

»Gottes Donnerwetter! willst du Schweinehund endlich schweigen?... Stundenlang schon sage ich nichts, weil es ja doch keine Führer mehr gibt und ich euch nicht allein in den Block bringen kann. Ja, sicher! ich hätte dem Regiment einen großen Dienst erwiesen, wenn ich ihm so'n paar erbärmliche Lumpen von deiner Art vom Halse geschafft hätte. ... Hör' aber! von dem Augenblick an, wo alle Strafen nur noch Luft sind, hast du es mit mir zu tun! Da gibt's keinen Korporal mehr, aber einen strammen Kerl, den du anödest und der dir dafür das Maul stopfen will. Ach, du verdammter Feigling! Du willst dich nicht schlagen und willst die andern dazu aufhetzen, daß sie sich auch nicht schlagen! Sag' das noch mal, wenn du Hiebe haben willst!«

Schon ließ der ganze Wagen, durch Jeans schönes Draufgehen bekehrt und wiederaufgerichtet, Chouteau im Stich, der sich stotternd vor den dicken Fäusten seines Gegners zurückzog.

»Ich kehre mich ebensowenig wie du an Badinguet, verstehst du?... Ich habe mich nie um Politik gekümmert, ob Republik oder Kaiserreich; und heute wie damals, als ich noch meinen Acker bebaute, habe ich mir immer nur eins gewünscht: Glück für alle, Ordnung, gute Geschäfte ... Natürlich ärgert sich jeder, wenn er sich schlagen soll. Deshalb muß man sie aber doch an die Mauer stellen, die Lumpen, die einem auch noch den Mut nehmen wollen, wenn es einem so schon so schwer wird, sich ordentlich zu halten. Herrgott! schlägt euch das Herz nicht rascher, Freunde, wenn ihr hört, daß die Preußen bei euch sind und daß ihr sie wieder rausschmeißen müßt?«

Nun stimmten die Leute mit der Leichtigkeit, mit der die Menge ihre Leidenschaften wechselt, laut dem Korporal zu, der nochmals schwur, er werde dem ersten von seiner Korporalschaft, der sich weigerte zu fechten, den Hals brechen. Bravo, Herr Korporal! Sie wollten schon mit Bismarck abrechnen!

Inmitten dieser wilden Ehrenbezeigung wandte sich Jean, wieder ruhig geworden, höflich zu Maurice, als spräche er gar nicht zu einem seiner Leute:

»Herr, Sie können doch nicht zu diesen Feiglingen gehören ... Sehen Sie, noch sind wir ja gar nicht geschlagen; schließlich werden wir sie schon eines Tages verhauen, die Preußen!«

In dem Augenblick war es Maurice, als ob ihm ein warmer Sonnenstrahl ins Herz fiele. Zwar blieb er düster im Gefühl seiner Erniedrigung. Ja, war denn dieser Mensch nicht ein bloßer Flegel? Und er rief sich den schrecklichen Haß ins Gedächtnis zurück, der ihn entflammte, als er sein Gewehr wieder aufnehmen mußte, das er in augenblicklicher Gedankenlosigkeit weggeworfen hatte. Er erinnerte sich auch seiner Rührung beim Anblick der zwei großen Tränen des Korporals, als die alte Großmutter, die Haare im Winde, sie beschimpfte, indem sie ihnen den Rhein da hinten hinter dem Horizont zeigte. War es das verbrüdernde Gefühl der gleichen Müdigkeit, der gleichen zusammen erlittenen Schmerzen, das seinen Groll so schwinden ließ? Er stammte aus bonapartistischer Familie und hatte von der Republik nie anders als einem wissenschaftlichen Gebilde geträumt; er empfand sogar eine gewisse Zärtlichkeit für den Kaiser und war für den Krieg als das Leben der Völker. Ganz plötzlich kam ihm in einem der ihm so vertrauten Gedankensprünge die Hoffnung wieder; und die Begeisterung, die ihn eines Abends dazu gebracht hatte, sich zu stellen, durchströmte ihn wieder aufs neue und schwellte sein Herz mit Siegeszuversicht.

»Selbstverständlich, Herr Korporal!« sagte er fröhlich, »wir wollen sie schon verhauen!«

Der Wagen rollte und rollte immerfort; er schleppte seine menschliche Ladung in dickem Pfeifenqualm und der erstickenden Hitze der eingepferchten Leiber weiter und schleuderte den angsterfüllten Orten, durch die er kam, den mageren Bauern, die an den Hecken entlang standen, unanständige Lieder und trunkenen Lärm zu. Am 20. August waren sie in Paris auf dem Bahnhof von Pantin und fuhren am selben Abend weiter, um am nächsten Tage in Reims, mit der Bestimmung nach dem Lager von Châlons, ausgeladen zu werden.


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